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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Zur Aenntnis der englischen Weltpolitik

Pamirfrage immer nur die eine, jeweilige; doch waren und sind das nur
Wandlungen in demselben Prozeß. Er danert von dem ersten persischen
.Kriege Rußlands (1812) bis heute und wird auch noch lange nicht aufhören.
Der Gegenstand, die Parteien, die Gründe und Gegengründe sind immer gleich,
selbst die Methoden des Vorgehens sind es. -Wenn sich ein neuer Abschnitt
dieser großen Aktion aufthut, kann der Kenner der Vorgänge mit großer Sicher¬
heit ihren Verlauf und Abschluß vorhersehen. Wer alte und neue Akten
darüber durchblättert, erstaunt über die Einförmigkeit der Wiederholung und
die Einfachheit des Motivs. Nußland dringt auf seinen zwei von der Natur
gewiesenen Wegen, dem Kaspisee und dem Oxus, nach Süden, um sich aus
der unfruchtbaren Steppen Umarmung zu befreien; England wird in Indien,
wo es auf einen kontinentalen Angriff nicht gefaßt ist, aufgeschreckt und sucht
seine Nordgrenze zu verbessern, indem es sie wider Willen immer weiter vor¬
schiebt. Es wird gewissermaßen aus seinen Schanzen herausgelockt. England
will Nußland beim 41. Grad nördlicher Breite festhalten, muß es aber am
35. Grad ankommen sehen. Endlich bleiben zwischen beiden noch Persien
und Afghanistan, West- und Ostiran übrig. Persien ist sür England ver¬
loren, und es sammelt nun alle seine Anstrengungen darauf, Afghanistan als
Puffer unter seinen Einfluß und Nußland vom Hindukusch fern zu halten.

Darf man heute uoch Englands Verhalten gegenüber dem Zug nach Chiwa
in die Erinnerung zurückrufen? Nachdem Nußland am Kaspisee und in Tur-
kestan das an der Einmündung des Oxus in den Aralsee gelegne Chiwa über¬
flügelt und von Norden her seine Grenze an den Aralsee vorgeschoben hatte,
war die Sicherung seines Einflusses in Chiwa ein Gebot der Notwendigkeit
geworden. Die Vorschiebung seiner Grenze am Ostufer des Kaspisees bis zum
Atrek und die Züchtigung der räuberischen Turkmenen in dem Hinterkante
dieser Uferlinie gaben dazu einen natürlichen und nicht zu vermeidenden Anlaß.
In beiden Fällen hätte nur Persien Einspruch erheben können, das aber kein
Land nördlich vom Atrek beanspruchte und sich der Turkmenen selber nicht er¬
wehren, geschweige denn sie zur Ordnung zwingen konnte. Dennoch erhob
England seine Stimme und verlangte, Nußland sollte stehen bleiben. Es wurde
sogar die bei dem schlechten Zustande der Geographie dieser Gegenden gar nicht
zu begründende Forderung gestellt, Nußland sollte den Oxus als Grenze an¬
erkennen. Und Chiwa liegt fast zehn Parallelgrade von Peschauer! Von einer
Macht, die ihren Einfluß über ganz Persien und Afghanistan auszudehnen
strebte und in Kaschgar und Jarkcmd am Südfuße des Tianschan öffentlich
wühlte, war eine solche Forderung einfach unverschämt. Sie wurde daher von
Rußland ruhig beiseite gesetzt, Rußland führte 1873 den schon 1839 unter-
nommnen Marsch nach Chiwa ruhig aus und setzte den menschenräuberischen
Usbegeufürsteu zum Satrapen herab, indem es sich den englischen Klagen
gegenüber auf sein Recht berief, Grenzpolizei zu üben. Heute macht es den


Zur Aenntnis der englischen Weltpolitik

Pamirfrage immer nur die eine, jeweilige; doch waren und sind das nur
Wandlungen in demselben Prozeß. Er danert von dem ersten persischen
.Kriege Rußlands (1812) bis heute und wird auch noch lange nicht aufhören.
Der Gegenstand, die Parteien, die Gründe und Gegengründe sind immer gleich,
selbst die Methoden des Vorgehens sind es. -Wenn sich ein neuer Abschnitt
dieser großen Aktion aufthut, kann der Kenner der Vorgänge mit großer Sicher¬
heit ihren Verlauf und Abschluß vorhersehen. Wer alte und neue Akten
darüber durchblättert, erstaunt über die Einförmigkeit der Wiederholung und
die Einfachheit des Motivs. Nußland dringt auf seinen zwei von der Natur
gewiesenen Wegen, dem Kaspisee und dem Oxus, nach Süden, um sich aus
der unfruchtbaren Steppen Umarmung zu befreien; England wird in Indien,
wo es auf einen kontinentalen Angriff nicht gefaßt ist, aufgeschreckt und sucht
seine Nordgrenze zu verbessern, indem es sie wider Willen immer weiter vor¬
schiebt. Es wird gewissermaßen aus seinen Schanzen herausgelockt. England
will Nußland beim 41. Grad nördlicher Breite festhalten, muß es aber am
35. Grad ankommen sehen. Endlich bleiben zwischen beiden noch Persien
und Afghanistan, West- und Ostiran übrig. Persien ist sür England ver¬
loren, und es sammelt nun alle seine Anstrengungen darauf, Afghanistan als
Puffer unter seinen Einfluß und Nußland vom Hindukusch fern zu halten.

