Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Der deutsche Student am Lüde des neunzehnten Jahrhunderts

seinen Anschauungen, und wohl uns, wenn wir das Neue, das im Anzug ist,
wenigstens noch verstehen! Sie dagegen wachsen aus diesem neunzehnten Jahr¬
hundert heraus in ein neues hinein, dessen Träger Sie sein müssen: wir sehen
den Übergang, Sie sind er selbst."

Weil es nun in solchen Zeiten des allgemeinen Schwankens mehr noch
als sonst darauf ankommt, zu prüfen, welche Dinge der Erhaltung wert und
welche zum Untergange reif sind, so bespricht Ziegler alles, was den Stu¬
denten angeht und bewegt, das Höchste wie das Gemeinste, das ganz Äußer¬
liche wie das Innerliche, seine Ideale wie seinen "Wechsel," seine Politik,
seine Religion und seine Ehre, seine Vorlesungen, wie er sie besucht, und wie
er sie schwärzt, sein Kommersiren und Pauken, kurz sein ganzes Leben und
Streben.

Dieser fast unübersehbare Stoff teilt sich wie von selbst in zwei Ab¬
schnitte, das akademische Leben und das akademische Studium, wovon dem
einen elf, dem andern fünf Vorlesungen gewidmet sind. Die erste behandelt
die akademische Freiheit. "Frei ist der Bursch" -- so heißt es zwar im Liede;
aber haben die heutigen Studenten noch ein Recht, so zu singen? Wie ein
Märchen klingt heute, wo der Student in allen Rechtsstreitigkeiten unter das
ordentliche Gericht gestellt ist, die Kunde von jenen Zeiten, wo man es für
notwendig hielt, zu bestimmen, daß der, der einen Nachtwächter töte, so be¬
handelt werden solle, als ob er einen andern Menschen getötet hätte. Wenn
sich aber hie und da noch einige Vorrechte bis auf die Gegenwart erhalten
haben, wie z. B. in Preußen die Bestimmung, daß ein Student eine Freiheits¬
strafe bis zu zwei Wochen im Universitütskarzer absitzen darf, so wird sich
selbst eine derartige Ausnahmestellung auf die Dauer nicht halten lassen. Und
doch bleibt auch dann, wenn diese letzten spärlichen Reste dem nivellirendeu
Zuge des modernen Lebens zum Opfer gefallen sind, die wahre akademische
Freiheit bestehen. Denn nicht in jenen Äußerlichkeiten, nicht in dem Recht,
etwas zu thun, was andern gleichaltrigen Jünglingen durch Strafgesetz und
Polizeiverordnungen verboten ist, erblickt Ziegler das Wesen der akademischen
Freiheit, sondern in Dingen, die niemals ein Strafrichter vor sein Forum
ziehen wird. Das erste und wichtigste sei die Lernfreiheit, von der man frei¬
lich schon spottend gesagt habe, daß sie im Grunde nichts andres sei als die
Freiheit, nicht zu lernen, sondern zu faulenzen, deren Zweck aber offenbar der
sei, daß es für den Jüngling darauf ankomme, lernen zu wollen, nachdem
er als Knabe dazu angehalten worden sei, lernen zu müssen. Was Pestalozzi
so schön von Gertrud und ihren Kindern sage: sie spinnen so eifrig, wie kaum
eine Tagelöhnerin spinnt, aber ihre Seelen tagelöhnern nicht -- diesen hohen
und freien Geist der Arbeit eigne man sich in der Regel noch nicht auf der
Schule an, fondern "in der demokratischen Luft schrankenloser Freiheit und
Ungebundenheit. Und deswegen giebt man dem Studenten diese Freiheit, die


Der deutsche Student am Lüde des neunzehnten Jahrhunderts

seinen Anschauungen, und wohl uns, wenn wir das Neue, das im Anzug ist,
wenigstens noch verstehen! Sie dagegen wachsen aus diesem neunzehnten Jahr¬
hundert heraus in ein neues hinein, dessen Träger Sie sein müssen: wir sehen
den Übergang, Sie sind er selbst."

Weil es nun in solchen Zeiten des allgemeinen Schwankens mehr noch
als sonst darauf ankommt, zu prüfen, welche Dinge der Erhaltung wert und
welche zum Untergange reif sind, so bespricht Ziegler alles, was den Stu¬
denten angeht und bewegt, das Höchste wie das Gemeinste, das ganz Äußer¬
liche wie das Innerliche, seine Ideale wie seinen „Wechsel," seine Politik,
seine Religion und seine Ehre, seine Vorlesungen, wie er sie besucht, und wie
er sie schwärzt, sein Kommersiren und Pauken, kurz sein ganzes Leben und
Streben.

