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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Nicolaus Becker und sein Rheinlied

kichern Schwester dahingeht, das Harren und Verzeihen treuer Liebe, die Klage
eines liebevollen Herzens, das "dem Glauben allzu offen" war, die Reue, die
blitzartig beim Anblick der Verlassenen über den Schuldigen hereinbricht -- sie
alle werden in einfach natürlicher, aus dem Stoffe selbst fließender Sprache
dargestellt. In andern, weniger trüben Bildern blickt schalkhaft der gutmütige
Spott des Dichters durch. Den Kesselflicker, dessen geheimnisvollen Ernst das
ganze Dorf anstaunt, meinen wir mit seinem Granaden vor uns zu sehen, und
der "treuen Haut," die jedem dient, die jeder lobt, und um die sich doch nie¬
mand kümmert, sind wir wohl alle schon begegnet.

Die harte Beurteilung Beckers wurde sogar auf das "Rheinlied" aus¬
gedehnt. Während es einige als "Herausforderung" tadelten, machten ihm
andre den Vorwurf, daß es nur eine "zahme, defensive Begeisterung" zeige.
Nun sind aber Volkshymnen, im Gegensatz zu den eigentlichen Kriegsliedern,
immer "defensiv." Die Wacht am Rhein ist es, sogar die Marseillaise, so oft
sie auch später das Lied der Eroberungssucht wurde. Andre gestehen dem
Liede zwar mancherlei Vorzüge zu, tadeln aber den "Mangel an Tiefe." Damit
stellen sie eine Forderung, die ein Volkslied, zumal ein patriotisches, ebenfalls
uicht erfüllen kann. Ein Volkslied darf nichts aussprechen, was durch Neuheit
und Tiefe fremdartig berühren würde; es darf nur sagen, was in jeder Brust
lebt, sein Wert besteht nur darin, wie es diese Empfindungen ausspricht.
Diesen Wert hat man dem Nheinliede nie absprechen können. Es setzt schwung¬
voll und kräftig ein; es spricht den Grundgedanken gleich anfangs entschieden
aus und weiß ihn wirksam bis zu der kräftigste,: Beteuerung am Ende zu
steigern. Dazwischen enthält es in kurzen Zügen ein dichterisch schönes Bild,
das alles vereinigt, was bei dem Zauberworte "der deutsche Rhein" in uns
auftaucht: das Wunderland an seinen Ufern, die freien, frohen Menschen,
die mahnenden, mächtigen Reste einer romantischen Vergangenheit, und das
alles in Worten, die durchweg eigentümlich und bedeutend sind. Welche Wvrt-
malerei liegt allein in der zweiten Strophe!

Warum das Rheinlied trotz all dieser Vorzüge keine rechte "National¬
hymne" sein kann, wird uns klar, wenn wir in Gustav Freytags Betrachtung
über die Erfordernisse eines Volksliedes lesen: "Der Soldat braucht ferner
flüssige Melodien und Texte, solche, in denen nicht zu viele Anschauungen und
schilderndes Detail zusammengedrängt ist." Dieses "schildernde Detail" hinderte
eine dauernde Wirkung des Rheinlieds auf die breitern Massen, zumal als
die Frage, der es seinen Ursprung dankte, zurückgetreten war, und weist ihm
seinen Platz unter den Liedern an, in denen die Reize eines bestimmten deutschen
Gaues von seinen Bewohnern heimatsfroh gepriesen werden. Freilich gehört
es auch unter diesen Heimatsliedern heute uicht mehr zu den bekanntesten.
Es liegt das, wie man schon bald nach seinem Erscheinen klagte, daran, daß
die zahllosen Melodien hindernd und verwirrend wirkten. Es ist bei allen


Nicolaus Becker und sein Rheinlied

kichern Schwester dahingeht, das Harren und Verzeihen treuer Liebe, die Klage
eines liebevollen Herzens, das „dem Glauben allzu offen" war, die Reue, die
blitzartig beim Anblick der Verlassenen über den Schuldigen hereinbricht — sie
alle werden in einfach natürlicher, aus dem Stoffe selbst fließender Sprache
dargestellt. In andern, weniger trüben Bildern blickt schalkhaft der gutmütige
Spott des Dichters durch. Den Kesselflicker, dessen geheimnisvollen Ernst das
ganze Dorf anstaunt, meinen wir mit seinem Granaden vor uns zu sehen, und
der „treuen Haut," die jedem dient, die jeder lobt, und um die sich doch nie¬
mand kümmert, sind wir wohl alle schon begegnet.

Die harte Beurteilung Beckers wurde sogar auf das „Rheinlied" aus¬
gedehnt. Während es einige als „Herausforderung" tadelten, machten ihm
andre den Vorwurf, daß es nur eine „zahme, defensive Begeisterung" zeige.
Nun sind aber Volkshymnen, im Gegensatz zu den eigentlichen Kriegsliedern,
immer „defensiv." Die Wacht am Rhein ist es, sogar die Marseillaise, so oft
sie auch später das Lied der Eroberungssucht wurde. Andre gestehen dem
Liede zwar mancherlei Vorzüge zu, tadeln aber den „Mangel an Tiefe." Damit
stellen sie eine Forderung, die ein Volkslied, zumal ein patriotisches, ebenfalls
uicht erfüllen kann. Ein Volkslied darf nichts aussprechen, was durch Neuheit
und Tiefe fremdartig berühren würde; es darf nur sagen, was in jeder Brust
lebt, sein Wert besteht nur darin, wie es diese Empfindungen ausspricht.
Diesen Wert hat man dem Nheinliede nie absprechen können. Es setzt schwung¬
voll und kräftig ein; es spricht den Grundgedanken gleich anfangs entschieden
aus und weiß ihn wirksam bis zu der kräftigste,: Beteuerung am Ende zu
steigern. Dazwischen enthält es in kurzen Zügen ein dichterisch schönes Bild,
das alles vereinigt, was bei dem Zauberworte „der deutsche Rhein" in uns
auftaucht: das Wunderland an seinen Ufern, die freien, frohen Menschen,
die mahnenden, mächtigen Reste einer romantischen Vergangenheit, und das
alles in Worten, die durchweg eigentümlich und bedeutend sind. Welche Wvrt-
malerei liegt allein in der zweiten Strophe!

