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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Das Alte Testament und der Dichter des Heiland

pleonastisch wiederholte Bemerkung: g.mbv.1g.vit. pun veo (er wandelte mit
Gott). Wieder vervollständigt der nltsächsische Dichter diesen einen Zug zu
einem satten Gemälde, das völlig germanische Farbentöne zeigt. Enoch wird
geradezu als germanischer sri (Ebeling) geschildert, gleich groß im Kampf wie
im Rat: tapfer und tüchtig, weise und wortklug, wobei freilich der "gott¬
gefällige Wandel" aus der Bibel einigermaßen zu kurz kommt:

"Und Enoch entschwand, denn Gott entführte ihn mit sich," berichtet die Bibel.
Diese kurze Bemerkung greift der sächsische hoc-x begierig auf und dehnt ihren
Inhalt zu breitem Redestrome aus; mußte er doch Rücksicht nehmen aus die
wunderfreudigeu, naiven Gemüter seiner Sachsen, die solcher handfesten Mittel
zur Anregung ihrer Aufmerksamkeit und Vorstellungskraft wohl bedurften.
Unabhängig von der alttestamentlichen Genesis hat dann der Dichter mit diesem
Wunder von der Entrückung Enochs ferner den in der christlichen Mythologie
des Mittelnlters so beliebten nud verbreitete" Mythus vom Antichrist einge¬
schaltet, der auch vor ihm schon von christlichen Dichtern mit dem Namen
Enoch verquickt worden war. Nach der Darstellung unsrer Genesisdichtung
behält Gott den Enoch so lange bei sich in seiner Herrlichkeit, bis die Zeit
kommt, wo er ihn den Menschen als Lehrer herab auf die Erde senden wird.
Dann aber naht der böse Feind, der Antichrist, und seinem scharfen Schwert
erliegt Enoch. Die Seele des um wirklich Gestorbnen wandelt dann wieder
den Weg zu Gott, und ihn zu räche", sendet der Herr seinen Engel (Michael);
der nimmt dem Antichrist das Leben und fällt deu Feind. Das Volk aber
wird wieder zu Gottes Reich zurückgeführt, und die Welt wird Frieden haben.
Man sieht, auch an dieser Stelle war es eine mannhafte Kampfschilderung,
die der germanische Dichter in die biblische Erzählung einschmuggelte. Da
konnte doch einmal wieder von Hieb und Schwertschlag die Rede sein, was,
wie der Sänger wohl wußte, seine Sachsen immer packte, und was auch seinen
eignen epischen Stil anzog, wie das Eisen den Mann.

Mit der Antichristepisode bricht das zweite Bruchstück ab. Es folgt um
sofort die Erzählung des Strafgerichts, das Gott über Sodom und Gomorrha
verhängt. Was der sächsische Dichter von den dazwischenliegenden biblischen
Geschichten etwa noch bearbeitet hat, sind uns die durch den verfügbaren Raum
sehr beschränkten Eintragungen des mönchischen Schreibers schuldig geblieben;
wir wissen also nicht, welche Kapitel unter den folgende" ihn angezogen haben,
welche er übergangen hat. Vermuten aber können wir wohl, daß der glück¬
liche Bearbeiter des Scesturms im Heliand sich die Schilderung der Sintflut
und ihrer großen dramatischen Wirkungen, sowie den frommen Noah nichl


Das Alte Testament und der Dichter des Heiland

pleonastisch wiederholte Bemerkung: g.mbv.1g.vit. pun veo (er wandelte mit
Gott). Wieder vervollständigt der nltsächsische Dichter diesen einen Zug zu
einem satten Gemälde, das völlig germanische Farbentöne zeigt. Enoch wird
geradezu als germanischer sri (Ebeling) geschildert, gleich groß im Kampf wie
im Rat: tapfer und tüchtig, weise und wortklug, wobei freilich der „gott¬
gefällige Wandel" aus der Bibel einigermaßen zu kurz kommt:

„Und Enoch entschwand, denn Gott entführte ihn mit sich," berichtet die Bibel.
Diese kurze Bemerkung greift der sächsische hoc-x begierig auf und dehnt ihren
Inhalt zu breitem Redestrome aus; mußte er doch Rücksicht nehmen aus die
wunderfreudigeu, naiven Gemüter seiner Sachsen, die solcher handfesten Mittel
zur Anregung ihrer Aufmerksamkeit und Vorstellungskraft wohl bedurften.
Unabhängig von der alttestamentlichen Genesis hat dann der Dichter mit diesem
Wunder von der Entrückung Enochs ferner den in der christlichen Mythologie
des Mittelnlters so beliebten nud verbreitete« Mythus vom Antichrist einge¬
schaltet, der auch vor ihm schon von christlichen Dichtern mit dem Namen
Enoch verquickt worden war. Nach der Darstellung unsrer Genesisdichtung
behält Gott den Enoch so lange bei sich in seiner Herrlichkeit, bis die Zeit
kommt, wo er ihn den Menschen als Lehrer herab auf die Erde senden wird.
Dann aber naht der böse Feind, der Antichrist, und seinem scharfen Schwert
erliegt Enoch. Die Seele des um wirklich Gestorbnen wandelt dann wieder
den Weg zu Gott, und ihn zu räche», sendet der Herr seinen Engel (Michael);
der nimmt dem Antichrist das Leben und fällt deu Feind. Das Volk aber
wird wieder zu Gottes Reich zurückgeführt, und die Welt wird Frieden haben.
Man sieht, auch an dieser Stelle war es eine mannhafte Kampfschilderung,
die der germanische Dichter in die biblische Erzählung einschmuggelte. Da
konnte doch einmal wieder von Hieb und Schwertschlag die Rede sein, was,
wie der Sänger wohl wußte, seine Sachsen immer packte, und was auch seinen
eignen epischen Stil anzog, wie das Eisen den Mann.

