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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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politische Ieitbetrachtungen

das alles noch innere Verfassungskämpfe zu überstehen. Wir halten es des¬
halb für Pflicht des Vaterlandsfreundes, bei jeder Gelegenheit laut dafür
Zeugnis abzulegen, daß wir die verfassungsmäßigen Grundlagen des Reichs,
die schönste Frucht unsrer jüngst so schon gefeierten Siege, von niemand an¬
getastet wissen wollen. Leider gewinnt es immer mehr den Anschein, als wenn
diese Mahnung gegen zwei Fronten gerichtet werden müßte. Zugegeben, daß
die Sozialdemokratie als letztes Ziel die gewaltsame Beseitigung der bestehenden
Staats- und Gesellschaftsordnung verfolgt: die Frage ist nur die, ob sie irgend
welche Aussicht hat. dieses Ziel innerhalb irgend welchen für den praktischen
Politiker noch in Betracht kommenden Zeitraums zu erreichen. Sieht man
freilich auf die schlotternde Angst des deutschen Philisters, und will man nicht
annehmen, daß sich die Klageweiber der großindustriellen Presse seiger stellen,
als sie sind, so muß man ja glauben, die Tage des Triumphs der Umsturz¬
partei seien nahe herbeigekommen. Merkwürdig nur, daß ihre Führer diese
Siegeszuversicht keineswegs zu teilen scheinen. Eben jetzt machen sie verweifelte
Anstrengungen, neuen Most in die alten Schläuche zu füllen, und gerade beim
letzten "Sedanrummel" sind ihnen die "Seegmüller" zu taufenden und aber-
tcmsenden auf die Festwiesen der Ordnungsparteicn davongelaufen. Die
Lebensdauer der politischen Parteien scheint nach den sür sie geltenden Natur¬
gesetzen in Deutschland noch kürzer als anderwärts bemessen zu sein. So hat
die nationalliberale Partei, obgleich sie einst die Blüte der Nation in ihren
Reihen versammelte, kaum dreißig Jahre gebraucht, um auf einen Stand herab¬
zukommen, der ihr aus eigner Kraft kaum noch ein einziges Reichstagsmandat
sichert. Sie kann auch nicht einwenden, daß heute die Ideale erreicht seien,
an deren Verwirklichung sie einst ihre Kraft gesetzt habe. Ihr Verdienst um
die Hebung und Vertiefung des nationalen Bewußtseins in Ehren, aber von
liberalen Regierungsgrundsätzen sind wir in Deutschland doch kaum jemals
so weit entfernt gewesen wie heute. Wäre der ungefähr gleich alten Sozial¬
demokratie von Anfang an derselbe Spielraum vergönnt gewesen, es wäre
tausend gegen eins zu wetten, daß sie heute ebenso platt am Boden läge wie
ihre vornehmere Schwester. Ohnedies vertragen, gleich den moussirenden
Weinen, die revolutionären Neigungen kein zu langes Lagern. Dazu kommt,
daß die Sozialdemokratie ihre Ideale aus Utopien entlehnen mußte, daß ihr
anfangs nur eine ganz geringe Anzahl von Talenten zur Verfügung stand,
die nicht bloß Anhänger zu werben, sondern auch eine ungeheure Erziehungs¬
arbeit an ihnen zu leisten hatten, und daß sie ununterbrochen mit der Gefahr
innerer Zwistigkeiten zu kämpfen gehabt hat. Kurz, um uicht tausendmal ge¬
sagtes zu wiederholen, vor der Sozialdemokratie lassen wir uns auch durch
die beweglichsten Heulmeiereien nicht bange machen. Sie mag den Willen
haben, unsern verfassungsmäßigen Einrichtungen gefährlich zu werden, sie hat
aber weder heute die Macht dazu, noch wird sie, wenn die bürgerlichen Par-


