Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
politische Zeitbetrachtuilgen

einswesen harrt noch der Regelung durch Reichsgesetz, gerade diese wird aber
von den Freunden sowohl als von den Gegnern eines freien Vereinslebens
heute als völlig aussichtslos aufgegeben. Im großen und ganzen ist das
deutsche Volk mit dem Inhalt der Reichsgesetze wahrlich nicht unzufrieden.
Wo Klagen ertönen, da ist es, wenn man genauer zusieht, so z. B. auf dem
Gebiete der Rechtspflege, oft nur die Handhabung der Gesetze. Oder man
beschwert sich darüber, daß die Gesetzgebung zu verwickelt sei, so bei den Ar¬
beiterversicherungsgesetzen, oder man glaubt sich in seinen Interessen verletzt,
so namentlich bei dem Schmerzenskind der Reichsgesetzgebung, der vielum-
dokterten Gewerbeordnung. Keiner dieser oft nur vermeintlichen Übelstände
wiegt schwer genug, ein neues großes Übel, die Abänderung der bestehenden
Gesetze durch neue zu rechtfertigen.

Nicht als ob wir davon eine Einbuße an Ehrfurcht vor dem Gesetze be¬
fürchteten. Dieses Gefühl hat unter dem fortwährenden geräuschvollen Klappern
der Gesetzgebungsmaschine noch gar nicht aufkommen können. Die Zähigkeit,
mit der die neuerungssüchtigen Franzosen nun schon hundert Jahre an jedem Buch¬
staben ihrer Codes festhalten, ist den konservativen Deutschen fast unverständ¬
lich. Aber der fortwährende Wechsel, namentlich der wirtschaftlichen Gesetz¬
gebung, ist deshalb so gefährlich, weil er die Beteiligten glauben macht, sie
hatten gar nicht erst nötig, sich in die neuen Gesetzesbestimmungen einzuleben.
Versuchten sie es ernstlich, so würde es wohl möglich sein, manche wirkliche
Härte des Gesetzes durch veränderte wirtschaftliche Einrichtungen auszugleichen.
Man erinnere sich nur, was an der Sonntagsruhe in den wenigen Jahren
seit ihrer Einführung schon alles herumgemodelt worden ist! Diese übergroße
Bereitwilligkeit der Regierungen sowohl als des Reichstags, rasch einen neuen
Flecken darauf zu setzen, wenn irgendwo der Gesetzesschuh zu drücken scheint,
hat das heute überall ertönende Klagen und Schreien nach gesetzgeberischer
Hilfe erst großgezogen und die Selbsthilfe, die in dem bureaukratisch regierten
Deutschland schon immer schwer gedeihen wollte, gleich vollends verkümmern
lassen. Geht das staatliche Gebieten, Verdicken und Reglementiren so weiter,
so sind wir eines Tages, ohne es zu merken, im sozialdemvkmtischen Zwangs¬
staat eingetroffen. Uns ist gerade jenes Ertöten der Persönlichkeit das, was
uns von der Sozialdemokratie sowohl in ihrer heutigen als vollends in ihrer
utopischen Zukunftsgestalt grundsätzlich scheidet.

Wir bestreiten nicht, daß auch wir viele der bestehenden Gesetze nach Form
und Inhalt für verbesserungsfähig halten. Aber einmal liegen unsre Verbesse¬
rungswünsche in einer Richtung, die heute weniger Aussicht als je zu haben
scheint, den Beifall wenigstens der verbündeten Regierungen zu finden. Wir
sind deshalb vollauf zufrieden, wenn es gelingt, drohende Verschlechterungen
abzuwenden. Übrigens ist die mangelhafte Form nur bei Strafgesetzen ein wirk¬
liches Unglück. Mit schlechtgefaßten, verwickelten Verwaltungsgesetzen versteht


