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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Zur Kenntnis der englischen iveltpolitik

Rußland mit mit seinem Vordrängen auf der Nordseite Afghanistans nie in
diese Lage gekommen ist, da das eigentliche Afghanistan zunächst nicht an
seinem Wege liegt, sondern nur die außenliegeuden Provinzen, das alte Baktrien.

Dieses Afghanisch-Turkestan nördlich vom Hindukusch ist mit dem seit
1873 Nußland unterworfnen Bochara durch Jahrhunderte nächster Nachbar,
und die Schicksale der beiden Länder haben sich oft eng verschlungen. Zu der
geographischen Verbindung durch die gemeinsame Lage im Oxusthal kam die
politische Verbindung in Freund- und Feindschaft.- Der Oxus schied nicht
immer die afghanischen und die bocharischen Gebiete. Seine Grcnzbedeutnng
ist überhaupt von den Engländern ins Unwahrscheinliche übertrieben worden.
Am liebsten hätten sie den Oxus bis zu seiner Mündung in den Aralsee zur
Grenze des russischen Gebiets gemacht. Die Städte und Bezirke von Valkh,
Khulum und Kundus, die seit Dose Mohammed zu Afghanistan gehören, wurden
vorher zu Buchara gerechnet. Erst seit Anfang der siebziger Jahre gilt der
Oxus als Grenze. Der Streit über den Anspruch Bucharas ans Maimcneh,
Sir-i-Kul und Andkhöi, die auf der jetzt afghanischen Seite liegen, ist damit
wohl nur zum Schlafen gebracht worden. Rawlinson schrieb 1875: "Indem
Rußland Bochara nimmt, erhält es eine Menge afghanischer Schwierigkeiten
und Verlegenheiten, von denen es sich nicht wird befreien können." Bochara
hat in allen politischen Bewegungen Afghanistans eine Rolle gespielt. Aus
Bochara kam der geflüchtete Dose Mohammed und sein Sohn, als sie 1842
die Engländer in Kabul angriffen. Mit bocharischen, d. h. usbekischen Truppen
stürzte 1865 Abdurrhaman Khan, der Schwiegersohn des Emirs von Bochara,
seinen Oheim schir Ali. Bochara war damals voll afghanischer Flüchtlinge.
Seltsamerweise focht ein ganzer Trupp Afghanen unter Kaufmann beim Angriff
auf Samcirkand.

So wie sich die Engländer die geographische Lage von Bochara und
seinen Nachbarländchen lange Zeit nicht klar zu machen vermochten, haben
sie auch nicht begriffen, daß gerade die "afghanischen Schwierigkeiten" die
Russen nach Bochara gelockt haben würden, wenn es nicht tausend andre Gründe
gehabt hätte, sich dieses politischen, geistigen und wirtschaftlichen Brennpunktes
zu bemächtigen. Als man die russische Unterwerfung Bocharas in England
für einen Fehler ansah, sagte man in Rußland: Der Einfluß in Bochara ist
ein Hebel, den Rußland in allen Konflikten mit England in Wirksamkeit setzen
kann. Hätte es ihn 1853 gehabt, so wären die Engländer nicht ins Schwarze
Meer gegangen. Die Engländer hatten keine Ahnung, wie tief die bocharischen
Einflüsse und Ansprüche nach Afghanistan hineinreichen, wenn sie glaubten,
durch Wechselheiraten die beiden Fürstenhäuser so aneinanderzuknüpfen, daß
sie sich vereint gegen Rußland stellen würden. Rußlands Vordringen auf
beiden Flanken von Bochara, in Merw und in den Pamir, machte diese Kom¬
bination unmöglich, die übrigens auch gar nicht in der Richtung einer


Zur Kenntnis der englischen iveltpolitik

Rußland mit mit seinem Vordrängen auf der Nordseite Afghanistans nie in
diese Lage gekommen ist, da das eigentliche Afghanistan zunächst nicht an
seinem Wege liegt, sondern nur die außenliegeuden Provinzen, das alte Baktrien.

Dieses Afghanisch-Turkestan nördlich vom Hindukusch ist mit dem seit
1873 Nußland unterworfnen Bochara durch Jahrhunderte nächster Nachbar,
und die Schicksale der beiden Länder haben sich oft eng verschlungen. Zu der
geographischen Verbindung durch die gemeinsame Lage im Oxusthal kam die
politische Verbindung in Freund- und Feindschaft.- Der Oxus schied nicht
immer die afghanischen und die bocharischen Gebiete. Seine Grcnzbedeutnng
ist überhaupt von den Engländern ins Unwahrscheinliche übertrieben worden.
Am liebsten hätten sie den Oxus bis zu seiner Mündung in den Aralsee zur
Grenze des russischen Gebiets gemacht. Die Städte und Bezirke von Valkh,
Khulum und Kundus, die seit Dose Mohammed zu Afghanistan gehören, wurden
vorher zu Buchara gerechnet. Erst seit Anfang der siebziger Jahre gilt der
Oxus als Grenze. Der Streit über den Anspruch Bucharas ans Maimcneh,
Sir-i-Kul und Andkhöi, die auf der jetzt afghanischen Seite liegen, ist damit
wohl nur zum Schlafen gebracht worden. Rawlinson schrieb 1875: „Indem
Rußland Bochara nimmt, erhält es eine Menge afghanischer Schwierigkeiten
und Verlegenheiten, von denen es sich nicht wird befreien können." Bochara
hat in allen politischen Bewegungen Afghanistans eine Rolle gespielt. Aus
Bochara kam der geflüchtete Dose Mohammed und sein Sohn, als sie 1842
die Engländer in Kabul angriffen. Mit bocharischen, d. h. usbekischen Truppen
stürzte 1865 Abdurrhaman Khan, der Schwiegersohn des Emirs von Bochara,
seinen Oheim schir Ali. Bochara war damals voll afghanischer Flüchtlinge.
Seltsamerweise focht ein ganzer Trupp Afghanen unter Kaufmann beim Angriff
auf Samcirkand.