politische Ieitbetrachtungen

das alles noch innere Verfassungskämpfe zu überstehen. Wir halten es des¬
halb für Pflicht des Vaterlandsfreundes, bei jeder Gelegenheit laut dafür
Zeugnis abzulegen, daß wir die verfassungsmäßigen Grundlagen des Reichs,
die schönste Frucht unsrer jüngst so schon gefeierten Siege, von niemand an¬
getastet wissen wollen. Leider gewinnt es immer mehr den Anschein, als wenn
diese Mahnung gegen zwei Fronten gerichtet werden müßte. Zugegeben, daß
die Sozialdemokratie als letztes Ziel die gewaltsame Beseitigung der bestehenden
Staats- und Gesellschaftsordnung verfolgt: die Frage ist nur die, ob sie irgend
welche Aussicht hat. dieses Ziel innerhalb irgend welchen für den praktischen
Politiker noch in Betracht kommenden Zeitraums zu erreichen. Sieht man
freilich auf die schlotternde Angst des deutschen Philisters, und will man nicht
annehmen, daß sich die Klageweiber der großindustriellen Presse seiger stellen,
als sie sind, so muß man ja glauben, die Tage des Triumphs der Umsturz¬
partei seien nahe herbeigekommen. Merkwürdig nur, daß ihre Führer diese
Siegeszuversicht keineswegs zu teilen scheinen. Eben jetzt machen sie verweifelte
Anstrengungen, neuen Most in die alten Schläuche zu füllen, und gerade beim
letzten „Sedanrummel" sind ihnen die „Seegmüller" zu taufenden und aber-
tcmsenden auf die Festwiesen der Ordnungsparteicn davongelaufen. Die
Lebensdauer der politischen Parteien scheint nach den sür sie geltenden Natur¬
gesetzen in Deutschland noch kürzer als anderwärts bemessen zu sein. So hat
die nationalliberale Partei, obgleich sie einst die Blüte der Nation in ihren
Reihen versammelte, kaum dreißig Jahre gebraucht, um auf einen Stand herab¬
zukommen, der ihr aus eigner Kraft kaum noch ein einziges Reichstagsmandat
sichert. Sie kann auch nicht einwenden, daß heute die Ideale erreicht seien,
an deren Verwirklichung sie einst ihre Kraft gesetzt habe. Ihr Verdienst um
die Hebung und Vertiefung des nationalen Bewußtseins in Ehren, aber von
liberalen Regierungsgrundsätzen sind wir in Deutschland doch kaum jemals
so weit entfernt gewesen wie heute. Wäre der ungefähr gleich alten Sozial¬
demokratie von Anfang an derselbe Spielraum vergönnt gewesen, es wäre
tausend gegen eins zu wetten, daß sie heute ebenso platt am Boden läge wie
ihre vornehmere Schwester. Ohnedies vertragen, gleich den moussirenden
Weinen, die revolutionären Neigungen kein zu langes Lagern. Dazu kommt,
daß die Sozialdemokratie ihre Ideale aus Utopien entlehnen mußte, daß ihr
anfangs nur eine ganz geringe Anzahl von Talenten zur Verfügung stand,
die nicht bloß Anhänger zu werben, sondern auch eine ungeheure Erziehungs¬
arbeit an ihnen zu leisten hatten, und daß sie ununterbrochen mit der Gefahr
innerer Zwistigkeiten zu kämpfen gehabt hat. Kurz, um uicht tausendmal ge¬
sagtes zu wiederholen, vor der Sozialdemokratie lassen wir uns auch durch
die beweglichsten Heulmeiereien nicht bange machen. Sie mag den Willen
haben, unsern verfassungsmäßigen Einrichtungen gefährlich zu werden, sie hat
aber weder heute die Macht dazu, noch wird sie, wenn die bürgerlichen Par-


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[0010] politische Ieitbetrachtungen das alles noch innere Verfassungskämpfe zu überstehen. Wir halten es des¬ halb für Pflicht des Vaterlandsfreundes, bei jeder Gelegenheit laut dafür Zeugnis abzulegen, daß wir die verfassungsmäßigen Grundlagen des Reichs, die schönste Frucht unsrer jüngst so schon gefeierten Siege, von niemand an¬ getastet wissen wollen. Leider gewinnt es immer mehr den Anschein, als wenn diese Mahnung gegen zwei Fronten gerichtet werden müßte. Zugegeben, daß die Sozialdemokratie als letztes Ziel die gewaltsame Beseitigung der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung verfolgt: die Frage ist nur die, ob sie irgend welche Aussicht hat. dieses Ziel innerhalb irgend welchen für den praktischen Politiker noch in Betracht kommenden Zeitraums zu erreichen. Sieht man freilich auf die schlotternde Angst des deutschen Philisters, und will man nicht annehmen, daß sich die Klageweiber der großindustriellen Presse seiger stellen, als sie sind, so muß man ja glauben, die Tage des Triumphs der Umsturz¬ partei seien nahe herbeigekommen. Merkwürdig nur, daß ihre Führer diese Siegeszuversicht keineswegs zu teilen scheinen. Eben jetzt machen sie verweifelte Anstrengungen, neuen Most in die alten Schläuche zu füllen, und gerade beim letzten „Sedanrummel" sind ihnen die „Seegmüller" zu taufenden und aber- tcmsenden auf die Festwiesen der Ordnungsparteicn davongelaufen. Die Lebensdauer der politischen Parteien scheint nach den sür sie geltenden Natur¬ gesetzen in Deutschland noch kürzer als anderwärts bemessen zu sein. So hat die nationalliberale Partei, obgleich sie einst die Blüte der Nation in ihren Reihen versammelte, kaum dreißig Jahre gebraucht, um auf einen Stand herab¬ zukommen, der ihr aus eigner Kraft kaum noch ein einziges Reichstagsmandat sichert. Sie kann auch nicht einwenden, daß heute die Ideale erreicht seien, an deren Verwirklichung sie einst ihre Kraft gesetzt habe. Ihr Verdienst um die Hebung und Vertiefung des nationalen Bewußtseins in Ehren, aber von liberalen Regierungsgrundsätzen sind wir in Deutschland doch kaum jemals so weit entfernt gewesen wie heute. Wäre der ungefähr gleich alten Sozial¬ demokratie von Anfang an derselbe Spielraum vergönnt gewesen, es wäre tausend gegen eins zu wetten, daß sie heute ebenso platt am Boden läge wie ihre vornehmere Schwester. Ohnedies vertragen, gleich den moussirenden Weinen, die revolutionären Neigungen kein zu langes Lagern. Dazu kommt, daß die Sozialdemokratie ihre Ideale aus Utopien entlehnen mußte, daß ihr anfangs nur eine ganz geringe Anzahl von Talenten zur Verfügung stand, die nicht bloß Anhänger zu werben, sondern auch eine ungeheure Erziehungs¬ arbeit an ihnen zu leisten hatten, und daß sie ununterbrochen mit der Gefahr innerer Zwistigkeiten zu kämpfen gehabt hat. Kurz, um uicht tausendmal ge¬ sagtes zu wiederholen, vor der Sozialdemokratie lassen wir uns auch durch die beweglichsten Heulmeiereien nicht bange machen. Sie mag den Willen haben, unsern verfassungsmäßigen Einrichtungen gefährlich zu werden, sie hat aber weder heute die Macht dazu, noch wird sie, wenn die bürgerlichen Par-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/10>, abgerufen am 29.06.2024.