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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Nicolaus Becker und sein Rheinlied

deutschen Rhein" wurde hüben so laut gesungen, daß es selbst drüben gehört
wurde. Musset setzte sich in einer gutgelcmnten (?) Stunde hin und schrieb
am 1. Juni(!) 1841 die poetische Antwort, die freilich nicht sehr verbind¬
lich für uns ist; aber unser Patriotismus ist doch nicht so einseitig, daß
er uns für die Überlegenheit der Mussctschen Antwort blind machen sollte.
Die Antwort Müssets ist wirklich bedeutender als die Herausforderung."
Diese Behauptung wird keinen unbefangnen Leser der beiden Gedichte über¬
zeugen. Daß Musset als Dichter viel bedeutender als Becker ist, wird niemand
in Frage stellen; daß er ihm aber in diesem Gedichte nachsteht, ist ebenso
sicher. Was bietet er wohl in seinem Liede, das man mit dem geschlossenen
Bilde vergleichen könnte, worin Becker alles das zusammenfaßt, was uns den
Rhein und das Leben an seinen Ufern als ein Wunderland der Romantik er¬
scheinen läßt? Seine "poetische" Antwort enthält kein dichterisch schönes Bild
(der Teil der letzten Strophe, den man dagegen anführen könnte, wiederholt
nur Beckers Worte), keinen poetischen Gedanken. Es atmet nur den Hohn
und Hochmut des Cäsarismus. Wer in Musset ein bei aller Zerrissenheit
doch tiefes Gemüt von wunderbarer Feinheit und Wahrheit der Empfindung
ehrt, wird sein Rheinlied nur bedauern können. Wenn er uns im übrigen
höhnisch rät, unsre "Bedientenjacke" im Rhein zu waschen, so hat Deutschland
glücklicherweise nie eine Zwangsjacke getragen wie die, in der sich Frankreich
unter zwei Napoleonen wohlfühlte. Ebenso unberechtigt ist der Spott über
"des letzten Manns Gebein" im Munde des Franzosen, dem in der Geschichte
seines Landes die volltönende Phrase etwas so gewöhnliches ist.

Während aber Lindans Urteil doch noch die Möglichkeit einer Erörterung
zuläßt, erscheint folgende Stelle aus Hillebrands Geschichte Frankreichs (2. Bd.,
Seite 436) ganz unerklärlich. "Der größte Dichter Frankreichs ließ sich
hinreißen, auf die geschmacklose Herausforderung mit mehr Poesie, aber auch
mit schnvderm Übermut zu antworten." Die Worte "Herausforderung, ge¬
schmacklos, Übermut und schnöde" sind in ihrer landläufigen Bedeutung doch
nicht im entferntesten auf ein Lied anwendbar, das nur als Antwort auf
eine Herausforderung mit Würde und Ruhe die Erhaltung heiligen Besitzes
gelobte.

Die große Zahl der deutscheu Dichter, die sich in gleichem Sinne wie
Becker und zum Teil mit Beziehung auf die Gedanken und Worte seines
Liedes gegen die französische Anmaßung erhoben, hier vorzuführen, verbietet
der Raum. Es liegt ans der Hand, daß bei vielen die gute Gesinnung
mancherlei Mängel entschuldigen muß. Übrigens wurde die Beurteilung des
Nheinliedes durch den Parteistandpunkt vielfach beeinflußt.

Daß Arndt dem Dichter des Rheinliedes zujubelte, ist selbstverständlich.
Sein "Lied vom Rhein an Niklas Becker" ist der hellste Klang in dem viel¬
stimmigen Chor, der den jungen Sänger begrüßte:


Nicolaus Becker und sein Rheinlied

deutschen Rhein« wurde hüben so laut gesungen, daß es selbst drüben gehört
wurde. Musset setzte sich in einer gutgelcmnten (?) Stunde hin und schrieb
am 1. Juni(!) 1841 die poetische Antwort, die freilich nicht sehr verbind¬
lich für uns ist; aber unser Patriotismus ist doch nicht so einseitig, daß
er uns für die Überlegenheit der Mussctschen Antwort blind machen sollte.
Die Antwort Müssets ist wirklich bedeutender als die Herausforderung."
Diese Behauptung wird keinen unbefangnen Leser der beiden Gedichte über¬
zeugen. Daß Musset als Dichter viel bedeutender als Becker ist, wird niemand
in Frage stellen; daß er ihm aber in diesem Gedichte nachsteht, ist ebenso
sicher. Was bietet er wohl in seinem Liede, das man mit dem geschlossenen
Bilde vergleichen könnte, worin Becker alles das zusammenfaßt, was uns den
Rhein und das Leben an seinen Ufern als ein Wunderland der Romantik er¬
scheinen läßt? Seine „poetische" Antwort enthält kein dichterisch schönes Bild
(der Teil der letzten Strophe, den man dagegen anführen könnte, wiederholt
nur Beckers Worte), keinen poetischen Gedanken. Es atmet nur den Hohn
und Hochmut des Cäsarismus. Wer in Musset ein bei aller Zerrissenheit
doch tiefes Gemüt von wunderbarer Feinheit und Wahrheit der Empfindung
ehrt, wird sein Rheinlied nur bedauern können. Wenn er uns im übrigen
höhnisch rät, unsre „Bedientenjacke" im Rhein zu waschen, so hat Deutschland
glücklicherweise nie eine Zwangsjacke getragen wie die, in der sich Frankreich
unter zwei Napoleonen wohlfühlte. Ebenso unberechtigt ist der Spott über
„des letzten Manns Gebein" im Munde des Franzosen, dem in der Geschichte
seines Landes die volltönende Phrase etwas so gewöhnliches ist.

