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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Die Lage des Handwerks

stehen haben. Endlich ist zu erwägen, daß sich die Zahl derer mehrt, die an
Selbständigkeit nicht denken können, und für die also der Gesellenlvhn die end-
giltige "Versorgung" bildet.

Daß sich viele mittellose Gesellen in diese Lage nicht fügen wollen, sich
selbständig machen und so das Kleinmeisterelend vermehren, daß es viele noch
dazu in zu jungen Jahren thun, daß viele Gesellen trotz ihrer kümmerlichen
und unsichern Lage heiraten, ohne Meister zu werden, und daß unzählige
Fabrikarbeiter dasselbe thun, ist eine ständige Klage konservativer Kreise, die
anch in diesem Werke mehrfach wiederkehrt. Sollen aber diese Klagen nicht
müßiges Gerede bleiben, dann müssen sich die Maßgebenden schlüssig machen,
ob sie allen mittellosen Handwerksgesellen und Arbeitern den Cölibat mit oder
ohne Nervslichtung zur lebenslänglichen Keuschheit auflegen wollen. Die ganze
protestantische Welt hat viertehalbhundert Jahre lang und die liberalkatholische
seit anderthalbhundert Jahren die römische Kirche des Priestercölibats wegen
der Unsittlichkeit geziehen, was doch nnr unter der Voraussetzung einen Sinn
hat, daß dem Durchschnittsmenschen, namentlich dem Durchschnittsmanne, die
Enthaltsamkeit von Natur unmöglich, jene übernatürliche Gnade aber, ans die
sich die katholische Kirche bei ihren Priestern verläßt, nicht vorhanden sei.
Dabei ist zu beachten, daß die katholischen Priester akademisch gebildete Leute
in höherer und gesicherter Lebensstellung sind, denen eine reiche Gedankenwelt
ein Gegengewicht gegen die Sinnlichkeit darbietet, daß ihnen vor der Weihe
der Cölibat als ein schweres Opfer dargestellt worden ist, wozu sich zu ver¬
pflichten sie nicht wagen dürften, wenn sie sich ihm nicht gewachsen fühlten,
und vor allem, daß kaum ein Priester auf je tausend katholische Einwohner
des Reichs kommt, während die mittellosen Arbeiter und Handwerksgesellen
und die ihnen in ähnlicher Lage gegenüberstehenden Frauen und Mädchen zu¬
sammen vielleicht die Hälfte der Bevölkerung ausmachen. Wer sich bei der
Frage der Arbeiterehen so anstellt, als wüßte er von alledem nichts, was
gegen den Priestercölibat gesprochen, gepredigt und geschrieben worden ist, den
soll man gar nicht ernst nehmen; man soll ihm den Rücken kehren und ihn einfach
stehen lassen. Der Verständige faßt die Thatsachen ins Auge und denkt unter
anderm daran, daß im deutschen Reiche jährlich etwa 130000 uneheliche Kinder
geboren werden, und daß auf je eine uneheliche Geburt mehr als hundert Fälle
außerehelichem Umgangs zu rechnen sind. Um diesen Punkt kommen die Re¬
formatoren des Handwerks nicht herum. Selbstverständlich muß man dem
jungen mittellosen Handwerker sagen, was ihm bevorsteht, wenn er sich
selbständig macht. Das weiß er übrigens schon selbst, hat er doch oft schon
als Lehrling genug Gelegenheit gehabt, das eheliche und das sonstige Glück
der Meistersleute kennen zu lernen; sind doch gewöhnlich auf ihn die Prügel
abgeladen worden, die sie bei einander gegenseitig nicht anbringen konnten.
Aber er sagt sich: elend bin und bleibe ich auf alle Fälle, und es ist lediglich


Die Lage des Handwerks

stehen haben. Endlich ist zu erwägen, daß sich die Zahl derer mehrt, die an
Selbständigkeit nicht denken können, und für die also der Gesellenlvhn die end-
giltige „Versorgung" bildet.

