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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Las Alte Testament und der Lichter des Heliand

Stachel lecken mochten. Der Verfasser war kein ungelehrter Bauer, der hinter
dem Pfluge ging und allein ans der Kenntnis des Neuen Testaments und
altererbter Sangeskunst gedichtet hätte, wie man lauge Zeit geglaubt hat,
sondern saß in der bücherbekleideten Zelle eines Klosters und war ausgestattet
mit der gelehrten Bildung seiner Zeit, die ihre liebsten Quellen in den latei¬
nischen Kirchenvätern und Bibelauslegungen fand. Diese Buchgelehrsamkeit
verleugnet denn auch der Heliand in keinem Stück, und es erscheint heute
wunderbar, daß solche augenfällige Spuren lateinischer Exegese nicht schon
viel früher erkannt und auf geistlichen Ursprung der Dichtung gedeutet worden
sind; aber erst zu Ende der sechziger Jahre hat eine umfangreiche Qnellen-
untersuchnng, die alle im neunten Jahrhundert geläufigen Bibelkommentare
heranzog, allseitig überzeugend festgestellt, daß der Dichter des Heliand nur
ein gelehrter Geistlicher gewesen sein kann.

Doch Jngend und erste Entwicklung dieses Mannes können unmöglich in
den engen Klostermauern verblüht sein; die bestimmenden Eindrücke seines
äußern und innern Lebens muß ihm eine frische, fröhliche Gemeinschaft mit
den unverbildeten Lnienkreisen seines Volks vermittelt haben, die sich ihr
Sinnen und Denken einzig und allein aus dem klaren, unverfälschten Born
heimischer Sitte und Überlieferung speisen ließen. Denn Auffassung, Darstel¬
lung und Form seines Gedichts sind durch und durch volkstümlich geblieben:
der gelehrte Schreibsaft der Klosterzelle, den sich seine Eitelkeit nun einmal
nicht versagen mochte, hat den echtgermauischen Gehalt des Werkes wohl mit
einigen Flecken und Schnörkeln entstellt, in die Poren aber ist er ihm glück¬
licherweise nicht gedrungen. Auch in dem Fegefeuer so lateinseliger Schulung
hat sich die deutsche Volksseele, die in dem sächsischen Sänger webte und wirkte,
ans allen wesentlichen Punkten siegreich behauptet. Wahrscheinlich kam ihr
dabei die Macht der Gewohnheit und Übung zu Hilfe, die ihre Kräfte, ehe sie
dem Kreuze Christi dienstbar wurden, an den Stoffen deutscher Götter- und
Heldensage gestärkt hatte. Jedenfalls bewährte sich gleich in der Auffassung
des biblischen Stoffs der umbildende Geist des germanischen Heldeitideals.
Der Heiland, dessen Erdenwandel der tapfre Sachse sang, wurde zum Volks¬
könig, die Schar der Jünger zu seinen treuen Gefolgsleuten. Mut, Tapferkeit,
weiser Rat und milde Freigebigkeit sollten auch hier ihren alten Preis be¬
wahren, und was dem in den Evangelien widersprach, wurde weggelassen oder
mit kühnem Eigenwillen dem heimischen Empfinden gerecht gemacht. Dem
eben noch heidnischen Sachsen durfte man nicht zumuten, auch noch den linken
Backen darzubieten, wenn der rechte seinen Streich empfangen hatte, und als
Jesus nach Judäa gehen will, wo ihm die Steinigung droht, verlangte der
deutsche Hörer von den Jüngern, daß sie bei dieser Gelegenheit dem lieben
Herrn ihre unbedingte Treue schwuren und ihr Leben an das seinige knüpften,
lind so erklärt denn mich Thomas: "Das ist des Gefolgmannes Ruhm, daß


Las Alte Testament und der Lichter des Heliand

Stachel lecken mochten. Der Verfasser war kein ungelehrter Bauer, der hinter
dem Pfluge ging und allein ans der Kenntnis des Neuen Testaments und
altererbter Sangeskunst gedichtet hätte, wie man lauge Zeit geglaubt hat,
sondern saß in der bücherbekleideten Zelle eines Klosters und war ausgestattet
mit der gelehrten Bildung seiner Zeit, die ihre liebsten Quellen in den latei¬
nischen Kirchenvätern und Bibelauslegungen fand. Diese Buchgelehrsamkeit
verleugnet denn auch der Heliand in keinem Stück, und es erscheint heute
wunderbar, daß solche augenfällige Spuren lateinischer Exegese nicht schon
viel früher erkannt und auf geistlichen Ursprung der Dichtung gedeutet worden
sind; aber erst zu Ende der sechziger Jahre hat eine umfangreiche Qnellen-
untersuchnng, die alle im neunten Jahrhundert geläufigen Bibelkommentare
heranzog, allseitig überzeugend festgestellt, daß der Dichter des Heliand nur
ein gelehrter Geistlicher gewesen sein kann.

