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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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?le Lage des Handwerks

Sache meines Geschmcicks, die keinen andern etwas angeht, welche Form des
Elends ich vorziehen will.

Und damit berühren wir den Kern der Handwerkerfrcige. Er besteht
darin, daß die Arbeit durch Überangebot entwertet ist, und daß daher durch
seiner eignen Hände Arbeit, sofern sie nicht in ganz außerordentlichen Knnst-
leistnnge" besteht, niemand zu Wohlstand, niemand much nur zu einem gesicherte"
und anständigen Dasein gelangen kann. Zu Wohlstand gelangen kann heute
der Handwerker nur durch Handel und dnrch Ausnutzung der Arbeit andrer.
Reim DekvrativnSgeschäft wird ausdrücklich hervorgehoben, daß der Meister,
der die Stoffe im große" zu Fabrikpreisen einkaufen kann, daran, also als
Händler, mehr verdient als mit seiner Arbeit, und was jeder Schuhmacher-
gesell seinem Meister bringt, berechnet Geisscnberger für Leipziger Verhältnisse
auf fünf- bis sechshundert Mark. Ein Meister also, der zehn Gesellen be¬
schäftigt, kann feine eigne Thätigkeit auf Leituugsarbcit beschränken und steht sich
dennoch auf fünf- bis sechstausend Mark. Das Los des Handwerkers hängt
also in erster Linie davon ab, ob er Kapital hat und wie viel. Es ist wahr,
daß der wohlhabende Anfänger dnrch Dummheit, Faulheit, Ungeschick oder
Liederlichkeit sein Geld verlieren, der mittellose, aber tüchtige auch heute uoch,
wenn er in ganz außerordentlicher Weise vom Glück begünstigt wird, zu einigem
Geld gelangen und dieses dann zur Erweiterung seines Geschäfts benutzen
kann. Aber solche Ausnahmefälle ändern nichts an dem allgemeinen Gesetz,
nnter dem unser heutiges Wirtschaftsleben steht, daß man Geld haben muß,
um Geld verdienen zu können. Und so machen wir denn täglich bei einem
Blick auf unsre Umgebung die Erfahrung, daß tüchtige Handwerker, die über
einige Mittel verfügen, sich zu Wohlstand emporschwingen, während sich die
Masse in kümmerlichen Verhältnissen abquält oder geradezu im Elend ver¬
kommt. Hier ist es kein schlechter Scherz, sondern die lautere Wahrheit, daß
die Armut von der x-mvrvtv kommt, d. h. daß der Mittellose wenig Aussicht
hat, sich aus dem Elend herauszuarbeiten; unser gesellschaftlicher Zustand leiht
dem emporstrebenden Reichen Flügel, während er den Armen immer tiefer ins
Elend hineinstößt.°

Die beiden angeführten Lebensbedingungen des heutige" Handwerks nun
stehen i" schroffsten Widerspruch zu der Grundidee und dem Lebensgesetz des
mittelalterlichen Handwerks, von dem unsre Zünftler, zwei sehr verschiedne
Periode" mit einander vermengend, beständig träumen. Es war, wie Bücher
in seiner Abhandlung "Gewerbe" im Handwörterbuch der Staatswissenschaften
hervorhebt, und wie auch in einige" der vorliegenden Uutersuchunge" erwähut
wird, strenger Grundsatz im. Mittelalter,^ daß der Handwerker an den Ma¬
terialien nichts verdienen dürfe, daß sein Verdienst^reiner Arbeitslohn sein
müsse. Das Handwerk blieb daher ziemlich lange Lvhnwerk, d. h. der Hand¬
werker bekam das Material, das Tuch zum Rock, das Gold zu Ringen, Ketten


?le Lage des Handwerks

Sache meines Geschmcicks, die keinen andern etwas angeht, welche Form des
Elends ich vorziehen will.

Und damit berühren wir den Kern der Handwerkerfrcige. Er besteht
darin, daß die Arbeit durch Überangebot entwertet ist, und daß daher durch
seiner eignen Hände Arbeit, sofern sie nicht in ganz außerordentlichen Knnst-
leistnnge» besteht, niemand zu Wohlstand, niemand much nur zu einem gesicherte»
und anständigen Dasein gelangen kann. Zu Wohlstand gelangen kann heute
der Handwerker nur durch Handel und dnrch Ausnutzung der Arbeit andrer.
Reim DekvrativnSgeschäft wird ausdrücklich hervorgehoben, daß der Meister,
der die Stoffe im große» zu Fabrikpreisen einkaufen kann, daran, also als
Händler, mehr verdient als mit seiner Arbeit, und was jeder Schuhmacher-
gesell seinem Meister bringt, berechnet Geisscnberger für Leipziger Verhältnisse
auf fünf- bis sechshundert Mark. Ein Meister also, der zehn Gesellen be¬
schäftigt, kann feine eigne Thätigkeit auf Leituugsarbcit beschränken und steht sich
dennoch auf fünf- bis sechstausend Mark. Das Los des Handwerkers hängt
also in erster Linie davon ab, ob er Kapital hat und wie viel. Es ist wahr,
daß der wohlhabende Anfänger dnrch Dummheit, Faulheit, Ungeschick oder
Liederlichkeit sein Geld verlieren, der mittellose, aber tüchtige auch heute uoch,
wenn er in ganz außerordentlicher Weise vom Glück begünstigt wird, zu einigem
Geld gelangen und dieses dann zur Erweiterung seines Geschäfts benutzen
kann. Aber solche Ausnahmefälle ändern nichts an dem allgemeinen Gesetz,
nnter dem unser heutiges Wirtschaftsleben steht, daß man Geld haben muß,
um Geld verdienen zu können. Und so machen wir denn täglich bei einem
Blick auf unsre Umgebung die Erfahrung, daß tüchtige Handwerker, die über
einige Mittel verfügen, sich zu Wohlstand emporschwingen, während sich die
Masse in kümmerlichen Verhältnissen abquält oder geradezu im Elend ver¬
kommt. Hier ist es kein schlechter Scherz, sondern die lautere Wahrheit, daß
die Armut von der x-mvrvtv kommt, d. h. daß der Mittellose wenig Aussicht
hat, sich aus dem Elend herauszuarbeiten; unser gesellschaftlicher Zustand leiht
dem emporstrebenden Reichen Flügel, während er den Armen immer tiefer ins
Elend hineinstößt.°

Die beiden angeführten Lebensbedingungen des heutige» Handwerks nun
stehen i» schroffsten Widerspruch zu der Grundidee und dem Lebensgesetz des
mittelalterlichen Handwerks, von dem unsre Zünftler, zwei sehr verschiedne
Periode» mit einander vermengend, beständig träumen. Es war, wie Bücher
in seiner Abhandlung „Gewerbe" im Handwörterbuch der Staatswissenschaften
hervorhebt, und wie auch in einige» der vorliegenden Uutersuchunge» erwähut
wird, strenger Grundsatz im. Mittelalter,^ daß der Handwerker an den Ma¬
terialien nichts verdienen dürfe, daß sein Verdienst^reiner Arbeitslohn sein
müsse. Das Handwerk blieb daher ziemlich lange Lvhnwerk, d. h. der Hand¬
werker bekam das Material, das Tuch zum Rock, das Gold zu Ringen, Ketten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/174>, abgerufen am 04.07.2024.