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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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politische Zeitbetrachtungen

wieder einmal nach außen zusammenzufassen. Das allgemeine Wahlrecht wird
aber dereinst auch in der Hand eines sozialen deutschen Kaisers und eines
sozialen Bismarck das einzige Mittel sein, den selbstsüchtigen Widerstand der
Besitzenden zu brechen, wenn Tag und Stunde gekommen sein werden.

Noch vor fünf Jahren schien es, als wenn diese Stunde schlagen sollte.
Wir haben uns getäuscht und entnehmen daraus die Lehre, daß die Saat erst
noch weiter reifen muß, ehe die Ernte eingebracht werden kann. Seitdem hat
die Erkenntnis dessen, was in sozialen Dingen not thut, doch schon soviel
Fortschritte gemacht, daß der Versuch, die aufstrebende wirtschaftliche und
geistige Entwicklung des vierten Standes in Polizeifesseln zu schlagen, zurück¬
gewiesen worden und daß eine Wiederholung dieses Versuchs völlig aussichtslos
geworden ist. Bleiben wir auch weiter ruhig in der Defensive, bis einst das
Wagnis unternommen wird, sich eine Strecke weit von der Bewegung tragen
zu lassen, um sie dann desto sicherer zu beherrschen und in fruchtbringende
Bahnen zu lenken. Mag sein, daß hierzu die Räder der Staatsmaschine eines
neuen Tropfens demokratischen Öls bedürfen. Aber die Zeiten der absolu¬
tistischen und patriarchalischen Regierungsweise sind unwiderbringlich dahin,
die Völker wollen sich nun einmal gegen ihren Willen auch von dem erleuch¬
tetsten Herrscher nicht glücklich machen lassen, und selbst die Könige thun gut
daran, wenn sie mit dieser Stimmung des zu Ende gehenden Jahrhunderts
rechnen. Man sagt von der Kirche, wenigstens von der katholischen, daß sie sich
mit jeder Staatsform einzurichten verstehe. Man kann behaupten, daß die erb¬
liche Monarchie auch unter demokratischen Staatseinrichtungen in der Rechts¬
pflege und Verwaltung nichts von ihrer Macht und ihrem Ansehen einzubüßen
braucht, wenn ihr nur die Stellung als gleichberechtigte Gewalt in der Gesetz¬
gebung und die Freiheit in der Wahl ihrer Berater gewahrt bleiben. Freilich
nur, wenn sich im Herrscher selbst oder doch wenigstens in seinem Kanzler eine
Persönlichkeit verkörpert, die die Bedürfnisse der Gegenwart klar erkennt, die
Bahnen der kommenden Entwicklung voraussieht und den lebendigen Zusammen¬
hang mit der Volksseele aufrecht zu erhalten weiß. Tritt zu folchen Eigen-
schaften noch der Glanz des Thrones und die Überlieferung jahrhundertealter
Schicksalsgemeinschaft zwischen Fürst und Volk, der Monarch könnte der mäch¬
tigste Herrscher des glücklichsten Volks heißen.

Doch still davon. Leider ist, wie sich heute die Verhältnisse in Deutsch¬
land entwickelt haben, die Gesetzgebung, d.h. also die Weiterbildung unsrer
staatlichen Einrichtungen durch das gemeinsame Zusammenwirken der Regie¬
rungen und der Volksvertretung, im Reiche wenigstens, zum Stillstand ver¬
urteilt. Ist dies ein Unglück? Wir glauben nicht. Ein Blick in die Reichs-
verfassung zeigt, daß das Reich die Angelegenheiten, die es im vierten Artikel
seiner Beaufsichtigung und Gesetzgebung unterworfen hat, bis auf das schon
vorliegende bürgerliche Gesetzbuch nur sämtlich geordnet hat. Nur das Ver-


politische Zeitbetrachtungen

wieder einmal nach außen zusammenzufassen. Das allgemeine Wahlrecht wird
aber dereinst auch in der Hand eines sozialen deutschen Kaisers und eines
sozialen Bismarck das einzige Mittel sein, den selbstsüchtigen Widerstand der
Besitzenden zu brechen, wenn Tag und Stunde gekommen sein werden.

Noch vor fünf Jahren schien es, als wenn diese Stunde schlagen sollte.
Wir haben uns getäuscht und entnehmen daraus die Lehre, daß die Saat erst
noch weiter reifen muß, ehe die Ernte eingebracht werden kann. Seitdem hat
die Erkenntnis dessen, was in sozialen Dingen not thut, doch schon soviel
Fortschritte gemacht, daß der Versuch, die aufstrebende wirtschaftliche und
geistige Entwicklung des vierten Standes in Polizeifesseln zu schlagen, zurück¬
gewiesen worden und daß eine Wiederholung dieses Versuchs völlig aussichtslos
geworden ist. Bleiben wir auch weiter ruhig in der Defensive, bis einst das
Wagnis unternommen wird, sich eine Strecke weit von der Bewegung tragen
zu lassen, um sie dann desto sicherer zu beherrschen und in fruchtbringende
Bahnen zu lenken. Mag sein, daß hierzu die Räder der Staatsmaschine eines
neuen Tropfens demokratischen Öls bedürfen. Aber die Zeiten der absolu¬
tistischen und patriarchalischen Regierungsweise sind unwiderbringlich dahin,
die Völker wollen sich nun einmal gegen ihren Willen auch von dem erleuch¬
tetsten Herrscher nicht glücklich machen lassen, und selbst die Könige thun gut
daran, wenn sie mit dieser Stimmung des zu Ende gehenden Jahrhunderts
rechnen. Man sagt von der Kirche, wenigstens von der katholischen, daß sie sich
mit jeder Staatsform einzurichten verstehe. Man kann behaupten, daß die erb¬
liche Monarchie auch unter demokratischen Staatseinrichtungen in der Rechts¬
pflege und Verwaltung nichts von ihrer Macht und ihrem Ansehen einzubüßen
braucht, wenn ihr nur die Stellung als gleichberechtigte Gewalt in der Gesetz¬
gebung und die Freiheit in der Wahl ihrer Berater gewahrt bleiben. Freilich
nur, wenn sich im Herrscher selbst oder doch wenigstens in seinem Kanzler eine
Persönlichkeit verkörpert, die die Bedürfnisse der Gegenwart klar erkennt, die
Bahnen der kommenden Entwicklung voraussieht und den lebendigen Zusammen¬
hang mit der Volksseele aufrecht zu erhalten weiß. Tritt zu folchen Eigen-
schaften noch der Glanz des Thrones und die Überlieferung jahrhundertealter
Schicksalsgemeinschaft zwischen Fürst und Volk, der Monarch könnte der mäch¬
tigste Herrscher des glücklichsten Volks heißen.

