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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Politische Zeitbetrachtungen

sich, wie der Erfolg zeigt, sowohl die Verwaltung selbst als das Publikum je
länger je besser abzufinden. Die Ecken und Spitzen, die ihnen vom grünen Tisch
her anhaften, werden von der Praxis abgeschliffen, die Lücken, die der Weisheit
des Gesetzgebers entgangen sind, werden ausgefüllt, und das Ende ist: es geht
auch so! So ist es z. B. möglich gewesen, mit Hilfe der Arbeiterversicherungs-
gesctze, die als das Muster einer schlechtgefaßten, undurchsichtigen und verwickelten
Gesetzgebung bezeichnet werden dürfen, doch ganz vortreffliche Ergebnisse zu
erzielen. Endlich scheint sich auch die Erkenntnis allgemeiner zu verbreiten,
daß das Paragraphenschmieden allein doch ein recht unvollkommnes Heilmittel
gegen allerlei unbequeme Erscheinungen ist. Selbst die wirksamsten Gesetze,
die Strafgesetze, versagen, wenn man sich einbildet, damit den Kampf gegen
Gesinnungen und geistige Bewegungen führen zu können. Von ihnen und von
den Finanzgesetzen abgesehen, schaffen die Gesetze ja doch bloß den Rahmen,
den die Thätigkeit des Staats wie der Einzelnen nun erst ausfüllen soll.
Sieht man davon ab, daß den arbeitenden Klassen Deutschlands noch immer
die volle Koalitionsfreiheit vorenthalten ist, so muß man zugeben, daß der
Rahmen der heutigen deutschen Gesetzgebung allen Bevölkerungsgruppen für
die freie Bethätigung ihrer Kräfte hinlänglichen Spielraum gewährt. Das
Heil kann deshalb nicht darin liegen, daß jener Rahmen unausgesetzt erweitert
oder verengt wird. Wo freilich die eigne Kraft nicht ausreicht, wird es immer
Aufgabe des Staats bleiben, durch geistige Forderung und durch materielle
Mittel helfend einzugreifen. Das sind recht eigentlich seine Kulturaufgaben,
und seine rastlosen Bemühungen dürfen insbesondre auf den Gebieten nicht
erschlaffen, die er sich und den Gemeinden ausschließlich vorbehalten hat, so
vor allem auf dem Gebiete des Unterrichtswesens im weitesten Sinne des
Wortes, einschließlich also der Fachschulen im ganzen Umfange produktiver
Thätigkeit. Knltnraufgaben kosten aber bekanntlich Geld, und der moderne
Staat, vor allem der führende deutsche Bundesstaat, wird noch ganz andre
Mittel flüssig zu machen haben, wenn er den kommenden Geschlechtern auch
nur das Erbe der Vergangenheit erhalten will. Wir fürchten, er wird sich
zu diesem Zwecke eines Tages gezwungen sehen, einen Hauptsatz des sozial¬
demokratischen Programms, die unbeschränkte progressive Einkommensteuer zu
verwirklichen. Dies wird ihm aber schlechterdings nur mit Hilfe des allge¬
meinen Wahlrechts möglich sein. Er zerbräche sich also mutwillig sein bestes
Handwerkszeug, wenn er sich aus Ärger über mancherlei unangenehme Erschei¬
nungen zur Oligarchie oder richtiger zur Plutokratie flüchten wollte. Einst¬
weilen freilich steht auch eine kühn und groß angelegte Finanzpolitik in weitem
Felde, Nicht einmal die Abgrenzung zwischen den Finanzen des Reichs und
der Einzelstaaten ist besonders dringlich, und auch neue Verlegenheitskunst¬
stücke auf dem Gebiete der indirekten Besteuerung scheinen nicht in Aussicht
zu stehen.


Politische Zeitbetrachtungen

sich, wie der Erfolg zeigt, sowohl die Verwaltung selbst als das Publikum je
länger je besser abzufinden. Die Ecken und Spitzen, die ihnen vom grünen Tisch
her anhaften, werden von der Praxis abgeschliffen, die Lücken, die der Weisheit
des Gesetzgebers entgangen sind, werden ausgefüllt, und das Ende ist: es geht
auch so! So ist es z. B. möglich gewesen, mit Hilfe der Arbeiterversicherungs-
gesctze, die als das Muster einer schlechtgefaßten, undurchsichtigen und verwickelten
Gesetzgebung bezeichnet werden dürfen, doch ganz vortreffliche Ergebnisse zu
erzielen. Endlich scheint sich auch die Erkenntnis allgemeiner zu verbreiten,
daß das Paragraphenschmieden allein doch ein recht unvollkommnes Heilmittel
gegen allerlei unbequeme Erscheinungen ist. Selbst die wirksamsten Gesetze,
die Strafgesetze, versagen, wenn man sich einbildet, damit den Kampf gegen
Gesinnungen und geistige Bewegungen führen zu können. Von ihnen und von
den Finanzgesetzen abgesehen, schaffen die Gesetze ja doch bloß den Rahmen,
den die Thätigkeit des Staats wie der Einzelnen nun erst ausfüllen soll.
Sieht man davon ab, daß den arbeitenden Klassen Deutschlands noch immer
die volle Koalitionsfreiheit vorenthalten ist, so muß man zugeben, daß der
Rahmen der heutigen deutschen Gesetzgebung allen Bevölkerungsgruppen für
die freie Bethätigung ihrer Kräfte hinlänglichen Spielraum gewährt. Das
Heil kann deshalb nicht darin liegen, daß jener Rahmen unausgesetzt erweitert
oder verengt wird. Wo freilich die eigne Kraft nicht ausreicht, wird es immer
Aufgabe des Staats bleiben, durch geistige Forderung und durch materielle
Mittel helfend einzugreifen. Das sind recht eigentlich seine Kulturaufgaben,
und seine rastlosen Bemühungen dürfen insbesondre auf den Gebieten nicht
erschlaffen, die er sich und den Gemeinden ausschließlich vorbehalten hat, so
vor allem auf dem Gebiete des Unterrichtswesens im weitesten Sinne des
Wortes, einschließlich also der Fachschulen im ganzen Umfange produktiver
Thätigkeit. Knltnraufgaben kosten aber bekanntlich Geld, und der moderne
Staat, vor allem der führende deutsche Bundesstaat, wird noch ganz andre
Mittel flüssig zu machen haben, wenn er den kommenden Geschlechtern auch
nur das Erbe der Vergangenheit erhalten will. Wir fürchten, er wird sich
zu diesem Zwecke eines Tages gezwungen sehen, einen Hauptsatz des sozial¬
demokratischen Programms, die unbeschränkte progressive Einkommensteuer zu
verwirklichen. Dies wird ihm aber schlechterdings nur mit Hilfe des allge¬
meinen Wahlrechts möglich sein. Er zerbräche sich also mutwillig sein bestes
Handwerkszeug, wenn er sich aus Ärger über mancherlei unangenehme Erschei¬
nungen zur Oligarchie oder richtiger zur Plutokratie flüchten wollte. Einst¬
weilen freilich steht auch eine kühn und groß angelegte Finanzpolitik in weitem
Felde, Nicht einmal die Abgrenzung zwischen den Finanzen des Reichs und
der Einzelstaaten ist besonders dringlich, und auch neue Verlegenheitskunst¬
stücke auf dem Gebiete der indirekten Besteuerung scheinen nicht in Aussicht
zu stehen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/14>, abgerufen am 21.06.2024.