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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Zur Kenntnis der englischen Weltpolitik

Eindruck des Lächerlichen, einen Staatsmann wie Rawlinson von den "un¬
glücklichen" Turkmenen reden und genau unterscheiden zu hören, wann Ru߬
land zu ihrer Bestrafung berechtigt gewesen sei, und wann nicht. Das tugend¬
hafte England will seine Hand über die grausamsten Menschenrüuber Jnner-
asiens halten! Kapitän Napier glaubte aber schon 1875 beobachtet zu haben,
daß die Aufhebung der Sklavenmärkte in Chiwa und Vochara die Telle von
Achat und Merw dem Ackerbau geneigter gemacht hätten, und niemand zweifelt
heute, daß es Nußland mit seiner Kulturmission dort sehr ernst nimmt und
schöne Erfolge erzielt hat. England hatte keinen Funken von Recht zu der
Forderung, die es erhob.

Und so sind alle die seither aufgewandten Bemühungen, Rußland min¬
destens noch an der Nordseite des Hindukusch und des Pamir festzuhalten,
ohne formellen Rechtsgrund und ohne ein Recht, das aus den Thatsachen
flösse, aufgewandt worden. Ihr wahrer Grund liegt in der Unsicherheit der
englischen Stellung in Indien, die schon die Wirkung aus der Ferne eines
sich nähernden möglichen Feindes verhüten will. Die einzelnen Briten mögen
Muster von Mut sein, als Besitzer von Indien machen sie in oorxors eine
Politik der Verzagtheit und des nervösen Erschreckens. Das ist klar von dem
Tage an, wo sie unter der wahnsinnigen Drohung Napoleons, dnrch Persien
nach Indien zu marschieren, die festern Beziehungen zu Persien anknüpften,
die sich später auf Afghanistan übertrugen. Das werden nun bald hundert
Jahre. Das übrige Europa hat sich, seitdem 1800 Malcolm nach Persien
ging, mindestens schon ein dutzend mal in diesen Alarm mit hineinreden und
hineinschreiben lassen, England hat sogar jederzeit Verteidigung seiner Inter¬
essen in Deutschland und Österreich, manchmal selbst in Frankreich gefunden.
Aber mit der Zeit hat es doch abkühlend auf die unbeteiligten Beobachter ge¬
wirkt, daß es nach jedem dieser Anfülle von übertriebnen Forderungen an
Rußland zurückwich, indem es sich ein weiteres Stück des Landes zwischen den
russischen und seinen eignen Besitzungen aneignete. Niemand wird glauben,
daß England am Fuße des Himalaya stehen geblieben wäre, wenn Nußland
uicht über den Kaspisee und die Kirghisensteppe hinausgegangen wäre. Un¬
bequem war ihm nur, daß es sich seine Gelegenheiten zum Vorgehen nach
Norden nicht wählen konnte, sondern gezwungen war, in ziemlich kurzen
Absätzen vom Himalaya bis über deu Karcckorum vorzurücken. 1839 hat
es zum erstenmale in kriegerischer Absicht die Grenze Afghanistans überschritten,
heute steht es schon jenseits der Jnduswasserscheide, und als Nordgrenze In¬
diens wird in der Westhälfte uicht mehr der Himalaya, sondern der Kuenlün
anzusehen sein. Man begreift das Zaudern der Politiker des Julin (Mos,
sich rasch in diesen Hochländern auszubreiten, wenn man bedenkt, daß es sich
hier, nicht wie im eigentlichen Indien, um leicht niederzuhaltende Hindu,
sondern um kriegerische Stämme handelt, die als fanatische Muselmänner nie


Zur Kenntnis der englischen Weltpolitik

Eindruck des Lächerlichen, einen Staatsmann wie Rawlinson von den „un¬
glücklichen" Turkmenen reden und genau unterscheiden zu hören, wann Ru߬
land zu ihrer Bestrafung berechtigt gewesen sei, und wann nicht. Das tugend¬
hafte England will seine Hand über die grausamsten Menschenrüuber Jnner-
asiens halten! Kapitän Napier glaubte aber schon 1875 beobachtet zu haben,
daß die Aufhebung der Sklavenmärkte in Chiwa und Vochara die Telle von
Achat und Merw dem Ackerbau geneigter gemacht hätten, und niemand zweifelt
heute, daß es Nußland mit seiner Kulturmission dort sehr ernst nimmt und
schöne Erfolge erzielt hat. England hatte keinen Funken von Recht zu der
Forderung, die es erhob.

