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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Der achte deutsche Handwerkertag

Bezug auf Leistungsfähigkeit einem Arbeiter gleich gesetzt werden; ferner geht
von der Zahl der arbeitenden Sträflinge der ganze Krankenbestand ab, der nicht
außer acht zu lassen ist, denn die preußische Statistik bezeichnete 1884/85 von
17 638 Zuchthausgefangnen als beschränkt arbeitsfähig 7 Prozent, als dauernd
arbeitsunfähig 0,3 Prozent, als vorübergehend arbeitsunfähig 1,4 Prozent.
Was die geleistete Arbeit anlangt, so schätzte man 1880 in den Vereinigten
Staaten im freien Betriebe gewonnene gewerbliche Produkte auf 5 369579191
Dollar, den Ertrag der Gefängnisprodnktion auf 28753999 Dollar 0.54Pro¬
zent der freien Produktion). Nach Nicollet beträgt die Gefüngnisprvduktion in
Frankreich ^/x^ der freien. Ebenso übertriebne Vorstellungen herrschen über
die Verbreitung der Maschinenarbeit. In Preußen wendet man sie nur in
14 Anstalten, bei einer Arbeiterzahl von 399 Köpfen, also nur bei 2,3 Prozent
der industriell beschäftigte" Gefangnen an. Nach alledem kann von einer all¬
gemeinen preisdrückenden Einwirkung der Gefüngnisprvduktion keine Rede sein.
Zuzugeben ist sie nur für einzelne Gewerbszweige und für den Absatz an einzelnen
Orten. Daß die Gefängnisarbeit reformbedürftig ist, unterliegt keinem Zweifel
und wird auch vou maßgebender Seite anerkannt. Die richtigen Wege aber
zu finden, ist nicht so einfach. Ob der Vorschlag, nur Halbfabrikate anfertigen
zu lassen, durchführbar ist, weiß ich nicht; der zweite Vorschlag, die Militär¬
werkstätten in die Gefängnisse zu verlegen, ist wertlos, da ja damit an der
allgemeinen Lage nichts geändert werden würde; der letzte endlich, von Sträf¬
lingen nur Kulturarbeiten ausführen zu lassen, klingt zwar bestechend, aber die
technischen Schwierigkeiten sind hier groß: die Entfernung der Gefängnisse vom
Arbeitsorte, die Schwierigkeit, die Gefangnen zu beaufsichtigen, den Zweck der
Strafe nicht aus dem Auge zu verlieren u. s. w. Außerdem muß man doch
auch fragen: wird dadurch nicht unsre Landbevölkerung zum Teil benachteiligt
werden? Die Form des Antrags: Beschäftigung der Gefangnen mit der An¬
fertigung von Halbfabrikaten oder mit Kulturarbeiten, ist ohnehin falsch, denn
im Winter wird man unbedingt zu industriellen Arbeiten greifen müssen.

Meine Bemerkungen haben bisher an Dinge angeknüpft, über die der
Handwerkertag verhandelt hat; nicht minder interessant scheint mir aber etwas
zik sein, wovon nicht gesprochen worden ist. Der gesamte Handwerkerstand
zeigt -- das kann nicht bestritten werden -- eine ziemlich große Indolenz,
und das ist ja nicht wunderbar, da eine dauernd schlechte Lage eben ein gutes
Teil der Thatkraft des Mannes vernichtet und Fatalisten erzeugt. Daß also
die Energie geschwächt ist, ist begreiflich, nicht aber der Grad der Schwächung
und vor allem nicht der Mangel an Selbsterkenntnis. Die heutige Jnnungs-
orgcmisation ist nicht gut, aber auch nicht so schlecht, daß thatkräftige Männer
gar nichts mit ihr anfangen könnten. Der vollständige Mißerfolg, den man
mit freien Innungen gehabt hat, kann nur auf Rechnung der Meister gesetzt
werden. Hierfür drei Belege. Mau hat sich auf dem Handwerkertage über