politische Zeitbetrachtuilgen

einswesen harrt noch der Regelung durch Reichsgesetz, gerade diese wird aber
von den Freunden sowohl als von den Gegnern eines freien Vereinslebens
heute als völlig aussichtslos aufgegeben. Im großen und ganzen ist das
deutsche Volk mit dem Inhalt der Reichsgesetze wahrlich nicht unzufrieden.
Wo Klagen ertönen, da ist es, wenn man genauer zusieht, so z. B. auf dem
Gebiete der Rechtspflege, oft nur die Handhabung der Gesetze. Oder man
beschwert sich darüber, daß die Gesetzgebung zu verwickelt sei, so bei den Ar¬
beiterversicherungsgesetzen, oder man glaubt sich in seinen Interessen verletzt,
so namentlich bei dem Schmerzenskind der Reichsgesetzgebung, der vielum-
dokterten Gewerbeordnung. Keiner dieser oft nur vermeintlichen Übelstände
wiegt schwer genug, ein neues großes Übel, die Abänderung der bestehenden
Gesetze durch neue zu rechtfertigen.

Nicht als ob wir davon eine Einbuße an Ehrfurcht vor dem Gesetze be¬
fürchteten. Dieses Gefühl hat unter dem fortwährenden geräuschvollen Klappern
der Gesetzgebungsmaschine noch gar nicht aufkommen können. Die Zähigkeit,
mit der die neuerungssüchtigen Franzosen nun schon hundert Jahre an jedem Buch¬
staben ihrer Codes festhalten, ist den konservativen Deutschen fast unverständ¬
lich. Aber der fortwährende Wechsel, namentlich der wirtschaftlichen Gesetz¬
gebung, ist deshalb so gefährlich, weil er die Beteiligten glauben macht, sie
hatten gar nicht erst nötig, sich in die neuen Gesetzesbestimmungen einzuleben.
Versuchten sie es ernstlich, so würde es wohl möglich sein, manche wirkliche
Härte des Gesetzes durch veränderte wirtschaftliche Einrichtungen auszugleichen.
Man erinnere sich nur, was an der Sonntagsruhe in den wenigen Jahren
seit ihrer Einführung schon alles herumgemodelt worden ist! Diese übergroße
Bereitwilligkeit der Regierungen sowohl als des Reichstags, rasch einen neuen
Flecken darauf zu setzen, wenn irgendwo der Gesetzesschuh zu drücken scheint,
hat das heute überall ertönende Klagen und Schreien nach gesetzgeberischer
Hilfe erst großgezogen und die Selbsthilfe, die in dem bureaukratisch regierten
Deutschland schon immer schwer gedeihen wollte, gleich vollends verkümmern
lassen. Geht das staatliche Gebieten, Verdicken und Reglementiren so weiter,
so sind wir eines Tages, ohne es zu merken, im sozialdemvkmtischen Zwangs¬
staat eingetroffen. Uns ist gerade jenes Ertöten der Persönlichkeit das, was
uns von der Sozialdemokratie sowohl in ihrer heutigen als vollends in ihrer
utopischen Zukunftsgestalt grundsätzlich scheidet.

Wir bestreiten nicht, daß auch wir viele der bestehenden Gesetze nach Form
und Inhalt für verbesserungsfähig halten. Aber einmal liegen unsre Verbesse¬
rungswünsche in einer Richtung, die heute weniger Aussicht als je zu haben
scheint, den Beifall wenigstens der verbündeten Regierungen zu finden. Wir
sind deshalb vollauf zufrieden, wenn es gelingt, drohende Verschlechterungen
abzuwenden. Übrigens ist die mangelhafte Form nur bei Strafgesetzen ein wirk¬
liches Unglück. Mit schlechtgefaßten, verwickelten Verwaltungsgesetzen versteht


