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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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er freilich auch dazu mißbrauchen kann, nichts zu thun, giebt ihm das Recht
zu wählen, wobei er freilich auch kläglich daneben greifen kann, die Freiheit,
seine Arbeit selbständig zu gestalten, wobei er anch gründlich zerfahren oder
jämmerlich einseitig werden kann. Aber abusus non tolUr, usum: die richtig
verstandne und richtig gebrauchte Lernfreiheit hat sich im großen und ganzen
doch bewährt."

Sodann besteht die akademische Freiheit in einer gewissen Ungebundenheit
gegenüber der Sitte. Auch hier ist der Knabe noch unfrei. In der Familie
und auf der Schulbank ist seine Tugend vor allem die des Gehorsams; nicht
er gestaltet sich sein Leben, sondern andre thun es für ihn. Was er zu thun
oder zu lasse" hat, wird ihm vorgeschrieben, und so lebt er im allgemeinen
bis zum Abiturientenexamen gleichsam als Unterthan eines Staats, dessen
Verfassungsform man, wenn es gut geht, die des aufgeklärten Despotismus,
freilich mitunter auch die eines recht unaufgeklärte", nennen könnte. Als aka¬
demischer Bürger dagegen erhält er das Recht der Selbstbestimmung, er wird
frei, aber nicht etwa vom Sittengesetz, sondern von der Sitte. Denn sittlich
sein heißt mit Bewußtsein thun, was die Sitte gebietet, oder aber ihr ent¬
gegentreten, wo sie veraltet und unvernünftig, mit einem Wort zur Unsitte
geworden ist. Man mag sagen, was man will: die öffentliche Meinung bindet
auch heute noch die Menschen an Sitten, die längst zu inhaltlosen, ja zweck¬
widrigen Formen erstarrt sind. Und darum erklärt es Ziegler für einen Segen
und für eine Notwendigkeit, daß der Mensch einmal eine Periode durchmache,
wo er gleichsam darauf gestoßen wird, sich auf die Berechtigung der Sitte und
auf feine Stellung zu ihr zu besinnen. Ohne Zweifel geschieht das am besten
in einer Zeit, wo der Mensch auch thatsächlich in gewissem Sinne von der
Sitte losgebunden ist und die Vannsprüchc der öffentlichen Meinung nicht zu
fürchten braucht. "Es giebt auch in dieser Welt der Sitte und sogenannten
sittlichen Anschauung gar vieles, was wert ist, daß es untergehe und in
Trümmer geschlagen werde. Der Student kann das nicht besorgen, dazu ist
er noch zu jung, aber daß er einmal den Versuch macht, ohne diesen Respekt
vor dein Geltenden auszukommen, daß er sich mit dem Mut erfüllt, wo es
nötig ist, sich darüber hinwegzusetzen, das ist sein gutes Recht und liegt im
Interesse des sittlichen Fortschritts. Der Philister ist der ewige Rücksicht-
uehmer, der Student der absolut Rücksichtslose, nicht um es zu bleiben, sondern
um sich einmal zu tauchen und gesund zu baden in dein Geiste robuster Rück¬
sichtslosigkeit, um sich salben zu lassen mit einem Tropfen revolutionären Öls,
das jeder wahrhaft sittliche Mensch in sich haben muß."

Mit diesen Sätzen will Ziegler keineswegs der Rüpelhaftigkeit das Wort
reden; auch ihm würde der junge Maun, der mit dem Hut auf dem Kopfe
in sein Zimmer träte, mißfallen; dennoch ist ihm der Jüngling, der linkisch
oder als derber Naturbursche auftritt, im allgemeinen lieber als der aalglatte


er freilich auch dazu mißbrauchen kann, nichts zu thun, giebt ihm das Recht
zu wählen, wobei er freilich auch kläglich daneben greifen kann, die Freiheit,
seine Arbeit selbständig zu gestalten, wobei er anch gründlich zerfahren oder
jämmerlich einseitig werden kann. Aber abusus non tolUr, usum: die richtig
verstandne und richtig gebrauchte Lernfreiheit hat sich im großen und ganzen
doch bewährt."

