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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Da>s Alte Testament und der Lichter des Heliand

auf politischem und wissenschaftlichem Gebiete mehr und mehr entwickelt wird.
Neuerdings reden wir viel von unserm Deutschtum, und es ist gewiß kein
bloßer Begriff, aber es steckt in jedem einzelnen Volkstum, wie nach Dürer
die Kunst in der Natur.

(Fortsetzung folgt)




Das Alte Testament
und der Dichter des heliand
Friedrich Dllsel von

ZfWAs
MlZin Frühjahr vorigen Jahres kam der germanistischen Wissenschaft
die Nachricht von einem Funde, die in allen Kreisen lebhafte
Teilnahme und freudige Hoffnungen erweckte. Denn diesmal
handelte es sich nicht bloß um eine Vermehrung des altdeutschen
Sprachstoffs, die allein der Statistik unsrer germanischen Gram¬
matik zu gute käme, sondern um die Vermehrung unsers dichterischen Nativnal-
schatzes, aus der das geschichtliche Bild unsers Volksgemüth und Volkscharakters,
unsrer Volksart und Volkskunst neue, wesentliche Züge gewinnen mußte. In
der Vatikanischen Bibliothek in Rom saß der .Heidelberger Oberbibliothekar
Professor or, Zangemeister und forschte im Auftrage der badischen Regierung
nach lateinischen Handschriften, die aus der ehemaligen LibliotdsvA I^I^tinÄ,
unter die päpstlichen Schatze der ewigen Stadt verschlagen worden waren. Aber
es ging ihm wie Saul, dem Sohne Kis, der auszog, seines Vaters Eselinnen
zu suchen, und ein Königreich fand. In einem lateinischen Sammelbandc,
mitten unter wertlosen astronomischen und nekrologischen Kaleuderaufzeichnungcn,
fand er unerwartet beträchtliche, bisher unbekannte Bruchstücke einer altsächsischen,
d. h. in altniederdeutscher Sprache abgefaßten Vibeldichtung, einen "Goldschatz
in steinigem Acker." Jeder, der mit den ältesten Schätzen unsrer deutschen
Nationallitteratur einigermaßen vertraut ist, wußte sofort, daß es sich da um
ein Gegenstück, wenn nicht um eine Geschwisterdichtung zu dem sogenannten
Heliand handeln mußte, des einzigen Gedichts, das in altsächsischer Sprache
auf uns gekommen ist. Der Heliand (Heiland) ist eine Evangelienharmonie
a"s den, neunten Jahrhundert, der Zeit der sächsischen Christenbekehrnng, zu¬
nächst ein Werk der Seelsorge und Glaubensstürkung zu Nutz und Frommen
der neubekehrten Gemüter, die, hartnäckig und treu am Alten hangend, wie
es Stnmmesart war, noch immer nur gar zu gern wider den christlichen


Da>s Alte Testament und der Lichter des Heliand

auf politischem und wissenschaftlichem Gebiete mehr und mehr entwickelt wird.
Neuerdings reden wir viel von unserm Deutschtum, und es ist gewiß kein
bloßer Begriff, aber es steckt in jedem einzelnen Volkstum, wie nach Dürer
die Kunst in der Natur.

(Fortsetzung folgt)