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0013" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/220989"/>
          <fw type="header" place="top"> politische Zeitbetrachtuilgen</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_11" prev="#ID_10"> einswesen harrt noch der Regelung durch Reichsgesetz, gerade diese wird aber<lb/>
von den Freunden sowohl als von den Gegnern eines freien Vereinslebens<lb/>
heute als völlig aussichtslos aufgegeben. Im großen und ganzen ist das<lb/>
deutsche Volk mit dem Inhalt der Reichsgesetze wahrlich nicht unzufrieden.<lb/>
Wo Klagen ertönen, da ist es, wenn man genauer zusieht, so z. B. auf dem<lb/>
Gebiete der Rechtspflege, oft nur die Handhabung der Gesetze. Oder man<lb/>
beschwert sich darüber, daß die Gesetzgebung zu verwickelt sei, so bei den Ar¬<lb/>
beiterversicherungsgesetzen, oder man glaubt sich in seinen Interessen verletzt,<lb/>
so namentlich bei dem Schmerzenskind der Reichsgesetzgebung, der vielum-<lb/>
dokterten Gewerbeordnung. Keiner dieser oft nur vermeintlichen Übelstände<lb/>
wiegt schwer genug, ein neues großes Übel, die Abänderung der bestehenden<lb/>
Gesetze durch neue zu rechtfertigen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_12"> Nicht als ob wir davon eine Einbuße an Ehrfurcht vor dem Gesetze be¬<lb/>
fürchteten. Dieses Gefühl hat unter dem fortwährenden geräuschvollen Klappern<lb/>
der Gesetzgebungsmaschine noch gar nicht aufkommen können. Die Zähigkeit,<lb/>
mit der die neuerungssüchtigen Franzosen nun schon hundert Jahre an jedem Buch¬<lb/>
staben ihrer Codes festhalten, ist den konservativen Deutschen fast unverständ¬<lb/>
lich. Aber der fortwährende Wechsel, namentlich der wirtschaftlichen Gesetz¬<lb/>
gebung, ist deshalb so gefährlich, weil er die Beteiligten glauben macht, sie<lb/>
hatten gar nicht erst nötig, sich in die neuen Gesetzesbestimmungen einzuleben.<lb/>
Versuchten sie es ernstlich, so würde es wohl möglich sein, manche wirkliche<lb/>
Härte des Gesetzes durch veränderte wirtschaftliche Einrichtungen auszugleichen.<lb/>
Man erinnere sich nur, was an der Sonntagsruhe in den wenigen Jahren<lb/>
seit ihrer Einführung schon alles herumgemodelt worden ist! Diese übergroße<lb/>
Bereitwilligkeit der Regierungen sowohl als des Reichstags, rasch einen neuen<lb/>
Flecken darauf zu setzen, wenn irgendwo der Gesetzesschuh zu drücken scheint,<lb/>
hat das heute überall ertönende Klagen und Schreien nach gesetzgeberischer<lb/>
Hilfe erst großgezogen und die Selbsthilfe, die in dem bureaukratisch regierten<lb/>
Deutschland schon immer schwer gedeihen wollte, gleich vollends verkümmern<lb/>
lassen. Geht das staatliche Gebieten, Verdicken und Reglementiren so weiter,<lb/>
so sind wir eines Tages, ohne es zu merken, im sozialdemvkmtischen Zwangs¬<lb/>
staat eingetroffen. Uns ist gerade jenes Ertöten der Persönlichkeit das, was<lb/>
uns von der Sozialdemokratie sowohl in ihrer heutigen als vollends in ihrer<lb/>
utopischen Zukunftsgestalt grundsätzlich scheidet.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_13" next="#ID_14"> Wir bestreiten nicht, daß auch wir viele der bestehenden Gesetze nach Form<lb/>
und Inhalt für verbesserungsfähig halten. Aber einmal liegen unsre Verbesse¬<lb/>
rungswünsche in einer Richtung, die heute weniger Aussicht als je zu haben<lb/>
scheint, den Beifall wenigstens der verbündeten Regierungen zu finden. Wir<lb/>
sind deshalb vollauf zufrieden, wenn es gelingt, drohende Verschlechterungen<lb/>