Dieser fast unübersehbare Stoff teilt sich wie von selbst in zwei Ab¬
schnitte, das akademische Leben und das akademische Studium, wovon dem
einen elf, dem andern fünf Vorlesungen gewidmet sind. Die erste behandelt
die akademische Freiheit. „Frei ist der Bursch" — so heißt es zwar im Liede;
aber haben die heutigen Studenten noch ein Recht, so zu singen? Wie ein
Märchen klingt heute, wo der Student in allen Rechtsstreitigkeiten unter das
ordentliche Gericht gestellt ist, die Kunde von jenen Zeiten, wo man es für
notwendig hielt, zu bestimmen, daß der, der einen Nachtwächter töte, so be¬
handelt werden solle, als ob er einen andern Menschen getötet hätte. Wenn
sich aber hie und da noch einige Vorrechte bis auf die Gegenwart erhalten
haben, wie z. B. in Preußen die Bestimmung, daß ein Student eine Freiheits¬
strafe bis zu zwei Wochen im Universitütskarzer absitzen darf, so wird sich
selbst eine derartige Ausnahmestellung auf die Dauer nicht halten lassen. Und
doch bleibt auch dann, wenn diese letzten spärlichen Reste dem nivellirendeu
Zuge des modernen Lebens zum Opfer gefallen sind, die wahre akademische
Freiheit bestehen. Denn nicht in jenen Äußerlichkeiten, nicht in dem Recht,
etwas zu thun, was andern gleichaltrigen Jünglingen durch Strafgesetz und
Polizeiverordnungen verboten ist, erblickt Ziegler das Wesen der akademischen
Freiheit, sondern in Dingen, die niemals ein Strafrichter vor sein Forum
ziehen wird. Das erste und wichtigste sei die Lernfreiheit, von der man frei¬
lich schon spottend gesagt habe, daß sie im Grunde nichts andres sei als die
Freiheit, nicht zu lernen, sondern zu faulenzen, deren Zweck aber offenbar der
sei, daß es für den Jüngling darauf ankomme, lernen zu wollen, nachdem
er als Knabe dazu angehalten worden sei, lernen zu müssen. Was Pestalozzi
so schön von Gertrud und ihren Kindern sage: sie spinnen so eifrig, wie kaum
eine Tagelöhnerin spinnt, aber ihre Seelen tagelöhnern nicht — diesen hohen
und freien Geist der Arbeit eigne man sich in der Regel noch nicht auf der
Schule an, fondern „in der demokratischen Luft schrankenloser Freiheit und
Ungebundenheit. Und deswegen giebt man dem Studenten diese Freiheit, die