Der achte deutsche Handwerkertag

Bezug auf Leistungsfähigkeit einem Arbeiter gleich gesetzt werden; ferner geht
von der Zahl der arbeitenden Sträflinge der ganze Krankenbestand ab, der nicht
außer acht zu lassen ist, denn die preußische Statistik bezeichnete 1884/85 von
17 638 Zuchthausgefangnen als beschränkt arbeitsfähig 7 Prozent, als dauernd
arbeitsunfähig 0,3 Prozent, als vorübergehend arbeitsunfähig 1,4 Prozent.
Was die geleistete Arbeit anlangt, so schätzte man 1880 in den Vereinigten
Staaten im freien Betriebe gewonnene gewerbliche Produkte auf 5 369579191
Dollar, den Ertrag der Gefängnisprodnktion auf 28753999 Dollar 0.54Pro¬
zent der freien Produktion). Nach Nicollet beträgt die Gefüngnisprvduktion in
Frankreich ^/x^ der freien. Ebenso übertriebne Vorstellungen herrschen über
die Verbreitung der Maschinenarbeit. In Preußen wendet man sie nur in
14 Anstalten, bei einer Arbeiterzahl von 399 Köpfen, also nur bei 2,3 Prozent
der industriell beschäftigte» Gefangnen an. Nach alledem kann von einer all¬
gemeinen preisdrückenden Einwirkung der Gefüngnisprvduktion keine Rede sein.
Zuzugeben ist sie nur für einzelne Gewerbszweige und für den Absatz an einzelnen
Orten. Daß die Gefängnisarbeit reformbedürftig ist, unterliegt keinem Zweifel
und wird auch vou maßgebender Seite anerkannt. Die richtigen Wege aber
zu finden, ist nicht so einfach. Ob der Vorschlag, nur Halbfabrikate anfertigen
zu lassen, durchführbar ist, weiß ich nicht; der zweite Vorschlag, die Militär¬
werkstätten in die Gefängnisse zu verlegen, ist wertlos, da ja damit an der
allgemeinen Lage nichts geändert werden würde; der letzte endlich, von Sträf¬
lingen nur Kulturarbeiten ausführen zu lassen, klingt zwar bestechend, aber die
technischen Schwierigkeiten sind hier groß: die Entfernung der Gefängnisse vom
Arbeitsorte, die Schwierigkeit, die Gefangnen zu beaufsichtigen, den Zweck der
Strafe nicht aus dem Auge zu verlieren u. s. w. Außerdem muß man doch
auch fragen: wird dadurch nicht unsre Landbevölkerung zum Teil benachteiligt
werden? Die Form des Antrags: Beschäftigung der Gefangnen mit der An¬
fertigung von Halbfabrikaten oder mit Kulturarbeiten, ist ohnehin falsch, denn
im Winter wird man unbedingt zu industriellen Arbeiten greifen müssen.

Meine Bemerkungen haben bisher an Dinge angeknüpft, über die der
Handwerkertag verhandelt hat; nicht minder interessant scheint mir aber etwas
zik sein, wovon nicht gesprochen worden ist. Der gesamte Handwerkerstand
zeigt — das kann nicht bestritten werden — eine ziemlich große Indolenz,
und das ist ja nicht wunderbar, da eine dauernd schlechte Lage eben ein gutes
Teil der Thatkraft des Mannes vernichtet und Fatalisten erzeugt. Daß also
die Energie geschwächt ist, ist begreiflich, nicht aber der Grad der Schwächung
und vor allem nicht der Mangel an Selbsterkenntnis. Die heutige Jnnungs-
orgcmisation ist nicht gut, aber auch nicht so schlecht, daß thatkräftige Männer
gar nichts mit ihr anfangen könnten. Der vollständige Mißerfolg, den man
mit freien Innungen gehabt hat, kann nur auf Rechnung der Meister gesetzt
werden. Hierfür drei Belege. Mau hat sich auf dem Handwerkertage über


