Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Zur Kenntnis der englischen Weltpolitik

Englands Freunde sein werden. Vor dreißig Jahren erstreckte sich der eng¬
lische Einfluß kaum über die Ebnen des Pendschab nach Norden. Unmittelbar
an ihren Bergrändern waren einige Gebirgsstationen besetzt, Kaschmir wurde
gelegentlich von einem politischen Beamten besucht, Ladak und Baltistan, die
von Norden wegen sehr hoher Gebirgsschrankeu schwer erreichbar sind, waren
fast unbekannt, und auch von den wegen ihrer von Norden hereinführenden
Wege viel wichtigern westlichen Gebieten Gilgit, Tschitral, Nagar und Hunsa
wurde damals kaum gesprochen. Hunsa und Nagar werden jetzt von Kaschmir¬
truppen unter einem englischen Offizier gehalten, in Tschitral stehen außer
Kaschmirtruppen indische Truppen als Bedeckung des englischen Beamten,
die jetzt sehr beträchtlich verstärkt werden, und in Gilgit hat ein britischer
Resident die Oberleitung in den Händen.


2

Das ganze zwischen fünf bis sechs Parallelgraden liegende Land zwischen
Indien und dem russischen Turkestan ist vom Indus bis zum Oxus ein ein¬
ziges Hochland, an dessen Südrand sich der westliche Himalaya und an dessen
Nordrand sich der Kuenlün erhebt, die zusammen mit den von Westen her¬
ziehenden Ketten des Hindukusch sich in dem Hochlande des Pamir gleichsam
verschmelzen. Durch die Südränder brechen sich in tiefen Thälern die Jndus-
zuflüsse Bahn, aber im Innern erstrecken sich zwischen den Gebirgsketten weite,
wellige Steppenebnen, in deren oasenartigen Thälern und Becken kriegerische
Völkchen iranischen Stammes mit türkisch-mongolischer Mischung wohnen. Ihnen
ist in ihren Felsenöden schwer beizukommen. Die Erfahrungen in dem kürzen
Feldzuge nach Tschitral im vergangnen Frühjahr legten zuerst den Gedanken
nahe, sich das unwegsame Gebirgsland als Grenzland zu befreunden, aber
keine Wege dahin zu bauen, die einem Feinde zu gute kommen könnten. In
der That haben diese Landschaften zwischen dem 34. und dem 37. Grade nörd¬
licher Breite an sich nur einen geringen Wert, wenn man eben davon absieht,
daß sie als Hindernis einer Annäherung an Indien unter Umständen un¬
schätzbar werden könnten. Gegen den Vormarsch der Russen nach Indien, der
durch diesen Streifen führen müßte, werden nur hohle, von wahrheitsscheuer
Furcht eingegebne Gründe angeführt. Was Alexander von Macedonien fertig
brachte, wird einem russischen General, der die Eisenbahn bis Samarkand in
der Hand hat, nicht unmöglich sein. Der unsinnige Glaube, daß Rußland
die Steppen und Hochgebirge Zentralasiens auf seinem Wege nach Indien
nicht überschreiten werde, führte zu dem unbelästigten Vordringen der Russen
nach Kabul (1878) und der darauf folgenden grausamen Enttäuschung
Englands. Stoljetow machte diesen Weg mit einer Eskorte, die ebenso
gut als Spitze einer Armee genommen werden konnte, und meinte, eine
kleine Kosakenarmee mit reitenden Batterien würde in vierzehn Tagen in Kabul


Zur Kenntnis der englischen Weltpolitik

Englands Freunde sein werden. Vor dreißig Jahren erstreckte sich der eng¬
lische Einfluß kaum über die Ebnen des Pendschab nach Norden. Unmittelbar
an ihren Bergrändern waren einige Gebirgsstationen besetzt, Kaschmir wurde
gelegentlich von einem politischen Beamten besucht, Ladak und Baltistan, die
von Norden wegen sehr hoher Gebirgsschrankeu schwer erreichbar sind, waren
fast unbekannt, und auch von den wegen ihrer von Norden hereinführenden
Wege viel wichtigern westlichen Gebieten Gilgit, Tschitral, Nagar und Hunsa
wurde damals kaum gesprochen. Hunsa und Nagar werden jetzt von Kaschmir¬
truppen unter einem englischen Offizier gehalten, in Tschitral stehen außer
Kaschmirtruppen indische Truppen als Bedeckung des englischen Beamten,
die jetzt sehr beträchtlich verstärkt werden, und in Gilgit hat ein britischer
Resident die Oberleitung in den Händen.