Und so sind alle die seither aufgewandten Bemühungen, Rußland min¬
destens noch an der Nordseite des Hindukusch und des Pamir festzuhalten,
ohne formellen Rechtsgrund und ohne ein Recht, das aus den Thatsachen
flösse, aufgewandt worden. Ihr wahrer Grund liegt in der Unsicherheit der
englischen Stellung in Indien, die schon die Wirkung aus der Ferne eines
sich nähernden möglichen Feindes verhüten will. Die einzelnen Briten mögen
Muster von Mut sein, als Besitzer von Indien machen sie in oorxors eine
Politik der Verzagtheit und des nervösen Erschreckens. Das ist klar von dem
Tage an, wo sie unter der wahnsinnigen Drohung Napoleons, dnrch Persien
nach Indien zu marschieren, die festern Beziehungen zu Persien anknüpften,
die sich später auf Afghanistan übertrugen. Das werden nun bald hundert
Jahre. Das übrige Europa hat sich, seitdem 1800 Malcolm nach Persien
ging, mindestens schon ein dutzend mal in diesen Alarm mit hineinreden und
hineinschreiben lassen, England hat sogar jederzeit Verteidigung seiner Inter¬
essen in Deutschland und Österreich, manchmal selbst in Frankreich gefunden.
Aber mit der Zeit hat es doch abkühlend auf die unbeteiligten Beobachter ge¬
wirkt, daß es nach jedem dieser Anfülle von übertriebnen Forderungen an
Rußland zurückwich, indem es sich ein weiteres Stück des Landes zwischen den
russischen und seinen eignen Besitzungen aneignete. Niemand wird glauben,
daß England am Fuße des Himalaya stehen geblieben wäre, wenn Nußland
uicht über den Kaspisee und die Kirghisensteppe hinausgegangen wäre. Un¬
bequem war ihm nur, daß es sich seine Gelegenheiten zum Vorgehen nach
Norden nicht wählen konnte, sondern gezwungen war, in ziemlich kurzen
Absätzen vom Himalaya bis über deu Karcckorum vorzurücken. 1839 hat
es zum erstenmale in kriegerischer Absicht die Grenze Afghanistans überschritten,
heute steht es schon jenseits der Jnduswasserscheide, und als Nordgrenze In¬
diens wird in der Westhälfte uicht mehr der Himalaya, sondern der Kuenlün
anzusehen sein. Man begreift das Zaudern der Politiker des Julin (Mos,
sich rasch in diesen Hochländern auszubreiten, wenn man bedenkt, daß es sich
hier, nicht wie im eigentlichen Indien, um leicht niederzuhaltende Hindu,
sondern um kriegerische Stämme handelt, die als fanatische Muselmänner nie


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[0115] Zur Kenntnis der englischen Weltpolitik Eindruck des Lächerlichen, einen Staatsmann wie Rawlinson von den „un¬ glücklichen" Turkmenen reden und genau unterscheiden zu hören, wann Ru߬ land zu ihrer Bestrafung berechtigt gewesen sei, und wann nicht. Das tugend¬ hafte England will seine Hand über die grausamsten Menschenrüuber Jnner- asiens halten! Kapitän Napier glaubte aber schon 1875 beobachtet zu haben, daß die Aufhebung der Sklavenmärkte in Chiwa und Vochara die Telle von Achat und Merw dem Ackerbau geneigter gemacht hätten, und niemand zweifelt heute, daß es Nußland mit seiner Kulturmission dort sehr ernst nimmt und schöne Erfolge erzielt hat. England hatte keinen Funken von Recht zu der Forderung, die es erhob. Und so sind alle die seither aufgewandten Bemühungen, Rußland min¬ destens noch an der Nordseite des Hindukusch und des Pamir festzuhalten, ohne formellen Rechtsgrund und ohne ein Recht, das aus den Thatsachen flösse, aufgewandt worden. Ihr wahrer Grund liegt in der Unsicherheit der englischen Stellung in Indien, die schon die Wirkung aus der Ferne eines sich nähernden möglichen Feindes verhüten will. Die einzelnen Briten mögen Muster von Mut sein, als Besitzer von Indien machen sie in oorxors eine Politik der Verzagtheit und des nervösen Erschreckens. Das ist klar von dem Tage an, wo sie unter der wahnsinnigen Drohung Napoleons, dnrch Persien nach Indien zu marschieren, die festern Beziehungen zu Persien anknüpften, die sich später auf Afghanistan übertrugen. Das werden nun bald hundert Jahre. Das übrige Europa hat sich, seitdem 1800 Malcolm nach Persien ging, mindestens schon ein dutzend mal in diesen Alarm mit hineinreden und hineinschreiben lassen, England hat sogar jederzeit Verteidigung seiner Inter¬ essen in Deutschland und Österreich, manchmal selbst in Frankreich gefunden. Aber mit der Zeit hat es doch abkühlend auf die unbeteiligten Beobachter ge¬ wirkt, daß es nach jedem dieser Anfülle von übertriebnen Forderungen an Rußland zurückwich, indem es sich ein weiteres Stück des Landes zwischen den russischen und seinen eignen Besitzungen aneignete. Niemand wird glauben, daß England am Fuße des Himalaya stehen geblieben wäre, wenn Nußland uicht über den Kaspisee und die Kirghisensteppe hinausgegangen wäre. Un¬ bequem war ihm nur, daß es sich seine Gelegenheiten zum Vorgehen nach Norden nicht wählen konnte, sondern gezwungen war, in ziemlich kurzen Absätzen vom Himalaya bis über deu Karcckorum vorzurücken. 1839 hat es zum erstenmale in kriegerischer Absicht die Grenze Afghanistans überschritten, heute steht es schon jenseits der Jnduswasserscheide, und als Nordgrenze In¬ diens wird in der Westhälfte uicht mehr der Himalaya, sondern der Kuenlün anzusehen sein. Man begreift das Zaudern der Politiker des Julin (Mos, sich rasch in diesen Hochländern auszubreiten, wenn man bedenkt, daß es sich hier, nicht wie im eigentlichen Indien, um leicht niederzuhaltende Hindu, sondern um kriegerische Stämme handelt, die als fanatische Muselmänner nie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/115>, abgerufen am 01.07.2024.