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[0070] Der achte deutsche Handwerkertag Bezug auf Leistungsfähigkeit einem Arbeiter gleich gesetzt werden; ferner geht von der Zahl der arbeitenden Sträflinge der ganze Krankenbestand ab, der nicht außer acht zu lassen ist, denn die preußische Statistik bezeichnete 1884/85 von 17 638 Zuchthausgefangnen als beschränkt arbeitsfähig 7 Prozent, als dauernd arbeitsunfähig 0,3 Prozent, als vorübergehend arbeitsunfähig 1,4 Prozent. Was die geleistete Arbeit anlangt, so schätzte man 1880 in den Vereinigten Staaten im freien Betriebe gewonnene gewerbliche Produkte auf 5 369579191 Dollar, den Ertrag der Gefängnisprodnktion auf 28753999 Dollar 0.54Pro¬ zent der freien Produktion). Nach Nicollet beträgt die Gefüngnisprvduktion in Frankreich ^/x^ der freien. Ebenso übertriebne Vorstellungen herrschen über die Verbreitung der Maschinenarbeit. In Preußen wendet man sie nur in 14 Anstalten, bei einer Arbeiterzahl von 399 Köpfen, also nur bei 2,3 Prozent der industriell beschäftigte» Gefangnen an. Nach alledem kann von einer all¬ gemeinen preisdrückenden Einwirkung der Gefüngnisprvduktion keine Rede sein. Zuzugeben ist sie nur für einzelne Gewerbszweige und für den Absatz an einzelnen Orten. Daß die Gefängnisarbeit reformbedürftig ist, unterliegt keinem Zweifel und wird auch vou maßgebender Seite anerkannt. Die richtigen Wege aber zu finden, ist nicht so einfach. Ob der Vorschlag, nur Halbfabrikate anfertigen zu lassen, durchführbar ist, weiß ich nicht; der zweite Vorschlag, die Militär¬ werkstätten in die Gefängnisse zu verlegen, ist wertlos, da ja damit an der allgemeinen Lage nichts geändert werden würde; der letzte endlich, von Sträf¬ lingen nur Kulturarbeiten ausführen zu lassen, klingt zwar bestechend, aber die technischen Schwierigkeiten sind hier groß: die Entfernung der Gefängnisse vom Arbeitsorte, die Schwierigkeit, die Gefangnen zu beaufsichtigen, den Zweck der Strafe nicht aus dem Auge zu verlieren u. s. w. Außerdem muß man doch auch fragen: wird dadurch nicht unsre Landbevölkerung zum Teil benachteiligt werden? Die Form des Antrags: Beschäftigung der Gefangnen mit der An¬ fertigung von Halbfabrikaten oder mit Kulturarbeiten, ist ohnehin falsch, denn im Winter wird man unbedingt zu industriellen Arbeiten greifen müssen. Meine Bemerkungen haben bisher an Dinge angeknüpft, über die der Handwerkertag verhandelt hat; nicht minder interessant scheint mir aber etwas zik sein, wovon nicht gesprochen worden ist. Der gesamte Handwerkerstand zeigt — das kann nicht bestritten werden — eine ziemlich große Indolenz, und das ist ja nicht wunderbar, da eine dauernd schlechte Lage eben ein gutes Teil der Thatkraft des Mannes vernichtet und Fatalisten erzeugt. Daß also die Energie geschwächt ist, ist begreiflich, nicht aber der Grad der Schwächung und vor allem nicht der Mangel an Selbsterkenntnis. Die heutige Jnnungs- orgcmisation ist nicht gut, aber auch nicht so schlecht, daß thatkräftige Männer gar nichts mit ihr anfangen könnten. Der vollständige Mißerfolg, den man mit freien Innungen gehabt hat, kann nur auf Rechnung der Meister gesetzt werden. Hierfür drei Belege. Mau hat sich auf dem Handwerkertage über

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/70>, abgerufen am 30.06.2024.