2

Das ganze zwischen fünf bis sechs Parallelgraden liegende Land zwischen
Indien und dem russischen Turkestan ist vom Indus bis zum Oxus ein ein¬
ziges Hochland, an dessen Südrand sich der westliche Himalaya und an dessen
Nordrand sich der Kuenlün erhebt, die zusammen mit den von Westen her¬
ziehenden Ketten des Hindukusch sich in dem Hochlande des Pamir gleichsam
verschmelzen. Durch die Südränder brechen sich in tiefen Thälern die Jndus-
zuflüsse Bahn, aber im Innern erstrecken sich zwischen den Gebirgsketten weite,
wellige Steppenebnen, in deren oasenartigen Thälern und Becken kriegerische
Völkchen iranischen Stammes mit türkisch-mongolischer Mischung wohnen. Ihnen
ist in ihren Felsenöden schwer beizukommen. Die Erfahrungen in dem kürzen
Feldzuge nach Tschitral im vergangnen Frühjahr legten zuerst den Gedanken
nahe, sich das unwegsame Gebirgsland als Grenzland zu befreunden, aber
keine Wege dahin zu bauen, die einem Feinde zu gute kommen könnten. In
der That haben diese Landschaften zwischen dem 34. und dem 37. Grade nörd¬
licher Breite an sich nur einen geringen Wert, wenn man eben davon absieht,
daß sie als Hindernis einer Annäherung an Indien unter Umständen un¬
schätzbar werden könnten. Gegen den Vormarsch der Russen nach Indien, der
durch diesen Streifen führen müßte, werden nur hohle, von wahrheitsscheuer
Furcht eingegebne Gründe angeführt. Was Alexander von Macedonien fertig
brachte, wird einem russischen General, der die Eisenbahn bis Samarkand in
der Hand hat, nicht unmöglich sein. Der unsinnige Glaube, daß Rußland
die Steppen und Hochgebirge Zentralasiens auf seinem Wege nach Indien
nicht überschreiten werde, führte zu dem unbelästigten Vordringen der Russen
nach Kabul (1878) und der darauf folgenden grausamen Enttäuschung
Englands. Stoljetow machte diesen Weg mit einer Eskorte, die ebenso
gut als Spitze einer Armee genommen werden konnte, und meinte, eine
kleine Kosakenarmee mit reitenden Batterien würde in vierzehn Tagen in Kabul