Sodann besteht die akademische Freiheit in einer gewissen Ungebundenheit
gegenüber der Sitte. Auch hier ist der Knabe noch unfrei. In der Familie
und auf der Schulbank ist seine Tugend vor allem die des Gehorsams; nicht
er gestaltet sich sein Leben, sondern andre thun es für ihn. Was er zu thun
oder zu lasse« hat, wird ihm vorgeschrieben, und so lebt er im allgemeinen
bis zum Abiturientenexamen gleichsam als Unterthan eines Staats, dessen
Verfassungsform man, wenn es gut geht, die des aufgeklärten Despotismus,
freilich mitunter auch die eines recht unaufgeklärte», nennen könnte. Als aka¬
demischer Bürger dagegen erhält er das Recht der Selbstbestimmung, er wird
frei, aber nicht etwa vom Sittengesetz, sondern von der Sitte. Denn sittlich
sein heißt mit Bewußtsein thun, was die Sitte gebietet, oder aber ihr ent¬
gegentreten, wo sie veraltet und unvernünftig, mit einem Wort zur Unsitte
geworden ist. Man mag sagen, was man will: die öffentliche Meinung bindet
auch heute noch die Menschen an Sitten, die längst zu inhaltlosen, ja zweck¬
widrigen Formen erstarrt sind. Und darum erklärt es Ziegler für einen Segen
und für eine Notwendigkeit, daß der Mensch einmal eine Periode durchmache,
wo er gleichsam darauf gestoßen wird, sich auf die Berechtigung der Sitte und
auf feine Stellung zu ihr zu besinnen. Ohne Zweifel geschieht das am besten
in einer Zeit, wo der Mensch auch thatsächlich in gewissem Sinne von der
Sitte losgebunden ist und die Vannsprüchc der öffentlichen Meinung nicht zu
fürchten braucht. „Es giebt auch in dieser Welt der Sitte und sogenannten
sittlichen Anschauung gar vieles, was wert ist, daß es untergehe und in
Trümmer geschlagen werde. Der Student kann das nicht besorgen, dazu ist
er noch zu jung, aber daß er einmal den Versuch macht, ohne diesen Respekt
vor dein Geltenden auszukommen, daß er sich mit dem Mut erfüllt, wo es
nötig ist, sich darüber hinwegzusetzen, das ist sein gutes Recht und liegt im
Interesse des sittlichen Fortschritts. Der Philister ist der ewige Rücksicht-
uehmer, der Student der absolut Rücksichtslose, nicht um es zu bleiben, sondern
um sich einmal zu tauchen und gesund zu baden in dein Geiste robuster Rück¬
sichtslosigkeit, um sich salben zu lassen mit einem Tropfen revolutionären Öls,
das jeder wahrhaft sittliche Mensch in sich haben muß."

Mit diesen Sätzen will Ziegler keineswegs der Rüpelhaftigkeit das Wort
reden; auch ihm würde der junge Maun, der mit dem Hut auf dem Kopfe
in sein Zimmer träte, mißfallen; dennoch ist ihm der Jüngling, der linkisch
oder als derber Naturbursche auftritt, im allgemeinen lieber als der aalglatte


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[0075] er freilich auch dazu mißbrauchen kann, nichts zu thun, giebt ihm das Recht zu wählen, wobei er freilich auch kläglich daneben greifen kann, die Freiheit, seine Arbeit selbständig zu gestalten, wobei er anch gründlich zerfahren oder jämmerlich einseitig werden kann. Aber abusus non tolUr, usum: die richtig verstandne und richtig gebrauchte Lernfreiheit hat sich im großen und ganzen doch bewährt." Sodann besteht die akademische Freiheit in einer gewissen Ungebundenheit gegenüber der Sitte. Auch hier ist der Knabe noch unfrei. In der Familie und auf der Schulbank ist seine Tugend vor allem die des Gehorsams; nicht er gestaltet sich sein Leben, sondern andre thun es für ihn. Was er zu thun oder zu lasse« hat, wird ihm vorgeschrieben, und so lebt er im allgemeinen bis zum Abiturientenexamen gleichsam als Unterthan eines Staats, dessen Verfassungsform man, wenn es gut geht, die des aufgeklärten Despotismus, freilich mitunter auch die eines recht unaufgeklärte», nennen könnte. Als aka¬ demischer Bürger dagegen erhält er das Recht der Selbstbestimmung, er wird frei, aber nicht etwa vom Sittengesetz, sondern von der Sitte. Denn sittlich sein heißt mit Bewußtsein thun, was die Sitte gebietet, oder aber ihr ent¬ gegentreten, wo sie veraltet und unvernünftig, mit einem Wort zur Unsitte geworden ist. Man mag sagen, was man will: die öffentliche Meinung bindet auch heute noch die Menschen an Sitten, die längst zu inhaltlosen, ja zweck¬ widrigen Formen erstarrt sind. Und darum erklärt es Ziegler für einen Segen und für eine Notwendigkeit, daß der Mensch einmal eine Periode durchmache, wo er gleichsam darauf gestoßen wird, sich auf die Berechtigung der Sitte und auf feine Stellung zu ihr zu besinnen. Ohne Zweifel geschieht das am besten in einer Zeit, wo der Mensch auch thatsächlich in gewissem Sinne von der Sitte losgebunden ist und die Vannsprüchc der öffentlichen Meinung nicht zu fürchten braucht. „Es giebt auch in dieser Welt der Sitte und sogenannten sittlichen Anschauung gar vieles, was wert ist, daß es untergehe und in Trümmer geschlagen werde. Der Student kann das nicht besorgen, dazu ist er noch zu jung, aber daß er einmal den Versuch macht, ohne diesen Respekt vor dein Geltenden auszukommen, daß er sich mit dem Mut erfüllt, wo es nötig ist, sich darüber hinwegzusetzen, das ist sein gutes Recht und liegt im Interesse des sittlichen Fortschritts. Der Philister ist der ewige Rücksicht- uehmer, der Student der absolut Rücksichtslose, nicht um es zu bleiben, sondern um sich einmal zu tauchen und gesund zu baden in dein Geiste robuster Rück¬ sichtslosigkeit, um sich salben zu lassen mit einem Tropfen revolutionären Öls, das jeder wahrhaft sittliche Mensch in sich haben muß." Mit diesen Sätzen will Ziegler keineswegs der Rüpelhaftigkeit das Wort reden; auch ihm würde der junge Maun, der mit dem Hut auf dem Kopfe in sein Zimmer träte, mißfallen; dennoch ist ihm der Jüngling, der linkisch oder als derber Naturbursche auftritt, im allgemeinen lieber als der aalglatte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/75>, abgerufen am 30.06.2024.