Darf man heute uoch Englands Verhalten gegenüber dem Zug nach Chiwa
in die Erinnerung zurückrufen? Nachdem Nußland am Kaspisee und in Tur-
kestan das an der Einmündung des Oxus in den Aralsee gelegne Chiwa über¬
flügelt und von Norden her seine Grenze an den Aralsee vorgeschoben hatte,
war die Sicherung seines Einflusses in Chiwa ein Gebot der Notwendigkeit
geworden. Die Vorschiebung seiner Grenze am Ostufer des Kaspisees bis zum
Atrek und die Züchtigung der räuberischen Turkmenen in dem Hinterkante
dieser Uferlinie gaben dazu einen natürlichen und nicht zu vermeidenden Anlaß.
In beiden Fällen hätte nur Persien Einspruch erheben können, das aber kein
Land nördlich vom Atrek beanspruchte und sich der Turkmenen selber nicht er¬
wehren, geschweige denn sie zur Ordnung zwingen konnte. Dennoch erhob
England seine Stimme und verlangte, Nußland sollte stehen bleiben. Es wurde
sogar die bei dem schlechten Zustande der Geographie dieser Gegenden gar nicht
zu begründende Forderung gestellt, Nußland sollte den Oxus als Grenze an¬
erkennen. Und Chiwa liegt fast zehn Parallelgrade von Peschauer! Von einer
Macht, die ihren Einfluß über ganz Persien und Afghanistan auszudehnen
strebte und in Kaschgar und Jarkcmd am Südfuße des Tianschan öffentlich
wühlte, war eine solche Forderung einfach unverschämt. Sie wurde daher von
Rußland ruhig beiseite gesetzt, Rußland führte 1873 den schon 1839 unter-
nommnen Marsch nach Chiwa ruhig aus und setzte den menschenräuberischen
Usbegeufürsteu zum Satrapen herab, indem es sich den englischen Klagen
gegenüber auf sein Recht berief, Grenzpolizei zu üben. Heute macht es den


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[0114] Zur Aenntnis der englischen Weltpolitik Pamirfrage immer nur die eine, jeweilige; doch waren und sind das nur Wandlungen in demselben Prozeß. Er danert von dem ersten persischen .Kriege Rußlands (1812) bis heute und wird auch noch lange nicht aufhören. Der Gegenstand, die Parteien, die Gründe und Gegengründe sind immer gleich, selbst die Methoden des Vorgehens sind es. -Wenn sich ein neuer Abschnitt dieser großen Aktion aufthut, kann der Kenner der Vorgänge mit großer Sicher¬ heit ihren Verlauf und Abschluß vorhersehen. Wer alte und neue Akten darüber durchblättert, erstaunt über die Einförmigkeit der Wiederholung und die Einfachheit des Motivs. Nußland dringt auf seinen zwei von der Natur gewiesenen Wegen, dem Kaspisee und dem Oxus, nach Süden, um sich aus der unfruchtbaren Steppen Umarmung zu befreien; England wird in Indien, wo es auf einen kontinentalen Angriff nicht gefaßt ist, aufgeschreckt und sucht seine Nordgrenze zu verbessern, indem es sie wider Willen immer weiter vor¬ schiebt. Es wird gewissermaßen aus seinen Schanzen herausgelockt. England will Nußland beim 41. Grad nördlicher Breite festhalten, muß es aber am 35. Grad ankommen sehen. Endlich bleiben zwischen beiden noch Persien und Afghanistan, West- und Ostiran übrig. Persien ist sür England ver¬ loren, und es sammelt nun alle seine Anstrengungen darauf, Afghanistan als Puffer unter seinen Einfluß und Nußland vom Hindukusch fern zu halten. Darf man heute uoch Englands Verhalten gegenüber dem Zug nach Chiwa in die Erinnerung zurückrufen? Nachdem Nußland am Kaspisee und in Tur- kestan das an der Einmündung des Oxus in den Aralsee gelegne Chiwa über¬ flügelt und von Norden her seine Grenze an den Aralsee vorgeschoben hatte, war die Sicherung seines Einflusses in Chiwa ein Gebot der Notwendigkeit geworden. Die Vorschiebung seiner Grenze am Ostufer des Kaspisees bis zum Atrek und die Züchtigung der räuberischen Turkmenen in dem Hinterkante dieser Uferlinie gaben dazu einen natürlichen und nicht zu vermeidenden Anlaß. In beiden Fällen hätte nur Persien Einspruch erheben können, das aber kein Land nördlich vom Atrek beanspruchte und sich der Turkmenen selber nicht er¬ wehren, geschweige denn sie zur Ordnung zwingen konnte. Dennoch erhob England seine Stimme und verlangte, Nußland sollte stehen bleiben. Es wurde sogar die bei dem schlechten Zustande der Geographie dieser Gegenden gar nicht zu begründende Forderung gestellt, Nußland sollte den Oxus als Grenze an¬ erkennen. Und Chiwa liegt fast zehn Parallelgrade von Peschauer! Von einer Macht, die ihren Einfluß über ganz Persien und Afghanistan auszudehnen strebte und in Kaschgar und Jarkcmd am Südfuße des Tianschan öffentlich wühlte, war eine solche Forderung einfach unverschämt. Sie wurde daher von Rußland ruhig beiseite gesetzt, Rußland führte 1873 den schon 1839 unter- nommnen Marsch nach Chiwa ruhig aus und setzte den menschenräuberischen Usbegeufürsteu zum Satrapen herab, indem es sich den englischen Klagen gegenüber auf sein Recht berief, Grenzpolizei zu üben. Heute macht es den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/114>, abgerufen am 29.06.2024.