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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Politische Zeitbetrachtungen

leim nicht weiter fortfahren, Waffer auf ihre morschen Mühlen zu leiten, je¬
mals diese Macht erreichen.

Weit eher ist die Macht, den heute in Deutschland geltenden Verfasfungs-
zustand über den Haufen zu werfen -- auf wie lange und mit welchen schlie߬
lichen Folgen für die Urheber eines Staatsstreichs, brauchen wir hier nicht
zu untersuchen --, auf der Gegenseite vorhanden. Rein äußerlich betrachtet,
wäre ja das Unternehmen, den deutschen Reichstag auseinanderzujagen, ein
Kinderspiel im Vergleich mit dem Versuche, den von der Fülle der modernen
Machtmittel umgebnen Thron zu stürzen. Rein äußerlich betrachtet, hat
das deutsche Volk auch nicht ein einziges Machtmittel in der Hand, eine Ver¬
gewaltigung seiner Vertreter oder eine Beschneidung seiner politischen Rechte
schon im voraus zu verhindern. Einzig und allein das Vertrauen darauf,
daß es offenkundiger verfasfungsfeindlichen Bestrebungen niemals gelingen
werde, sich an der Stelle zur Geltung zu bringen, wo Macht und Wille ver¬
einigt sind, verschafft den Deutschen den ruhigen Genuß des staatsbürgerlichen
Daseins. Dieses Vertrauen besteht noch. Wie lange es noch standhalten wird,
wenn die Mirbach und Pfeil laut und offen fortfahren dürfen, mit dem leichten
Herzen eines Emile Ollivier die gewaltsame Beseitigung des allgemeinen Wahl¬
rechts zu fordern, wenn offiziöse Zeitungen beginnen, mit der seit den Stuarts
berüchtigten Theorie vom "Staatsnotrecht" zu liebäugeln, wagen wir nicht zu
sagen. Es ist tief zu bedauern, daß die hochgestimmten Worte eines kraft¬
vollen Herrschers, deren sich die Deutschen eigentlich von Herzen hätten freuen
sollen, fast jedesmal schmerzliche Mißdeutungen erfahren haben. Ein Huos
des Kaisers an jene aufdringlichen Freunde und nngerufnen Ratgeber
würde im ganzen Reiche als eine erlösende That einPfunden werden.

Wir haben keinen Grund, uns theoretisch für das allgemeine Wahlrecht
zu begeistern. Der Vorzug, das am wenigsten schlechte zu sein, ist schon eine
vollauf genügende Rechtfertigung. Halten wir uns lieber an die Thatsache,
daß Deutschland unter dem allgemeinen Wahlrecht einen Krieg begonnen und
siegreich durchgeführt hat, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hatte, daß es
unter demselben Wahlrecht den fast tausendjährigen Traum von der nationalen
Einigung Deutschlands verwirklicht, daß es die unselige Stammeseifersucht so
gut wie völlig überwunden, daß es sich Gesetze gegeben hat, denen man doch
wahrhaftig keine schwächlichen demokratischen Züge nachsagen kann, daß es,
zweimal zur Stärkung der nationalen Wehrkraft angerufen, beidemale nicht
versagt hat. Das allgemeine Wahlrecht wird auch künftig das Mittel sein,
starken nationalen Empfindungen, wenn sie erst zum Gemeingut der Deutschen
geworden sind, den echtesten und unwiderstehlichsten Ausdruck zu geben. Der
Wert einer solchen Kundgebung, ausgehend von einem in allen Gliedern wahl¬
berechtigten und zugleich wehrpflichtigen Volke, kann gar nicht überschützt
werden, wenn es sich darum handeln wird, die ganze Kraft der Nation


Politische Zeitbetrachtungen

leim nicht weiter fortfahren, Waffer auf ihre morschen Mühlen zu leiten, je¬
mals diese Macht erreichen.

Weit eher ist die Macht, den heute in Deutschland geltenden Verfasfungs-
zustand über den Haufen zu werfen — auf wie lange und mit welchen schlie߬
lichen Folgen für die Urheber eines Staatsstreichs, brauchen wir hier nicht
zu untersuchen —, auf der Gegenseite vorhanden. Rein äußerlich betrachtet,
wäre ja das Unternehmen, den deutschen Reichstag auseinanderzujagen, ein
Kinderspiel im Vergleich mit dem Versuche, den von der Fülle der modernen
Machtmittel umgebnen Thron zu stürzen. Rein äußerlich betrachtet, hat
das deutsche Volk auch nicht ein einziges Machtmittel in der Hand, eine Ver¬
gewaltigung seiner Vertreter oder eine Beschneidung seiner politischen Rechte
schon im voraus zu verhindern. Einzig und allein das Vertrauen darauf,
daß es offenkundiger verfasfungsfeindlichen Bestrebungen niemals gelingen
werde, sich an der Stelle zur Geltung zu bringen, wo Macht und Wille ver¬
einigt sind, verschafft den Deutschen den ruhigen Genuß des staatsbürgerlichen
Daseins. Dieses Vertrauen besteht noch. Wie lange es noch standhalten wird,
wenn die Mirbach und Pfeil laut und offen fortfahren dürfen, mit dem leichten
Herzen eines Emile Ollivier die gewaltsame Beseitigung des allgemeinen Wahl¬
rechts zu fordern, wenn offiziöse Zeitungen beginnen, mit der seit den Stuarts
berüchtigten Theorie vom „Staatsnotrecht" zu liebäugeln, wagen wir nicht zu
sagen. Es ist tief zu bedauern, daß die hochgestimmten Worte eines kraft¬
vollen Herrschers, deren sich die Deutschen eigentlich von Herzen hätten freuen
sollen, fast jedesmal schmerzliche Mißdeutungen erfahren haben. Ein Huos
des Kaisers an jene aufdringlichen Freunde und nngerufnen Ratgeber
würde im ganzen Reiche als eine erlösende That einPfunden werden.