Das Alte Testament
und der Dichter des heliand
Friedrich Dllsel von

ZfWAs
MlZin Frühjahr vorigen Jahres kam der germanistischen Wissenschaft
die Nachricht von einem Funde, die in allen Kreisen lebhafte
Teilnahme und freudige Hoffnungen erweckte. Denn diesmal
handelte es sich nicht bloß um eine Vermehrung des altdeutschen
Sprachstoffs, die allein der Statistik unsrer germanischen Gram¬
matik zu gute käme, sondern um die Vermehrung unsers dichterischen Nativnal-
schatzes, aus der das geschichtliche Bild unsers Volksgemüth und Volkscharakters,
unsrer Volksart und Volkskunst neue, wesentliche Züge gewinnen mußte. In
der Vatikanischen Bibliothek in Rom saß der .Heidelberger Oberbibliothekar
Professor or, Zangemeister und forschte im Auftrage der badischen Regierung
nach lateinischen Handschriften, die aus der ehemaligen LibliotdsvA I^I^tinÄ,
unter die päpstlichen Schatze der ewigen Stadt verschlagen worden waren. Aber
es ging ihm wie Saul, dem Sohne Kis, der auszog, seines Vaters Eselinnen
zu suchen, und ein Königreich fand. In einem lateinischen Sammelbandc,
mitten unter wertlosen astronomischen und nekrologischen Kaleuderaufzeichnungcn,
fand er unerwartet beträchtliche, bisher unbekannte Bruchstücke einer altsächsischen,
d. h. in altniederdeutscher Sprache abgefaßten Vibeldichtung, einen „Goldschatz
in steinigem Acker." Jeder, der mit den ältesten Schätzen unsrer deutschen
Nationallitteratur einigermaßen vertraut ist, wußte sofort, daß es sich da um
ein Gegenstück, wenn nicht um eine Geschwisterdichtung zu dem sogenannten
Heliand handeln mußte, des einzigen Gedichts, das in altsächsischer Sprache
auf uns gekommen ist. Der Heliand (Heiland) ist eine Evangelienharmonie
a»s den, neunten Jahrhundert, der Zeit der sächsischen Christenbekehrnng, zu¬
nächst ein Werk der Seelsorge und Glaubensstürkung zu Nutz und Frommen
der neubekehrten Gemüter, die, hartnäckig und treu am Alten hangend, wie
es Stnmmesart war, noch immer nur gar zu gern wider den christlichen


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[0187] Da>s Alte Testament und der Lichter des Heliand auf politischem und wissenschaftlichem Gebiete mehr und mehr entwickelt wird. Neuerdings reden wir viel von unserm Deutschtum, und es ist gewiß kein bloßer Begriff, aber es steckt in jedem einzelnen Volkstum, wie nach Dürer die Kunst in der Natur. (Fortsetzung folgt) Das Alte Testament und der Dichter des heliand Friedrich Dllsel von ZfWAs MlZin Frühjahr vorigen Jahres kam der germanistischen Wissenschaft die Nachricht von einem Funde, die in allen Kreisen lebhafte Teilnahme und freudige Hoffnungen erweckte. Denn diesmal handelte es sich nicht bloß um eine Vermehrung des altdeutschen Sprachstoffs, die allein der Statistik unsrer germanischen Gram¬ matik zu gute käme, sondern um die Vermehrung unsers dichterischen Nativnal- schatzes, aus der das geschichtliche Bild unsers Volksgemüth und Volkscharakters, unsrer Volksart und Volkskunst neue, wesentliche Züge gewinnen mußte. In der Vatikanischen Bibliothek in Rom saß der .Heidelberger Oberbibliothekar Professor or, Zangemeister und forschte im Auftrage der badischen Regierung nach lateinischen Handschriften, die aus der ehemaligen LibliotdsvA I^I^tinÄ, unter die päpstlichen Schatze der ewigen Stadt verschlagen worden waren. Aber es ging ihm wie Saul, dem Sohne Kis, der auszog, seines Vaters Eselinnen zu suchen, und ein Königreich fand. In einem lateinischen Sammelbandc, mitten unter wertlosen astronomischen und nekrologischen Kaleuderaufzeichnungcn, fand er unerwartet beträchtliche, bisher unbekannte Bruchstücke einer altsächsischen, d. h. in altniederdeutscher Sprache abgefaßten Vibeldichtung, einen „Goldschatz in steinigem Acker." Jeder, der mit den ältesten Schätzen unsrer deutschen Nationallitteratur einigermaßen vertraut ist, wußte sofort, daß es sich da um ein Gegenstück, wenn nicht um eine Geschwisterdichtung zu dem sogenannten Heliand handeln mußte, des einzigen Gedichts, das in altsächsischer Sprache auf uns gekommen ist. Der Heliand (Heiland) ist eine Evangelienharmonie a»s den, neunten Jahrhundert, der Zeit der sächsischen Christenbekehrnng, zu¬ nächst ein Werk der Seelsorge und Glaubensstürkung zu Nutz und Frommen der neubekehrten Gemüter, die, hartnäckig und treu am Alten hangend, wie es Stnmmesart war, noch immer nur gar zu gern wider den christlichen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/187>, abgerufen am 24.07.2024.