Doch Jngend und erste Entwicklung dieses Mannes können unmöglich in
den engen Klostermauern verblüht sein; die bestimmenden Eindrücke seines
äußern und innern Lebens muß ihm eine frische, fröhliche Gemeinschaft mit
den unverbildeten Lnienkreisen seines Volks vermittelt haben, die sich ihr
Sinnen und Denken einzig und allein aus dem klaren, unverfälschten Born
heimischer Sitte und Überlieferung speisen ließen. Denn Auffassung, Darstel¬
lung und Form seines Gedichts sind durch und durch volkstümlich geblieben:
der gelehrte Schreibsaft der Klosterzelle, den sich seine Eitelkeit nun einmal
nicht versagen mochte, hat den echtgermauischen Gehalt des Werkes wohl mit
einigen Flecken und Schnörkeln entstellt, in die Poren aber ist er ihm glück¬
licherweise nicht gedrungen. Auch in dem Fegefeuer so lateinseliger Schulung
hat sich die deutsche Volksseele, die in dem sächsischen Sänger webte und wirkte,
ans allen wesentlichen Punkten siegreich behauptet. Wahrscheinlich kam ihr
dabei die Macht der Gewohnheit und Übung zu Hilfe, die ihre Kräfte, ehe sie
dem Kreuze Christi dienstbar wurden, an den Stoffen deutscher Götter- und
Heldensage gestärkt hatte. Jedenfalls bewährte sich gleich in der Auffassung
des biblischen Stoffs der umbildende Geist des germanischen Heldeitideals.
Der Heiland, dessen Erdenwandel der tapfre Sachse sang, wurde zum Volks¬
könig, die Schar der Jünger zu seinen treuen Gefolgsleuten. Mut, Tapferkeit,
weiser Rat und milde Freigebigkeit sollten auch hier ihren alten Preis be¬
wahren, und was dem in den Evangelien widersprach, wurde weggelassen oder
mit kühnem Eigenwillen dem heimischen Empfinden gerecht gemacht. Dem
eben noch heidnischen Sachsen durfte man nicht zumuten, auch noch den linken
Backen darzubieten, wenn der rechte seinen Streich empfangen hatte, und als
Jesus nach Judäa gehen will, wo ihm die Steinigung droht, verlangte der
deutsche Hörer von den Jüngern, daß sie bei dieser Gelegenheit dem lieben
Herrn ihre unbedingte Treue schwuren und ihr Leben an das seinige knüpften,
lind so erklärt denn mich Thomas: „Das ist des Gefolgmannes Ruhm, daß


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[0188] Las Alte Testament und der Lichter des Heliand Stachel lecken mochten. Der Verfasser war kein ungelehrter Bauer, der hinter dem Pfluge ging und allein ans der Kenntnis des Neuen Testaments und altererbter Sangeskunst gedichtet hätte, wie man lauge Zeit geglaubt hat, sondern saß in der bücherbekleideten Zelle eines Klosters und war ausgestattet mit der gelehrten Bildung seiner Zeit, die ihre liebsten Quellen in den latei¬ nischen Kirchenvätern und Bibelauslegungen fand. Diese Buchgelehrsamkeit verleugnet denn auch der Heliand in keinem Stück, und es erscheint heute wunderbar, daß solche augenfällige Spuren lateinischer Exegese nicht schon viel früher erkannt und auf geistlichen Ursprung der Dichtung gedeutet worden sind; aber erst zu Ende der sechziger Jahre hat eine umfangreiche Qnellen- untersuchnng, die alle im neunten Jahrhundert geläufigen Bibelkommentare heranzog, allseitig überzeugend festgestellt, daß der Dichter des Heliand nur ein gelehrter Geistlicher gewesen sein kann. Doch Jngend und erste Entwicklung dieses Mannes können unmöglich in den engen Klostermauern verblüht sein; die bestimmenden Eindrücke seines äußern und innern Lebens muß ihm eine frische, fröhliche Gemeinschaft mit den unverbildeten Lnienkreisen seines Volks vermittelt haben, die sich ihr Sinnen und Denken einzig und allein aus dem klaren, unverfälschten Born heimischer Sitte und Überlieferung speisen ließen. Denn Auffassung, Darstel¬ lung und Form seines Gedichts sind durch und durch volkstümlich geblieben: der gelehrte Schreibsaft der Klosterzelle, den sich seine Eitelkeit nun einmal nicht versagen mochte, hat den echtgermauischen Gehalt des Werkes wohl mit einigen Flecken und Schnörkeln entstellt, in die Poren aber ist er ihm glück¬ licherweise nicht gedrungen. Auch in dem Fegefeuer so lateinseliger Schulung hat sich die deutsche Volksseele, die in dem sächsischen Sänger webte und wirkte, ans allen wesentlichen Punkten siegreich behauptet. Wahrscheinlich kam ihr dabei die Macht der Gewohnheit und Übung zu Hilfe, die ihre Kräfte, ehe sie dem Kreuze Christi dienstbar wurden, an den Stoffen deutscher Götter- und Heldensage gestärkt hatte. Jedenfalls bewährte sich gleich in der Auffassung des biblischen Stoffs der umbildende Geist des germanischen Heldeitideals. Der Heiland, dessen Erdenwandel der tapfre Sachse sang, wurde zum Volks¬ könig, die Schar der Jünger zu seinen treuen Gefolgsleuten. Mut, Tapferkeit, weiser Rat und milde Freigebigkeit sollten auch hier ihren alten Preis be¬ wahren, und was dem in den Evangelien widersprach, wurde weggelassen oder mit kühnem Eigenwillen dem heimischen Empfinden gerecht gemacht. Dem eben noch heidnischen Sachsen durfte man nicht zumuten, auch noch den linken Backen darzubieten, wenn der rechte seinen Streich empfangen hatte, und als Jesus nach Judäa gehen will, wo ihm die Steinigung droht, verlangte der deutsche Hörer von den Jüngern, daß sie bei dieser Gelegenheit dem lieben Herrn ihre unbedingte Treue schwuren und ihr Leben an das seinige knüpften, lind so erklärt denn mich Thomas: „Das ist des Gefolgmannes Ruhm, daß

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/188>, abgerufen am 24.07.2024.