Wir haben keinen Grund, uns theoretisch für das allgemeine Wahlrecht
zu begeistern. Der Vorzug, das am wenigsten schlechte zu sein, ist schon eine
vollauf genügende Rechtfertigung. Halten wir uns lieber an die Thatsache,
daß Deutschland unter dem allgemeinen Wahlrecht einen Krieg begonnen und
siegreich durchgeführt hat, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hatte, daß es
unter demselben Wahlrecht den fast tausendjährigen Traum von der nationalen
Einigung Deutschlands verwirklicht, daß es die unselige Stammeseifersucht so
gut wie völlig überwunden, daß es sich Gesetze gegeben hat, denen man doch
wahrhaftig keine schwächlichen demokratischen Züge nachsagen kann, daß es,
zweimal zur Stärkung der nationalen Wehrkraft angerufen, beidemale nicht
versagt hat. Das allgemeine Wahlrecht wird auch künftig das Mittel sein,
starken nationalen Empfindungen, wenn sie erst zum Gemeingut der Deutschen
geworden sind, den echtesten und unwiderstehlichsten Ausdruck zu geben. Der
Wert einer solchen Kundgebung, ausgehend von einem in allen Gliedern wahl¬
berechtigten und zugleich wehrpflichtigen Volke, kann gar nicht überschützt
werden, wenn es sich darum handeln wird, die ganze Kraft der Nation


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[0011] Politische Zeitbetrachtungen leim nicht weiter fortfahren, Waffer auf ihre morschen Mühlen zu leiten, je¬ mals diese Macht erreichen. Weit eher ist die Macht, den heute in Deutschland geltenden Verfasfungs- zustand über den Haufen zu werfen — auf wie lange und mit welchen schlie߬ lichen Folgen für die Urheber eines Staatsstreichs, brauchen wir hier nicht zu untersuchen —, auf der Gegenseite vorhanden. Rein äußerlich betrachtet, wäre ja das Unternehmen, den deutschen Reichstag auseinanderzujagen, ein Kinderspiel im Vergleich mit dem Versuche, den von der Fülle der modernen Machtmittel umgebnen Thron zu stürzen. Rein äußerlich betrachtet, hat das deutsche Volk auch nicht ein einziges Machtmittel in der Hand, eine Ver¬ gewaltigung seiner Vertreter oder eine Beschneidung seiner politischen Rechte schon im voraus zu verhindern. Einzig und allein das Vertrauen darauf, daß es offenkundiger verfasfungsfeindlichen Bestrebungen niemals gelingen werde, sich an der Stelle zur Geltung zu bringen, wo Macht und Wille ver¬ einigt sind, verschafft den Deutschen den ruhigen Genuß des staatsbürgerlichen Daseins. Dieses Vertrauen besteht noch. Wie lange es noch standhalten wird, wenn die Mirbach und Pfeil laut und offen fortfahren dürfen, mit dem leichten Herzen eines Emile Ollivier die gewaltsame Beseitigung des allgemeinen Wahl¬ rechts zu fordern, wenn offiziöse Zeitungen beginnen, mit der seit den Stuarts berüchtigten Theorie vom „Staatsnotrecht" zu liebäugeln, wagen wir nicht zu sagen. Es ist tief zu bedauern, daß die hochgestimmten Worte eines kraft¬ vollen Herrschers, deren sich die Deutschen eigentlich von Herzen hätten freuen sollen, fast jedesmal schmerzliche Mißdeutungen erfahren haben. Ein Huos des Kaisers an jene aufdringlichen Freunde und nngerufnen Ratgeber würde im ganzen Reiche als eine erlösende That einPfunden werden. Wir haben keinen Grund, uns theoretisch für das allgemeine Wahlrecht zu begeistern. Der Vorzug, das am wenigsten schlechte zu sein, ist schon eine vollauf genügende Rechtfertigung. Halten wir uns lieber an die Thatsache, daß Deutschland unter dem allgemeinen Wahlrecht einen Krieg begonnen und siegreich durchgeführt hat, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hatte, daß es unter demselben Wahlrecht den fast tausendjährigen Traum von der nationalen Einigung Deutschlands verwirklicht, daß es die unselige Stammeseifersucht so gut wie völlig überwunden, daß es sich Gesetze gegeben hat, denen man doch wahrhaftig keine schwächlichen demokratischen Züge nachsagen kann, daß es, zweimal zur Stärkung der nationalen Wehrkraft angerufen, beidemale nicht versagt hat. Das allgemeine Wahlrecht wird auch künftig das Mittel sein, starken nationalen Empfindungen, wenn sie erst zum Gemeingut der Deutschen geworden sind, den echtesten und unwiderstehlichsten Ausdruck zu geben. Der Wert einer solchen Kundgebung, ausgehend von einem in allen Gliedern wahl¬ berechtigten und zugleich wehrpflichtigen Volke, kann gar nicht überschützt werden, wenn es sich darum handeln wird, die ganze Kraft der Nation

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/11>, abgerufen am 01.07.2024.