Doch still davon. Leider ist, wie sich heute die Verhältnisse in Deutsch¬
land entwickelt haben, die Gesetzgebung, d.h. also die Weiterbildung unsrer
staatlichen Einrichtungen durch das gemeinsame Zusammenwirken der Regie¬
rungen und der Volksvertretung, im Reiche wenigstens, zum Stillstand ver¬
urteilt. Ist dies ein Unglück? Wir glauben nicht. Ein Blick in die Reichs-
verfassung zeigt, daß das Reich die Angelegenheiten, die es im vierten Artikel
seiner Beaufsichtigung und Gesetzgebung unterworfen hat, bis auf das schon
vorliegende bürgerliche Gesetzbuch nur sämtlich geordnet hat. Nur das Ver-


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[0012] politische Zeitbetrachtungen wieder einmal nach außen zusammenzufassen. Das allgemeine Wahlrecht wird aber dereinst auch in der Hand eines sozialen deutschen Kaisers und eines sozialen Bismarck das einzige Mittel sein, den selbstsüchtigen Widerstand der Besitzenden zu brechen, wenn Tag und Stunde gekommen sein werden. Noch vor fünf Jahren schien es, als wenn diese Stunde schlagen sollte. Wir haben uns getäuscht und entnehmen daraus die Lehre, daß die Saat erst noch weiter reifen muß, ehe die Ernte eingebracht werden kann. Seitdem hat die Erkenntnis dessen, was in sozialen Dingen not thut, doch schon soviel Fortschritte gemacht, daß der Versuch, die aufstrebende wirtschaftliche und geistige Entwicklung des vierten Standes in Polizeifesseln zu schlagen, zurück¬ gewiesen worden und daß eine Wiederholung dieses Versuchs völlig aussichtslos geworden ist. Bleiben wir auch weiter ruhig in der Defensive, bis einst das Wagnis unternommen wird, sich eine Strecke weit von der Bewegung tragen zu lassen, um sie dann desto sicherer zu beherrschen und in fruchtbringende Bahnen zu lenken. Mag sein, daß hierzu die Räder der Staatsmaschine eines neuen Tropfens demokratischen Öls bedürfen. Aber die Zeiten der absolu¬ tistischen und patriarchalischen Regierungsweise sind unwiderbringlich dahin, die Völker wollen sich nun einmal gegen ihren Willen auch von dem erleuch¬ tetsten Herrscher nicht glücklich machen lassen, und selbst die Könige thun gut daran, wenn sie mit dieser Stimmung des zu Ende gehenden Jahrhunderts rechnen. Man sagt von der Kirche, wenigstens von der katholischen, daß sie sich mit jeder Staatsform einzurichten verstehe. Man kann behaupten, daß die erb¬ liche Monarchie auch unter demokratischen Staatseinrichtungen in der Rechts¬ pflege und Verwaltung nichts von ihrer Macht und ihrem Ansehen einzubüßen braucht, wenn ihr nur die Stellung als gleichberechtigte Gewalt in der Gesetz¬ gebung und die Freiheit in der Wahl ihrer Berater gewahrt bleiben. Freilich nur, wenn sich im Herrscher selbst oder doch wenigstens in seinem Kanzler eine Persönlichkeit verkörpert, die die Bedürfnisse der Gegenwart klar erkennt, die Bahnen der kommenden Entwicklung voraussieht und den lebendigen Zusammen¬ hang mit der Volksseele aufrecht zu erhalten weiß. Tritt zu folchen Eigen- schaften noch der Glanz des Thrones und die Überlieferung jahrhundertealter Schicksalsgemeinschaft zwischen Fürst und Volk, der Monarch könnte der mäch¬ tigste Herrscher des glücklichsten Volks heißen. Doch still davon. Leider ist, wie sich heute die Verhältnisse in Deutsch¬ land entwickelt haben, die Gesetzgebung, d.h. also die Weiterbildung unsrer staatlichen Einrichtungen durch das gemeinsame Zusammenwirken der Regie¬ rungen und der Volksvertretung, im Reiche wenigstens, zum Stillstand ver¬ urteilt. Ist dies ein Unglück? Wir glauben nicht. Ein Blick in die Reichs- verfassung zeigt, daß das Reich die Angelegenheiten, die es im vierten Artikel seiner Beaufsichtigung und Gesetzgebung unterworfen hat, bis auf das schon vorliegende bürgerliche Gesetzbuch nur sämtlich geordnet hat. Nur das Ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/12>, abgerufen am 01.07.2024.