abzuwenden. Übrigens ist die mangelhafte Form nur bei Strafgesetzen ein wirk¬<lb/>
liches Unglück. Mit schlechtgefaßten, verwickelten Verwaltungsgesetzen versteht</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0013] politische Zeitbetrachtuilgen einswesen harrt noch der Regelung durch Reichsgesetz, gerade diese wird aber von den Freunden sowohl als von den Gegnern eines freien Vereinslebens heute als völlig aussichtslos aufgegeben. Im großen und ganzen ist das deutsche Volk mit dem Inhalt der Reichsgesetze wahrlich nicht unzufrieden. Wo Klagen ertönen, da ist es, wenn man genauer zusieht, so z. B. auf dem Gebiete der Rechtspflege, oft nur die Handhabung der Gesetze. Oder man beschwert sich darüber, daß die Gesetzgebung zu verwickelt sei, so bei den Ar¬ beiterversicherungsgesetzen, oder man glaubt sich in seinen Interessen verletzt, so namentlich bei dem Schmerzenskind der Reichsgesetzgebung, der vielum- dokterten Gewerbeordnung. Keiner dieser oft nur vermeintlichen Übelstände wiegt schwer genug, ein neues großes Übel, die Abänderung der bestehenden Gesetze durch neue zu rechtfertigen. Nicht als ob wir davon eine Einbuße an Ehrfurcht vor dem Gesetze be¬ fürchteten. Dieses Gefühl hat unter dem fortwährenden geräuschvollen Klappern der Gesetzgebungsmaschine noch gar nicht aufkommen können. Die Zähigkeit, mit der die neuerungssüchtigen Franzosen nun schon hundert Jahre an jedem Buch¬ staben ihrer Codes festhalten, ist den konservativen Deutschen fast unverständ¬ lich. Aber der fortwährende Wechsel, namentlich der wirtschaftlichen Gesetz¬ gebung, ist deshalb so gefährlich, weil er die Beteiligten glauben macht, sie hatten gar nicht erst nötig, sich in die neuen Gesetzesbestimmungen einzuleben. Versuchten sie es ernstlich, so würde es wohl möglich sein, manche wirkliche Härte des Gesetzes durch veränderte wirtschaftliche Einrichtungen auszugleichen. Man erinnere sich nur, was an der Sonntagsruhe in den wenigen Jahren seit ihrer Einführung schon alles herumgemodelt worden ist! Diese übergroße Bereitwilligkeit der Regierungen sowohl als des Reichstags, rasch einen neuen Flecken darauf zu setzen, wenn irgendwo der Gesetzesschuh zu drücken scheint, hat das heute überall ertönende Klagen und Schreien nach gesetzgeberischer Hilfe erst großgezogen und die Selbsthilfe, die in dem bureaukratisch regierten Deutschland schon immer schwer gedeihen wollte, gleich vollends verkümmern lassen. Geht das staatliche Gebieten, Verdicken und Reglementiren so weiter, so sind wir eines Tages, ohne es zu merken, im sozialdemvkmtischen Zwangs¬ staat eingetroffen. Uns ist gerade jenes Ertöten der Persönlichkeit das, was uns von der Sozialdemokratie sowohl in ihrer heutigen als vollends in ihrer utopischen Zukunftsgestalt grundsätzlich scheidet. Wir bestreiten nicht, daß auch wir viele der bestehenden Gesetze nach Form und Inhalt für verbesserungsfähig halten. Aber einmal liegen unsre Verbesse¬ rungswünsche in einer Richtung, die heute weniger Aussicht als je zu haben scheint, den Beifall wenigstens der verbündeten Regierungen zu finden. Wir sind deshalb vollauf zufrieden, wenn es gelingt, drohende Verschlechterungen abzuwenden. Übrigens ist die mangelhafte Form nur bei Strafgesetzen ein wirk¬ liches Unglück. Mit schlechtgefaßten, verwickelten Verwaltungsgesetzen versteht

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/13
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/13>, abgerufen am 27.06.2024.