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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Die Lage des Handwerks

recht unhaltbar. Ist die Lehrzeit eine wirkliche Schule, dann darf der Hand¬
werksmeister so wenig darauf Anspruch machen, vom Arbeitserträge seiner
Schiller zu leben, wie etwa der Lehrer des Deutschen am Gymnasium auf die
Honorare für Zeitungsartikel angewiesen werden darf, die seine Schüler unter
seiner Leitung anzufertigen hätten. Soll die Handwerkslehre dem Ideal derer
entsprechen, die so viel von der Reform des Lehrlingswesens reden, dann
bringt sie dem Meister nichts ein, sondern kostet ihm ebenso wie dein Schul¬
meister nnr Mühe und verursacht ihm außerdem noch Auslage", woraus folgt,
daß er Lehrgeld erhalten muß, daß also nur Leute, die nicht ganz mittellos
sind, ihre Söhne ein Handwerk lernen lassen können, wenn nicht der Staat
einen Schritt weiter in der Richtung nach dem Sozialismus thut, neben die
Volksschule die Lehrwerkstätte setzt und deren Kosten entweder selbst übernimmt
oder den Gemeinden auflegt. So lauge der Handwerksmeister Jungen um¬
sonst nimmt unter der Bedingung, daß sie vier Jahre bei ihm aushalten, die
Annahme aber, daß er lediglich ein Liebeswerk an ihnen üben wolle, sowohl
dnrch seinen Charakter wie durch seiue Vermögenslage ausgeschlossen ist, so
lange sind diese Jungen thatsächlich nicht Lehrlinge, sondern junge Arbeiter-
Was der Junge etwa im ersten Jahre den Meister kostet, wird dnrch die Ver-
lüngernng der hergebrachten dreijährigen Lehrzeit um ein Jahr reichlich ersetzt.
In vielen Füllen liegt dieses Verhältnis ganz klar zu Tage. Im Frühjahr
reisen auf den vberschlestschen Dörfern Agenten herum, die für die Berliner
Bäcker Jungen kaufen und das Stück mit zwanzig Mark bezahlen, während
die sizilianischen Carusi, die es ja freilich wohl noch schlimmer haben, doch
wenigstens hundert Franks gelten.

Daß durchschnittlich zu viel Lehrlinge "ausgebildet" werden, geht un-
widerleglich aus dem Überangebot von Gesellen hervor, das bei den meisten
Handwerken nachgewiesen wird, nnter andern bei den Berliner Tapezierern,
den Düsseldorfer Schlächtern, den Kölner Schreinern; daß in sehr vielen Werk¬
stätten gerade im Winter Leute entlassen werden, ist eine Thatsache, zu deren
Feststellung es gar keiner Bücher bedarf, weil sie sich alljährlich vor jeder¬
manns Augen ereignet. Daß endlich die Gesellenlöhne durchschnittlich elend
sei" müssen, versteht sich bei solcher Konkurrenz von selbst und wird auch in
den "Untersuchungen" vielfach bestätigt. Wenn die Meister im allgemeinen
über die "enorme Steigerung der Arbeitslöhne" klagen und diese in einzelnen
Fällen auf 100 Prozent gegen die Zeit vor dreißig Jahren angeben, so ist
doch zu bedenken, daß seitdem anch die Beamtenbesoldungen um ebenso viel
und teilweise noch mehr gestiegen, die Wohnungen und einzelne andre notwendige
Dinge viel teurer geworden sind. Auch bedeutet die Steigerung des Wochen¬
lohnes, die ja für den Meister recht drückend sein mag, noch keineswegs eine
entsprechende Steigerung des Jahreseinkommens für die Gesellen, da diese
meistens ein paar arbeitslose Wochen oder sogar Monate im Jahre zu über-


Die Lage des Handwerks

recht unhaltbar. Ist die Lehrzeit eine wirkliche Schule, dann darf der Hand¬
werksmeister so wenig darauf Anspruch machen, vom Arbeitserträge seiner
Schiller zu leben, wie etwa der Lehrer des Deutschen am Gymnasium auf die
Honorare für Zeitungsartikel angewiesen werden darf, die seine Schüler unter
seiner Leitung anzufertigen hätten. Soll die Handwerkslehre dem Ideal derer
entsprechen, die so viel von der Reform des Lehrlingswesens reden, dann
bringt sie dem Meister nichts ein, sondern kostet ihm ebenso wie dein Schul¬
meister nnr Mühe und verursacht ihm außerdem noch Auslage», woraus folgt,
daß er Lehrgeld erhalten muß, daß also nur Leute, die nicht ganz mittellos
sind, ihre Söhne ein Handwerk lernen lassen können, wenn nicht der Staat
einen Schritt weiter in der Richtung nach dem Sozialismus thut, neben die
Volksschule die Lehrwerkstätte setzt und deren Kosten entweder selbst übernimmt
oder den Gemeinden auflegt. So lauge der Handwerksmeister Jungen um¬
sonst nimmt unter der Bedingung, daß sie vier Jahre bei ihm aushalten, die
Annahme aber, daß er lediglich ein Liebeswerk an ihnen üben wolle, sowohl
dnrch seinen Charakter wie durch seiue Vermögenslage ausgeschlossen ist, so
lange sind diese Jungen thatsächlich nicht Lehrlinge, sondern junge Arbeiter-
Was der Junge etwa im ersten Jahre den Meister kostet, wird dnrch die Ver-
lüngernng der hergebrachten dreijährigen Lehrzeit um ein Jahr reichlich ersetzt.
In vielen Füllen liegt dieses Verhältnis ganz klar zu Tage. Im Frühjahr
reisen auf den vberschlestschen Dörfern Agenten herum, die für die Berliner
Bäcker Jungen kaufen und das Stück mit zwanzig Mark bezahlen, während
die sizilianischen Carusi, die es ja freilich wohl noch schlimmer haben, doch
wenigstens hundert Franks gelten.

Daß durchschnittlich zu viel Lehrlinge „ausgebildet" werden, geht un-
widerleglich aus dem Überangebot von Gesellen hervor, das bei den meisten
Handwerken nachgewiesen wird, nnter andern bei den Berliner Tapezierern,
den Düsseldorfer Schlächtern, den Kölner Schreinern; daß in sehr vielen Werk¬
stätten gerade im Winter Leute entlassen werden, ist eine Thatsache, zu deren
Feststellung es gar keiner Bücher bedarf, weil sie sich alljährlich vor jeder¬
manns Augen ereignet. Daß endlich die Gesellenlöhne durchschnittlich elend
sei» müssen, versteht sich bei solcher Konkurrenz von selbst und wird auch in
den „Untersuchungen" vielfach bestätigt. Wenn die Meister im allgemeinen
über die „enorme Steigerung der Arbeitslöhne" klagen und diese in einzelnen
Fällen auf 100 Prozent gegen die Zeit vor dreißig Jahren angeben, so ist
doch zu bedenken, daß seitdem anch die Beamtenbesoldungen um ebenso viel
und teilweise noch mehr gestiegen, die Wohnungen und einzelne andre notwendige
Dinge viel teurer geworden sind. Auch bedeutet die Steigerung des Wochen¬
lohnes, die ja für den Meister recht drückend sein mag, noch keineswegs eine
entsprechende Steigerung des Jahreseinkommens für die Gesellen, da diese
meistens ein paar arbeitslose Wochen oder sogar Monate im Jahre zu über-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/172>, abgerufen am 04.07.2024.