Daß sich viele mittellose Gesellen in diese Lage nicht fügen wollen, sich
selbständig machen und so das Kleinmeisterelend vermehren, daß es viele noch
dazu in zu jungen Jahren thun, daß viele Gesellen trotz ihrer kümmerlichen
und unsichern Lage heiraten, ohne Meister zu werden, und daß unzählige
Fabrikarbeiter dasselbe thun, ist eine ständige Klage konservativer Kreise, die
anch in diesem Werke mehrfach wiederkehrt. Sollen aber diese Klagen nicht
müßiges Gerede bleiben, dann müssen sich die Maßgebenden schlüssig machen,
ob sie allen mittellosen Handwerksgesellen und Arbeitern den Cölibat mit oder
ohne Nervslichtung zur lebenslänglichen Keuschheit auflegen wollen. Die ganze
protestantische Welt hat viertehalbhundert Jahre lang und die liberalkatholische
seit anderthalbhundert Jahren die römische Kirche des Priestercölibats wegen
der Unsittlichkeit geziehen, was doch nnr unter der Voraussetzung einen Sinn
hat, daß dem Durchschnittsmenschen, namentlich dem Durchschnittsmanne, die
Enthaltsamkeit von Natur unmöglich, jene übernatürliche Gnade aber, ans die
sich die katholische Kirche bei ihren Priestern verläßt, nicht vorhanden sei.
Dabei ist zu beachten, daß die katholischen Priester akademisch gebildete Leute
in höherer und gesicherter Lebensstellung sind, denen eine reiche Gedankenwelt
ein Gegengewicht gegen die Sinnlichkeit darbietet, daß ihnen vor der Weihe
der Cölibat als ein schweres Opfer dargestellt worden ist, wozu sich zu ver¬
pflichten sie nicht wagen dürften, wenn sie sich ihm nicht gewachsen fühlten,
und vor allem, daß kaum ein Priester auf je tausend katholische Einwohner
des Reichs kommt, während die mittellosen Arbeiter und Handwerksgesellen
und die ihnen in ähnlicher Lage gegenüberstehenden Frauen und Mädchen zu¬
sammen vielleicht die Hälfte der Bevölkerung ausmachen. Wer sich bei der
Frage der Arbeiterehen so anstellt, als wüßte er von alledem nichts, was
gegen den Priestercölibat gesprochen, gepredigt und geschrieben worden ist, den
soll man gar nicht ernst nehmen; man soll ihm den Rücken kehren und ihn einfach
stehen lassen. Der Verständige faßt die Thatsachen ins Auge und denkt unter
anderm daran, daß im deutschen Reiche jährlich etwa 130000 uneheliche Kinder
geboren werden, und daß auf je eine uneheliche Geburt mehr als hundert Fälle
außerehelichem Umgangs zu rechnen sind. Um diesen Punkt kommen die Re¬
formatoren des Handwerks nicht herum. Selbstverständlich muß man dem
jungen mittellosen Handwerker sagen, was ihm bevorsteht, wenn er sich
selbständig macht. Das weiß er übrigens schon selbst, hat er doch oft schon
als Lehrling genug Gelegenheit gehabt, das eheliche und das sonstige Glück
der Meistersleute kennen zu lernen; sind doch gewöhnlich auf ihn die Prügel
abgeladen worden, die sie bei einander gegenseitig nicht anbringen konnten.
Aber er sagt sich: elend bin und bleibe ich auf alle Fälle, und es ist lediglich


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[0173] Die Lage des Handwerks stehen haben. Endlich ist zu erwägen, daß sich die Zahl derer mehrt, die an Selbständigkeit nicht denken können, und für die also der Gesellenlvhn die end- giltige „Versorgung" bildet. Daß sich viele mittellose Gesellen in diese Lage nicht fügen wollen, sich selbständig machen und so das Kleinmeisterelend vermehren, daß es viele noch dazu in zu jungen Jahren thun, daß viele Gesellen trotz ihrer kümmerlichen und unsichern Lage heiraten, ohne Meister zu werden, und daß unzählige Fabrikarbeiter dasselbe thun, ist eine ständige Klage konservativer Kreise, die anch in diesem Werke mehrfach wiederkehrt. Sollen aber diese Klagen nicht müßiges Gerede bleiben, dann müssen sich die Maßgebenden schlüssig machen, ob sie allen mittellosen Handwerksgesellen und Arbeitern den Cölibat mit oder ohne Nervslichtung zur lebenslänglichen Keuschheit auflegen wollen. Die ganze protestantische Welt hat viertehalbhundert Jahre lang und die liberalkatholische seit anderthalbhundert Jahren die römische Kirche des Priestercölibats wegen der Unsittlichkeit geziehen, was doch nnr unter der Voraussetzung einen Sinn hat, daß dem Durchschnittsmenschen, namentlich dem Durchschnittsmanne, die Enthaltsamkeit von Natur unmöglich, jene übernatürliche Gnade aber, ans die sich die katholische Kirche bei ihren Priestern verläßt, nicht vorhanden sei. Dabei ist zu beachten, daß die katholischen Priester akademisch gebildete Leute in höherer und gesicherter Lebensstellung sind, denen eine reiche Gedankenwelt ein Gegengewicht gegen die Sinnlichkeit darbietet, daß ihnen vor der Weihe der Cölibat als ein schweres Opfer dargestellt worden ist, wozu sich zu ver¬ pflichten sie nicht wagen dürften, wenn sie sich ihm nicht gewachsen fühlten, und vor allem, daß kaum ein Priester auf je tausend katholische Einwohner des Reichs kommt, während die mittellosen Arbeiter und Handwerksgesellen und die ihnen in ähnlicher Lage gegenüberstehenden Frauen und Mädchen zu¬ sammen vielleicht die Hälfte der Bevölkerung ausmachen. Wer sich bei der Frage der Arbeiterehen so anstellt, als wüßte er von alledem nichts, was gegen den Priestercölibat gesprochen, gepredigt und geschrieben worden ist, den soll man gar nicht ernst nehmen; man soll ihm den Rücken kehren und ihn einfach stehen lassen. Der Verständige faßt die Thatsachen ins Auge und denkt unter anderm daran, daß im deutschen Reiche jährlich etwa 130000 uneheliche Kinder geboren werden, und daß auf je eine uneheliche Geburt mehr als hundert Fälle außerehelichem Umgangs zu rechnen sind. Um diesen Punkt kommen die Re¬ formatoren des Handwerks nicht herum. Selbstverständlich muß man dem jungen mittellosen Handwerker sagen, was ihm bevorsteht, wenn er sich selbständig macht. Das weiß er übrigens schon selbst, hat er doch oft schon als Lehrling genug Gelegenheit gehabt, das eheliche und das sonstige Glück der Meistersleute kennen zu lernen; sind doch gewöhnlich auf ihn die Prügel abgeladen worden, die sie bei einander gegenseitig nicht anbringen konnten. Aber er sagt sich: elend bin und bleibe ich auf alle Fälle, und es ist lediglich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/173>, abgerufen am 24.07.2024.