So wie sich die Engländer die geographische Lage von Bochara und
seinen Nachbarländchen lange Zeit nicht klar zu machen vermochten, haben
sie auch nicht begriffen, daß gerade die „afghanischen Schwierigkeiten" die
Russen nach Bochara gelockt haben würden, wenn es nicht tausend andre Gründe
gehabt hätte, sich dieses politischen, geistigen und wirtschaftlichen Brennpunktes
zu bemächtigen. Als man die russische Unterwerfung Bocharas in England
für einen Fehler ansah, sagte man in Rußland: Der Einfluß in Bochara ist
ein Hebel, den Rußland in allen Konflikten mit England in Wirksamkeit setzen
kann. Hätte es ihn 1853 gehabt, so wären die Engländer nicht ins Schwarze
Meer gegangen. Die Engländer hatten keine Ahnung, wie tief die bocharischen
Einflüsse und Ansprüche nach Afghanistan hineinreichen, wenn sie glaubten,
durch Wechselheiraten die beiden Fürstenhäuser so aneinanderzuknüpfen, daß
sie sich vereint gegen Rußland stellen würden. Rußlands Vordringen auf
beiden Flanken von Bochara, in Merw und in den Pamir, machte diese Kom¬
bination unmöglich, die übrigens auch gar nicht in der Richtung einer


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[0164] Zur Kenntnis der englischen iveltpolitik Rußland mit mit seinem Vordrängen auf der Nordseite Afghanistans nie in diese Lage gekommen ist, da das eigentliche Afghanistan zunächst nicht an seinem Wege liegt, sondern nur die außenliegeuden Provinzen, das alte Baktrien. Dieses Afghanisch-Turkestan nördlich vom Hindukusch ist mit dem seit 1873 Nußland unterworfnen Bochara durch Jahrhunderte nächster Nachbar, und die Schicksale der beiden Länder haben sich oft eng verschlungen. Zu der geographischen Verbindung durch die gemeinsame Lage im Oxusthal kam die politische Verbindung in Freund- und Feindschaft.- Der Oxus schied nicht immer die afghanischen und die bocharischen Gebiete. Seine Grcnzbedeutnng ist überhaupt von den Engländern ins Unwahrscheinliche übertrieben worden. Am liebsten hätten sie den Oxus bis zu seiner Mündung in den Aralsee zur Grenze des russischen Gebiets gemacht. Die Städte und Bezirke von Valkh, Khulum und Kundus, die seit Dose Mohammed zu Afghanistan gehören, wurden vorher zu Buchara gerechnet. Erst seit Anfang der siebziger Jahre gilt der Oxus als Grenze. Der Streit über den Anspruch Bucharas ans Maimcneh, Sir-i-Kul und Andkhöi, die auf der jetzt afghanischen Seite liegen, ist damit wohl nur zum Schlafen gebracht worden. Rawlinson schrieb 1875: „Indem Rußland Bochara nimmt, erhält es eine Menge afghanischer Schwierigkeiten und Verlegenheiten, von denen es sich nicht wird befreien können." Bochara hat in allen politischen Bewegungen Afghanistans eine Rolle gespielt. Aus Bochara kam der geflüchtete Dose Mohammed und sein Sohn, als sie 1842 die Engländer in Kabul angriffen. Mit bocharischen, d. h. usbekischen Truppen stürzte 1865 Abdurrhaman Khan, der Schwiegersohn des Emirs von Bochara, seinen Oheim schir Ali. Bochara war damals voll afghanischer Flüchtlinge. Seltsamerweise focht ein ganzer Trupp Afghanen unter Kaufmann beim Angriff auf Samcirkand. So wie sich die Engländer die geographische Lage von Bochara und seinen Nachbarländchen lange Zeit nicht klar zu machen vermochten, haben sie auch nicht begriffen, daß gerade die „afghanischen Schwierigkeiten" die Russen nach Bochara gelockt haben würden, wenn es nicht tausend andre Gründe gehabt hätte, sich dieses politischen, geistigen und wirtschaftlichen Brennpunktes zu bemächtigen. Als man die russische Unterwerfung Bocharas in England für einen Fehler ansah, sagte man in Rußland: Der Einfluß in Bochara ist ein Hebel, den Rußland in allen Konflikten mit England in Wirksamkeit setzen kann. Hätte es ihn 1853 gehabt, so wären die Engländer nicht ins Schwarze Meer gegangen. Die Engländer hatten keine Ahnung, wie tief die bocharischen Einflüsse und Ansprüche nach Afghanistan hineinreichen, wenn sie glaubten, durch Wechselheiraten die beiden Fürstenhäuser so aneinanderzuknüpfen, daß sie sich vereint gegen Rußland stellen würden. Rußlands Vordringen auf beiden Flanken von Bochara, in Merw und in den Pamir, machte diese Kom¬ bination unmöglich, die übrigens auch gar nicht in der Richtung einer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/164>, abgerufen am 24.07.2024.