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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Der achte deutsche Handwerkertag

die Lehrlingsfrage vollständig ansgeschwiegen, obwohl jeder zugestehen muß,
daß sie zu den wichtigsten Dingen gehört, die dort überhaupt beraten werden
können. Hier ist ein Punkt, wo man den Handwerksmeistern eine Vorlesung
über "nackte Selbstsucht" halten könnte. Die Regelung der Lehrlingsfrage ist
bisher nnr deshalb nicht gelungen, weil die Meister wohl die Arbeitskraft des
Lehrlings ausbeuten -- einen andern Ausdruck giebt es dafür nicht --, aber
von einer Erziehung des Jungen zum künftigen Meister und charakterfester
Menschen nichts wissen wollen. Die Nutzlosigkeit des Fortbildungsschulunter-
richts ist allgemein anerkannt, da er am Abend nach angestrengter Arbeit er¬
teilt wird. Die Sonntagsschule wird ganz mit Recht verworfen. Also bleibt
nichts übrig, als dem Lehrjungen mindestens zwei volle halbe Tage zur Ver¬
fügung zu stellen, d. h. Nachmittage und Abende, damit Geist und Körper vor
dem Unterrichte geruht haben und Zeit zur Anfertigung von Schularbeiten
bleibt. Sind die Meister dazu nicht bereit, so zeigen sie, daß ihnen wohl an
ihrer Person, aber nicht an dem Gedeihen des Handwerks gelegen ist.

Andre den Innungen zugewiesene Aufgaben sind die Regelung des Her¬
bergswesens und die Errichtung von Fachschulen, zu deren Kosten sogar nach
dem Gesetze von 1887 auch die Nichtiunungsmeister und ihre Gesellen heran¬
gezogen werden können. Hat das Handwerk irgend nennenswerte Anstrengungen
gemacht, diesen Forderungen gerecht zu werden? Nein. Die Vernachlässigung
dieser Mittel, sich selbst zu helfen, hat es denn auch zu stände gebracht, daß
ein Teil unsrer Handwerker in Bezug auf allgemeine und vor allem auf ge¬
werbliche Bildung nicht auf der Höhe der Zeit steht. Es muß das offen aus¬
gesprochen werden, da man von denen, die die Hilfe des Staats beanspruchen,
fordern kann, daß sie zunächst an ihrem Teile dazuthun, ihre Lage zu
bessern.

Endlich ist es auffällig, daß man auf die Organisation von Rohstoffkcmf-
genosfenschaften und Verkaufsgenossenschaften so wenig Wert legt. Auch hier
ist ein Feld der Selbsthilfe, das Früchte tragen würde, wenn man es nur
gehörig bearbeitete. Anfänge sind ja vorhanden; so giebt es z. B. in Berlin
eine Verkaufsstelle vereinigter Tischler. Mit solchen Veranstaltungen, sollte
man meinen, könnte namentlich dem Vazaruuwesen entgegengewirkt werden.


L. G. Brandt


Der achte deutsche Handwerkertag

die Lehrlingsfrage vollständig ansgeschwiegen, obwohl jeder zugestehen muß,
daß sie zu den wichtigsten Dingen gehört, die dort überhaupt beraten werden
können. Hier ist ein Punkt, wo man den Handwerksmeistern eine Vorlesung
über „nackte Selbstsucht" halten könnte. Die Regelung der Lehrlingsfrage ist
bisher nnr deshalb nicht gelungen, weil die Meister wohl die Arbeitskraft des
Lehrlings ausbeuten — einen andern Ausdruck giebt es dafür nicht —, aber
von einer Erziehung des Jungen zum künftigen Meister und charakterfester
Menschen nichts wissen wollen. Die Nutzlosigkeit des Fortbildungsschulunter-
richts ist allgemein anerkannt, da er am Abend nach angestrengter Arbeit er¬
teilt wird. Die Sonntagsschule wird ganz mit Recht verworfen. Also bleibt
nichts übrig, als dem Lehrjungen mindestens zwei volle halbe Tage zur Ver¬
fügung zu stellen, d. h. Nachmittage und Abende, damit Geist und Körper vor
dem Unterrichte geruht haben und Zeit zur Anfertigung von Schularbeiten
bleibt. Sind die Meister dazu nicht bereit, so zeigen sie, daß ihnen wohl an
ihrer Person, aber nicht an dem Gedeihen des Handwerks gelegen ist.

Andre den Innungen zugewiesene Aufgaben sind die Regelung des Her¬
bergswesens und die Errichtung von Fachschulen, zu deren Kosten sogar nach
dem Gesetze von 1887 auch die Nichtiunungsmeister und ihre Gesellen heran¬
gezogen werden können. Hat das Handwerk irgend nennenswerte Anstrengungen
gemacht, diesen Forderungen gerecht zu werden? Nein. Die Vernachlässigung
dieser Mittel, sich selbst zu helfen, hat es denn auch zu stände gebracht, daß
ein Teil unsrer Handwerker in Bezug auf allgemeine und vor allem auf ge¬
werbliche Bildung nicht auf der Höhe der Zeit steht. Es muß das offen aus¬
gesprochen werden, da man von denen, die die Hilfe des Staats beanspruchen,
fordern kann, daß sie zunächst an ihrem Teile dazuthun, ihre Lage zu
bessern.

Endlich ist es auffällig, daß man auf die Organisation von Rohstoffkcmf-
genosfenschaften und Verkaufsgenossenschaften so wenig Wert legt. Auch hier
ist ein Feld der Selbsthilfe, das Früchte tragen würde, wenn man es nur
gehörig bearbeitete. Anfänge sind ja vorhanden; so giebt es z. B. in Berlin
eine Verkaufsstelle vereinigter Tischler. Mit solchen Veranstaltungen, sollte
man meinen, könnte namentlich dem Vazaruuwesen entgegengewirkt werden.


L. G. Brandt


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/71>, abgerufen am 30.06.2024.