Warum das Rheinlied trotz all dieser Vorzüge keine rechte „National¬
hymne" sein kann, wird uns klar, wenn wir in Gustav Freytags Betrachtung
über die Erfordernisse eines Volksliedes lesen: „Der Soldat braucht ferner
flüssige Melodien und Texte, solche, in denen nicht zu viele Anschauungen und
schilderndes Detail zusammengedrängt ist." Dieses „schildernde Detail" hinderte
eine dauernde Wirkung des Rheinlieds auf die breitern Massen, zumal als
die Frage, der es seinen Ursprung dankte, zurückgetreten war, und weist ihm
seinen Platz unter den Liedern an, in denen die Reize eines bestimmten deutschen
Gaues von seinen Bewohnern heimatsfroh gepriesen werden. Freilich gehört
es auch unter diesen Heimatsliedern heute uicht mehr zu den bekanntesten.
Es liegt das, wie man schon bald nach seinem Erscheinen klagte, daran, daß
die zahllosen Melodien hindernd und verwirrend wirkten. Es ist bei allen


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[0578] Nicolaus Becker und sein Rheinlied kichern Schwester dahingeht, das Harren und Verzeihen treuer Liebe, die Klage eines liebevollen Herzens, das „dem Glauben allzu offen" war, die Reue, die blitzartig beim Anblick der Verlassenen über den Schuldigen hereinbricht — sie alle werden in einfach natürlicher, aus dem Stoffe selbst fließender Sprache dargestellt. In andern, weniger trüben Bildern blickt schalkhaft der gutmütige Spott des Dichters durch. Den Kesselflicker, dessen geheimnisvollen Ernst das ganze Dorf anstaunt, meinen wir mit seinem Granaden vor uns zu sehen, und der „treuen Haut," die jedem dient, die jeder lobt, und um die sich doch nie¬ mand kümmert, sind wir wohl alle schon begegnet. Die harte Beurteilung Beckers wurde sogar auf das „Rheinlied" aus¬ gedehnt. Während es einige als „Herausforderung" tadelten, machten ihm andre den Vorwurf, daß es nur eine „zahme, defensive Begeisterung" zeige. Nun sind aber Volkshymnen, im Gegensatz zu den eigentlichen Kriegsliedern, immer „defensiv." Die Wacht am Rhein ist es, sogar die Marseillaise, so oft sie auch später das Lied der Eroberungssucht wurde. Andre gestehen dem Liede zwar mancherlei Vorzüge zu, tadeln aber den „Mangel an Tiefe." Damit stellen sie eine Forderung, die ein Volkslied, zumal ein patriotisches, ebenfalls uicht erfüllen kann. Ein Volkslied darf nichts aussprechen, was durch Neuheit und Tiefe fremdartig berühren würde; es darf nur sagen, was in jeder Brust lebt, sein Wert besteht nur darin, wie es diese Empfindungen ausspricht. Diesen Wert hat man dem Nheinliede nie absprechen können. Es setzt schwung¬ voll und kräftig ein; es spricht den Grundgedanken gleich anfangs entschieden aus und weiß ihn wirksam bis zu der kräftigste,: Beteuerung am Ende zu steigern. Dazwischen enthält es in kurzen Zügen ein dichterisch schönes Bild, das alles vereinigt, was bei dem Zauberworte „der deutsche Rhein" in uns auftaucht: das Wunderland an seinen Ufern, die freien, frohen Menschen, die mahnenden, mächtigen Reste einer romantischen Vergangenheit, und das alles in Worten, die durchweg eigentümlich und bedeutend sind. Welche Wvrt- malerei liegt allein in der zweiten Strophe! Warum das Rheinlied trotz all dieser Vorzüge keine rechte „National¬ hymne" sein kann, wird uns klar, wenn wir in Gustav Freytags Betrachtung über die Erfordernisse eines Volksliedes lesen: „Der Soldat braucht ferner flüssige Melodien und Texte, solche, in denen nicht zu viele Anschauungen und schilderndes Detail zusammengedrängt ist." Dieses „schildernde Detail" hinderte eine dauernde Wirkung des Rheinlieds auf die breitern Massen, zumal als die Frage, der es seinen Ursprung dankte, zurückgetreten war, und weist ihm seinen Platz unter den Liedern an, in denen die Reize eines bestimmten deutschen Gaues von seinen Bewohnern heimatsfroh gepriesen werden. Freilich gehört es auch unter diesen Heimatsliedern heute uicht mehr zu den bekanntesten. Es liegt das, wie man schon bald nach seinem Erscheinen klagte, daran, daß die zahllosen Melodien hindernd und verwirrend wirkten. Es ist bei allen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/578>, abgerufen am 26.06.2024.