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0074" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/220400"/>
          <fw type="header" place="top"> Der deutsche Student am Lüde des neunzehnten Jahrhunderts</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_228" prev="#ID_227"> seinen Anschauungen, und wohl uns, wenn wir das Neue, das im Anzug ist,<lb/>
wenigstens noch verstehen! Sie dagegen wachsen aus diesem neunzehnten Jahr¬<lb/>
hundert heraus in ein neues hinein, dessen Träger Sie sein müssen: wir sehen<lb/>
den Übergang, Sie sind er selbst."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_229"> Weil es nun in solchen Zeiten des allgemeinen Schwankens mehr noch<lb/>
als sonst darauf ankommt, zu prüfen, welche Dinge der Erhaltung wert und<lb/>
welche zum Untergange reif sind, so bespricht Ziegler alles, was den Stu¬<lb/>
denten angeht und bewegt, das Höchste wie das Gemeinste, das ganz Äußer¬<lb/>
liche wie das Innerliche, seine Ideale wie seinen &#x201E;Wechsel," seine Politik,<lb/>
seine Religion und seine Ehre, seine Vorlesungen, wie er sie besucht, und wie<lb/>
er sie schwärzt, sein Kommersiren und Pauken, kurz sein ganzes Leben und<lb/>
Streben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_230" next="#ID_231"> Dieser fast unübersehbare Stoff teilt sich wie von selbst in zwei Ab¬<lb/>
schnitte, das akademische Leben und das akademische Studium, wovon dem<lb/>
einen elf, dem andern fünf Vorlesungen gewidmet sind. Die erste behandelt<lb/>
die akademische Freiheit. &#x201E;Frei ist der Bursch" &#x2014; so heißt es zwar im Liede;<lb/>
aber haben die heutigen Studenten noch ein Recht, so zu singen? Wie ein<lb/>
Märchen klingt heute, wo der Student in allen Rechtsstreitigkeiten unter das<lb/>
ordentliche Gericht gestellt ist, die Kunde von jenen Zeiten, wo man es für<lb/>
notwendig hielt, zu bestimmen, daß der, der einen Nachtwächter töte, so be¬<lb/>
handelt werden solle, als ob er einen andern Menschen getötet hätte. Wenn<lb/>
sich aber hie und da noch einige Vorrechte bis auf die Gegenwart erhalten<lb/>
haben, wie z. B. in Preußen die Bestimmung, daß ein Student eine Freiheits¬<lb/>
strafe bis zu zwei Wochen im Universitütskarzer absitzen darf, so wird sich<lb/>
selbst eine derartige Ausnahmestellung auf die Dauer nicht halten lassen. Und<lb/>
doch bleibt auch dann, wenn diese letzten spärlichen Reste dem nivellirendeu<lb/>
Zuge des modernen Lebens zum Opfer gefallen sind, die wahre akademische<lb/>
Freiheit bestehen. Denn nicht in jenen Äußerlichkeiten, nicht in dem Recht,<lb/>
etwas zu thun, was andern gleichaltrigen Jünglingen durch Strafgesetz und<lb/>
Polizeiverordnungen verboten ist, erblickt Ziegler das Wesen der akademischen<lb/>
Freiheit, sondern in Dingen, die niemals ein Strafrichter vor sein Forum<lb/>
ziehen wird. Das erste und wichtigste sei die Lernfreiheit, von der man frei¬<lb/>
lich schon spottend gesagt habe, daß sie im Grunde nichts andres sei als die<lb/>
Freiheit, nicht zu lernen, sondern zu faulenzen, deren Zweck aber offenbar der<lb/>
sei, daß es für den Jüngling darauf ankomme, lernen zu wollen, nachdem<lb/>
er als Knabe dazu angehalten worden sei, lernen zu müssen. Was Pestalozzi<lb/>
so schön von Gertrud und ihren Kindern sage: sie spinnen so eifrig, wie kaum<lb/>
eine Tagelöhnerin spinnt, aber ihre Seelen tagelöhnern nicht &#x2014; diesen hohen<lb/>
und freien Geist der Arbeit eigne man sich in der Regel noch nicht auf der<lb/>
Schule an, fondern &#x201E;in der demokratischen Luft schrankenloser Freiheit und<lb/>
Ungebundenheit.  Und deswegen giebt man dem Studenten diese Freiheit, die</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0074] Der deutsche Student am Lüde des neunzehnten Jahrhunderts seinen Anschauungen, und wohl uns, wenn wir das Neue, das im Anzug ist, wenigstens noch verstehen! Sie dagegen wachsen aus diesem neunzehnten Jahr¬ hundert heraus in ein neues hinein, dessen Träger Sie sein müssen: wir sehen den Übergang, Sie sind er selbst." Weil es nun in solchen Zeiten des allgemeinen Schwankens mehr noch als sonst darauf ankommt, zu prüfen, welche Dinge der Erhaltung wert und welche zum Untergange reif sind, so bespricht Ziegler alles, was den Stu¬ denten angeht und bewegt, das Höchste wie das Gemeinste, das ganz Äußer¬ liche wie das Innerliche, seine Ideale wie seinen „Wechsel," seine Politik, seine Religion und seine Ehre, seine Vorlesungen, wie er sie besucht, und wie er sie schwärzt, sein Kommersiren und Pauken, kurz sein ganzes Leben und Streben. Dieser fast unübersehbare Stoff teilt sich wie von selbst in zwei Ab¬ schnitte, das akademische Leben und das akademische Studium, wovon dem einen elf, dem andern fünf Vorlesungen gewidmet sind. Die erste behandelt die akademische Freiheit. „Frei ist der Bursch" — so heißt es zwar im Liede; aber haben die heutigen Studenten noch ein Recht, so zu singen? Wie ein Märchen klingt heute, wo der Student in allen Rechtsstreitigkeiten unter das ordentliche Gericht gestellt ist, die Kunde von jenen Zeiten, wo man es für notwendig hielt, zu bestimmen, daß der, der einen Nachtwächter töte, so be¬ handelt werden solle, als ob er einen andern Menschen getötet hätte. Wenn sich aber hie und da noch einige Vorrechte bis auf die Gegenwart erhalten haben, wie z. B. in Preußen die Bestimmung, daß ein Student eine Freiheits¬ strafe bis zu zwei Wochen im Universitütskarzer absitzen darf, so wird sich selbst eine derartige Ausnahmestellung auf die Dauer nicht halten lassen. Und doch bleibt auch dann, wenn diese letzten spärlichen Reste dem nivellirendeu Zuge des modernen Lebens zum Opfer gefallen sind, die wahre akademische Freiheit bestehen. Denn nicht in jenen Äußerlichkeiten, nicht in dem Recht, etwas zu thun, was andern gleichaltrigen Jünglingen durch Strafgesetz und Polizeiverordnungen verboten ist, erblickt Ziegler das Wesen der akademischen Freiheit, sondern in Dingen, die niemals ein Strafrichter vor sein Forum ziehen wird. Das erste und wichtigste sei die Lernfreiheit, von der man frei¬ lich schon spottend gesagt habe, daß sie im Grunde nichts andres sei als die Freiheit, nicht zu lernen, sondern zu faulenzen, deren Zweck aber offenbar der sei, daß es für den Jüngling darauf ankomme, lernen zu wollen, nachdem er als Knabe dazu angehalten worden sei, lernen zu müssen. Was Pestalozzi so schön von Gertrud und ihren Kindern sage: sie spinnen so eifrig, wie kaum eine Tagelöhnerin spinnt, aber ihre Seelen tagelöhnern nicht — diesen hohen und freien Geist der Arbeit eigne man sich in der Regel noch nicht auf der Schule an, fondern „in der demokratischen Luft schrankenloser Freiheit und Ungebundenheit. Und deswegen giebt man dem Studenten diese Freiheit, die

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/74
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/74>, abgerufen am 28.07.2024.