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0116" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/221092"/>
            <fw type="header" place="top"> Zur Kenntnis der englischen Weltpolitik</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_379" prev="#ID_378"> Englands Freunde sein werden. Vor dreißig Jahren erstreckte sich der eng¬<lb/>
lische Einfluß kaum über die Ebnen des Pendschab nach Norden. Unmittelbar<lb/>
an ihren Bergrändern waren einige Gebirgsstationen besetzt, Kaschmir wurde<lb/>
gelegentlich von einem politischen Beamten besucht, Ladak und Baltistan, die<lb/>
von Norden wegen sehr hoher Gebirgsschrankeu schwer erreichbar sind, waren<lb/>
fast unbekannt, und auch von den wegen ihrer von Norden hereinführenden<lb/>
Wege viel wichtigern westlichen Gebieten Gilgit, Tschitral, Nagar und Hunsa<lb/>
wurde damals kaum gesprochen. Hunsa und Nagar werden jetzt von Kaschmir¬<lb/>
truppen unter einem englischen Offizier gehalten, in Tschitral stehen außer<lb/>
Kaschmirtruppen indische Truppen als Bedeckung des englischen Beamten,<lb/>
die jetzt sehr beträchtlich verstärkt werden, und in Gilgit hat ein britischer<lb/>
Resident die Oberleitung in den Händen.</p><lb/>
          </div>
          <div n="2">
            <head> 2</head><lb/>
            <p xml:id="ID_380" next="#ID_381"> Das ganze zwischen fünf bis sechs Parallelgraden liegende Land zwischen<lb/>
Indien und dem russischen Turkestan ist vom Indus bis zum Oxus ein ein¬<lb/>
ziges Hochland, an dessen Südrand sich der westliche Himalaya und an dessen<lb/>
Nordrand sich der Kuenlün erhebt, die zusammen mit den von Westen her¬<lb/>
ziehenden Ketten des Hindukusch sich in dem Hochlande des Pamir gleichsam<lb/>
verschmelzen. Durch die Südränder brechen sich in tiefen Thälern die Jndus-<lb/>
zuflüsse Bahn, aber im Innern erstrecken sich zwischen den Gebirgsketten weite,<lb/>
wellige Steppenebnen, in deren oasenartigen Thälern und Becken kriegerische<lb/>
Völkchen iranischen Stammes mit türkisch-mongolischer Mischung wohnen. Ihnen<lb/>
ist in ihren Felsenöden schwer beizukommen. Die Erfahrungen in dem kürzen<lb/>
Feldzuge nach Tschitral im vergangnen Frühjahr legten zuerst den Gedanken<lb/>
nahe, sich das unwegsame Gebirgsland als Grenzland zu befreunden, aber<lb/>
keine Wege dahin zu bauen, die einem Feinde zu gute kommen könnten. In<lb/>
der That haben diese Landschaften zwischen dem 34. und dem 37. Grade nörd¬<lb/>
licher Breite an sich nur einen geringen Wert, wenn man eben davon absieht,<lb/>
daß sie als Hindernis einer Annäherung an Indien unter Umständen un¬<lb/>
schätzbar werden könnten. Gegen den Vormarsch der Russen nach Indien, der<lb/>
durch diesen Streifen führen müßte, werden nur hohle, von wahrheitsscheuer<lb/>
Furcht eingegebne Gründe angeführt. Was Alexander von Macedonien fertig<lb/>
brachte, wird einem russischen General, der die Eisenbahn bis Samarkand in<lb/>
der Hand hat, nicht unmöglich sein. Der unsinnige Glaube, daß Rußland<lb/>
die Steppen und Hochgebirge Zentralasiens auf seinem Wege nach Indien<lb/>
nicht überschreiten werde, führte zu dem unbelästigten Vordringen der Russen<lb/>
nach Kabul (1878) und der darauf folgenden grausamen Enttäuschung<lb/>
Englands. Stoljetow machte diesen Weg mit einer Eskorte, die ebenso<lb/>
gut als Spitze einer Armee genommen werden konnte, und meinte, eine<lb/>
kleine Kosakenarmee mit reitenden Batterien würde in vierzehn Tagen in Kabul</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0116] Zur Kenntnis der englischen Weltpolitik Englands Freunde sein werden. Vor dreißig Jahren erstreckte sich der eng¬ lische Einfluß kaum über die Ebnen des Pendschab nach Norden. Unmittelbar an ihren Bergrändern waren einige Gebirgsstationen besetzt, Kaschmir wurde gelegentlich von einem politischen Beamten besucht, Ladak und Baltistan, die von Norden wegen sehr hoher Gebirgsschrankeu schwer erreichbar sind, waren fast unbekannt, und auch von den wegen ihrer von Norden hereinführenden Wege viel wichtigern westlichen Gebieten Gilgit, Tschitral, Nagar und Hunsa wurde damals kaum gesprochen. Hunsa und Nagar werden jetzt von Kaschmir¬ truppen unter einem englischen Offizier gehalten, in Tschitral stehen außer Kaschmirtruppen indische Truppen als Bedeckung des englischen Beamten, die jetzt sehr beträchtlich verstärkt werden, und in Gilgit hat ein britischer Resident die Oberleitung in den Händen. 2 Das ganze zwischen fünf bis sechs Parallelgraden liegende Land zwischen Indien und dem russischen Turkestan ist vom Indus bis zum Oxus ein ein¬ ziges Hochland, an dessen Südrand sich der westliche Himalaya und an dessen Nordrand sich der Kuenlün erhebt, die zusammen mit den von Westen her¬ ziehenden Ketten des Hindukusch sich in dem Hochlande des Pamir gleichsam verschmelzen. Durch die Südränder brechen sich in tiefen Thälern die Jndus- zuflüsse Bahn, aber im Innern erstrecken sich zwischen den Gebirgsketten weite, wellige Steppenebnen, in deren oasenartigen Thälern und Becken kriegerische Völkchen iranischen Stammes mit türkisch-mongolischer Mischung wohnen. Ihnen ist in ihren Felsenöden schwer beizukommen. Die Erfahrungen in dem kürzen Feldzuge nach Tschitral im vergangnen Frühjahr legten zuerst den Gedanken nahe, sich das unwegsame Gebirgsland als Grenzland zu befreunden, aber keine Wege dahin zu bauen, die einem Feinde zu gute kommen könnten. In der That haben diese Landschaften zwischen dem 34. und dem 37. Grade nörd¬ licher Breite an sich nur einen geringen Wert, wenn man eben davon absieht, daß sie als Hindernis einer Annäherung an Indien unter Umständen un¬ schätzbar werden könnten. Gegen den Vormarsch der Russen nach Indien, der durch diesen Streifen führen müßte, werden nur hohle, von wahrheitsscheuer Furcht eingegebne Gründe angeführt. Was Alexander von Macedonien fertig brachte, wird einem russischen General, der die Eisenbahn bis Samarkand in der Hand hat, nicht unmöglich sein. Der unsinnige Glaube, daß Rußland die Steppen und Hochgebirge Zentralasiens auf seinem Wege nach Indien nicht überschreiten werde, führte zu dem unbelästigten Vordringen der Russen nach Kabul (1878) und der darauf folgenden grausamen Enttäuschung Englands. Stoljetow machte diesen Weg mit einer Eskorte, die ebenso gut als Spitze einer Armee genommen werden konnte, und meinte, eine kleine Kosakenarmee mit reitenden Batterien würde in vierzehn Tagen in Kabul

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/116
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/116>, abgerufen am 04.07.2024.