Während aber Lindans Urteil doch noch die Möglichkeit einer Erörterung
zuläßt, erscheint folgende Stelle aus Hillebrands Geschichte Frankreichs (2. Bd.,
Seite 436) ganz unerklärlich. „Der größte Dichter Frankreichs ließ sich
hinreißen, auf die geschmacklose Herausforderung mit mehr Poesie, aber auch
mit schnvderm Übermut zu antworten." Die Worte „Herausforderung, ge¬
schmacklos, Übermut und schnöde" sind in ihrer landläufigen Bedeutung doch
nicht im entferntesten auf ein Lied anwendbar, das nur als Antwort auf
eine Herausforderung mit Würde und Ruhe die Erhaltung heiligen Besitzes
gelobte.

Die große Zahl der deutscheu Dichter, die sich in gleichem Sinne wie
Becker und zum Teil mit Beziehung auf die Gedanken und Worte seines
Liedes gegen die französische Anmaßung erhoben, hier vorzuführen, verbietet
der Raum. Es liegt ans der Hand, daß bei vielen die gute Gesinnung
mancherlei Mängel entschuldigen muß. Übrigens wurde die Beurteilung des
Nheinliedes durch den Parteistandpunkt vielfach beeinflußt.

Daß Arndt dem Dichter des Rheinliedes zujubelte, ist selbstverständlich.
Sein „Lied vom Rhein an Niklas Becker" ist der hellste Klang in dem viel¬
stimmigen Chor, der den jungen Sänger begrüßte:


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[0573] Nicolaus Becker und sein Rheinlied deutschen Rhein« wurde hüben so laut gesungen, daß es selbst drüben gehört wurde. Musset setzte sich in einer gutgelcmnten (?) Stunde hin und schrieb am 1. Juni(!) 1841 die poetische Antwort, die freilich nicht sehr verbind¬ lich für uns ist; aber unser Patriotismus ist doch nicht so einseitig, daß er uns für die Überlegenheit der Mussctschen Antwort blind machen sollte. Die Antwort Müssets ist wirklich bedeutender als die Herausforderung." Diese Behauptung wird keinen unbefangnen Leser der beiden Gedichte über¬ zeugen. Daß Musset als Dichter viel bedeutender als Becker ist, wird niemand in Frage stellen; daß er ihm aber in diesem Gedichte nachsteht, ist ebenso sicher. Was bietet er wohl in seinem Liede, das man mit dem geschlossenen Bilde vergleichen könnte, worin Becker alles das zusammenfaßt, was uns den Rhein und das Leben an seinen Ufern als ein Wunderland der Romantik er¬ scheinen läßt? Seine „poetische" Antwort enthält kein dichterisch schönes Bild (der Teil der letzten Strophe, den man dagegen anführen könnte, wiederholt nur Beckers Worte), keinen poetischen Gedanken. Es atmet nur den Hohn und Hochmut des Cäsarismus. Wer in Musset ein bei aller Zerrissenheit doch tiefes Gemüt von wunderbarer Feinheit und Wahrheit der Empfindung ehrt, wird sein Rheinlied nur bedauern können. Wenn er uns im übrigen höhnisch rät, unsre „Bedientenjacke" im Rhein zu waschen, so hat Deutschland glücklicherweise nie eine Zwangsjacke getragen wie die, in der sich Frankreich unter zwei Napoleonen wohlfühlte. Ebenso unberechtigt ist der Spott über „des letzten Manns Gebein" im Munde des Franzosen, dem in der Geschichte seines Landes die volltönende Phrase etwas so gewöhnliches ist. Während aber Lindans Urteil doch noch die Möglichkeit einer Erörterung zuläßt, erscheint folgende Stelle aus Hillebrands Geschichte Frankreichs (2. Bd., Seite 436) ganz unerklärlich. „Der größte Dichter Frankreichs ließ sich hinreißen, auf die geschmacklose Herausforderung mit mehr Poesie, aber auch mit schnvderm Übermut zu antworten." Die Worte „Herausforderung, ge¬ schmacklos, Übermut und schnöde" sind in ihrer landläufigen Bedeutung doch nicht im entferntesten auf ein Lied anwendbar, das nur als Antwort auf eine Herausforderung mit Würde und Ruhe die Erhaltung heiligen Besitzes gelobte. Die große Zahl der deutscheu Dichter, die sich in gleichem Sinne wie Becker und zum Teil mit Beziehung auf die Gedanken und Worte seines Liedes gegen die französische Anmaßung erhoben, hier vorzuführen, verbietet der Raum. Es liegt ans der Hand, daß bei vielen die gute Gesinnung mancherlei Mängel entschuldigen muß. Übrigens wurde die Beurteilung des Nheinliedes durch den Parteistandpunkt vielfach beeinflußt. Daß Arndt dem Dichter des Rheinliedes zujubelte, ist selbstverständlich. Sein „Lied vom Rhein an Niklas Becker" ist der hellste Klang in dem viel¬ stimmigen Chor, der den jungen Sänger begrüßte:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/573>, abgerufen am 26.06.2024.