Mit der Antichristepisode bricht das zweite Bruchstück ab. Es folgt um
sofort die Erzählung des Strafgerichts, das Gott über Sodom und Gomorrha
verhängt. Was der sächsische Dichter von den dazwischenliegenden biblischen
Geschichten etwa noch bearbeitet hat, sind uns die durch den verfügbaren Raum
sehr beschränkten Eintragungen des mönchischen Schreibers schuldig geblieben;
wir wissen also nicht, welche Kapitel unter den folgende» ihn angezogen haben,
welche er übergangen hat. Vermuten aber können wir wohl, daß der glück¬
liche Bearbeiter des Scesturms im Heliand sich die Schilderung der Sintflut
und ihrer großen dramatischen Wirkungen, sowie den frommen Noah nichl


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[0195] Das Alte Testament und der Dichter des Heiland pleonastisch wiederholte Bemerkung: g.mbv.1g.vit. pun veo (er wandelte mit Gott). Wieder vervollständigt der nltsächsische Dichter diesen einen Zug zu einem satten Gemälde, das völlig germanische Farbentöne zeigt. Enoch wird geradezu als germanischer sri (Ebeling) geschildert, gleich groß im Kampf wie im Rat: tapfer und tüchtig, weise und wortklug, wobei freilich der „gott¬ gefällige Wandel" aus der Bibel einigermaßen zu kurz kommt: „Und Enoch entschwand, denn Gott entführte ihn mit sich," berichtet die Bibel. Diese kurze Bemerkung greift der sächsische hoc-x begierig auf und dehnt ihren Inhalt zu breitem Redestrome aus; mußte er doch Rücksicht nehmen aus die wunderfreudigeu, naiven Gemüter seiner Sachsen, die solcher handfesten Mittel zur Anregung ihrer Aufmerksamkeit und Vorstellungskraft wohl bedurften. Unabhängig von der alttestamentlichen Genesis hat dann der Dichter mit diesem Wunder von der Entrückung Enochs ferner den in der christlichen Mythologie des Mittelnlters so beliebten nud verbreitete« Mythus vom Antichrist einge¬ schaltet, der auch vor ihm schon von christlichen Dichtern mit dem Namen Enoch verquickt worden war. Nach der Darstellung unsrer Genesisdichtung behält Gott den Enoch so lange bei sich in seiner Herrlichkeit, bis die Zeit kommt, wo er ihn den Menschen als Lehrer herab auf die Erde senden wird. Dann aber naht der böse Feind, der Antichrist, und seinem scharfen Schwert erliegt Enoch. Die Seele des um wirklich Gestorbnen wandelt dann wieder den Weg zu Gott, und ihn zu räche», sendet der Herr seinen Engel (Michael); der nimmt dem Antichrist das Leben und fällt deu Feind. Das Volk aber wird wieder zu Gottes Reich zurückgeführt, und die Welt wird Frieden haben. Man sieht, auch an dieser Stelle war es eine mannhafte Kampfschilderung, die der germanische Dichter in die biblische Erzählung einschmuggelte. Da konnte doch einmal wieder von Hieb und Schwertschlag die Rede sein, was, wie der Sänger wohl wußte, seine Sachsen immer packte, und was auch seinen eignen epischen Stil anzog, wie das Eisen den Mann. Mit der Antichristepisode bricht das zweite Bruchstück ab. Es folgt um sofort die Erzählung des Strafgerichts, das Gott über Sodom und Gomorrha verhängt. Was der sächsische Dichter von den dazwischenliegenden biblischen Geschichten etwa noch bearbeitet hat, sind uns die durch den verfügbaren Raum sehr beschränkten Eintragungen des mönchischen Schreibers schuldig geblieben; wir wissen also nicht, welche Kapitel unter den folgende» ihn angezogen haben, welche er übergangen hat. Vermuten aber können wir wohl, daß der glück¬ liche Bearbeiter des Scesturms im Heliand sich die Schilderung der Sintflut und ihrer großen dramatischen Wirkungen, sowie den frommen Noah nichl

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/195>, abgerufen am 25.07.2024.