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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Nicolaus Becker und sein Rheinlied

holländischen Grenze. Hier war eine seiner beiden Stiefschwestern aus einer
frühern Ehe seines Vaters verheiratet. In dem Hause des Schwagers, des
Friedensgerichtsschreibers Schwarz, bereitete sich der Dichter für die zweite
Prüfung vor; nach einer andern Nachricht ist er schon damals entschlossen
gewesen, in die Laufbahn eines Gerichtsschreibers überzutreten, da ihm seine
Vermögensverhältnisse ein jahrelanges Abwarten nicht gestatteten. "Politik
und Tagesgeschichte waren ihm damals so gleichgiltig, daß er seinem Freunde
Matzerath förmlich einen Vorwurf daraus machte, wie er sein Talent an
Zeitungsartikel verschwenden könne."

Matzerath hatte einen der Aufsätze geschrieben, in denen die Augsburger
Allgemeine Zeitung Lamartines Hinweisen auf die Rheingrenze entgegentrat.
Als an einem Julitage Becker den Freund in seinem Elternhause in Linnig
besuchte, wurde im Verlauf eines angeregten politischen Gesprächs auch dieser
Aufsatz vorgelesen. "Tags darauf schickte Becker von Geilenlirchen "als Frucht
des gestrigen Disputs" das Nheinlied an Matzerath, der es einige Tage später
im Garten der Löwenburg zu Unkel am Rhein seinen Freunden und Mit¬
herausgeber" des Rheinischen Jahrbuchs, Freiligrath und Simrock, vorlas,
worauf es, mit der seine Bestimmung kennzeichnenden Überschrift "An Alphons
de Lamartine" versehen, nebst einigen andern Gedichten Beckers zum Abdruck
im zweiten Bande des Jahrbuchs bestimmt wurde."

An eine besondre Wirkung des Liedes auf die politische Stimmung dachten
also die Herausgeber nicht, als sie es für eine spätere Veröffentlichung nur
um seiner selbst willen auswählten. Seine mächtige politische Wirkung wurde
durch einen Zufall entdeckt, als durch eiuen Vetter Beckers, den Oberbürger¬
meister von Bonn, Oppenhoff, das Lied unter der Überschrift "Der deutsche
Rhein" in der Trierer Zeitung vom 18. September erschien. Schon dieser
erste Abdruck hatte in dem kleinen Leserkreise der Trierer Zeitung denselben
Erfolg, den das Lied dann drei Wochen später durch die Kölnische Zeitung
in den weitesten Kreisen erlangen sollte. Einige Tage darauf mußte die Zeitung
den vollen Namen des Dichters (er war nur als "N. B. a. G." bezeichnet
gewesen) bekannt machen. Es wurde auch in Trier schon komponirt und ge¬
sungen, ja es erschienen schon Nachahmungen, z. B. Die deutsche Mosel,
Mosel und Rhein.

Dann kam die Veröffentlichung vom 8. Oktober, und mit ihr der Ruhm,
der Ruhm in seiner beglückendsten Gestalt. Was der Sänger in einer ge¬
hobnen Stunde dichterisch empfunden hatte, klang ihm nun von aller Munde
entgegen. Und fürwahr, es giebt kein Lied, das unmittelbarer gewirkt Hütte.
Die "Wacht am Rhein" ward der Ausdruck einer noch mächtigern Begeisterung,
aber erst, nachdem sie dreißig Jahre hindurch fast unbekannt gewesen war.
Die Marseillaise drang nicht so blitzartig durch. Die Begeisterung der Be¬
freiungskriege heftete sich nicht an ein einzelnes Lied, und alle unsre andern


Nicolaus Becker und sein Rheinlied

holländischen Grenze. Hier war eine seiner beiden Stiefschwestern aus einer
frühern Ehe seines Vaters verheiratet. In dem Hause des Schwagers, des
Friedensgerichtsschreibers Schwarz, bereitete sich der Dichter für die zweite
Prüfung vor; nach einer andern Nachricht ist er schon damals entschlossen
gewesen, in die Laufbahn eines Gerichtsschreibers überzutreten, da ihm seine
Vermögensverhältnisse ein jahrelanges Abwarten nicht gestatteten. „Politik
und Tagesgeschichte waren ihm damals so gleichgiltig, daß er seinem Freunde
Matzerath förmlich einen Vorwurf daraus machte, wie er sein Talent an
Zeitungsartikel verschwenden könne."

Matzerath hatte einen der Aufsätze geschrieben, in denen die Augsburger
Allgemeine Zeitung Lamartines Hinweisen auf die Rheingrenze entgegentrat.
Als an einem Julitage Becker den Freund in seinem Elternhause in Linnig
besuchte, wurde im Verlauf eines angeregten politischen Gesprächs auch dieser
Aufsatz vorgelesen. „Tags darauf schickte Becker von Geilenlirchen »als Frucht
des gestrigen Disputs« das Nheinlied an Matzerath, der es einige Tage später
im Garten der Löwenburg zu Unkel am Rhein seinen Freunden und Mit¬
herausgeber» des Rheinischen Jahrbuchs, Freiligrath und Simrock, vorlas,
worauf es, mit der seine Bestimmung kennzeichnenden Überschrift »An Alphons
de Lamartine« versehen, nebst einigen andern Gedichten Beckers zum Abdruck
im zweiten Bande des Jahrbuchs bestimmt wurde."

An eine besondre Wirkung des Liedes auf die politische Stimmung dachten
also die Herausgeber nicht, als sie es für eine spätere Veröffentlichung nur
um seiner selbst willen auswählten. Seine mächtige politische Wirkung wurde
durch einen Zufall entdeckt, als durch eiuen Vetter Beckers, den Oberbürger¬
meister von Bonn, Oppenhoff, das Lied unter der Überschrift „Der deutsche
Rhein" in der Trierer Zeitung vom 18. September erschien. Schon dieser
erste Abdruck hatte in dem kleinen Leserkreise der Trierer Zeitung denselben
Erfolg, den das Lied dann drei Wochen später durch die Kölnische Zeitung
in den weitesten Kreisen erlangen sollte. Einige Tage darauf mußte die Zeitung
den vollen Namen des Dichters (er war nur als „N. B. a. G." bezeichnet
gewesen) bekannt machen. Es wurde auch in Trier schon komponirt und ge¬
sungen, ja es erschienen schon Nachahmungen, z. B. Die deutsche Mosel,
Mosel und Rhein.

Dann kam die Veröffentlichung vom 8. Oktober, und mit ihr der Ruhm,
der Ruhm in seiner beglückendsten Gestalt. Was der Sänger in einer ge¬
hobnen Stunde dichterisch empfunden hatte, klang ihm nun von aller Munde
entgegen. Und fürwahr, es giebt kein Lied, das unmittelbarer gewirkt Hütte.
Die „Wacht am Rhein" ward der Ausdruck einer noch mächtigern Begeisterung,
aber erst, nachdem sie dreißig Jahre hindurch fast unbekannt gewesen war.
Die Marseillaise drang nicht so blitzartig durch. Die Begeisterung der Be¬
freiungskriege heftete sich nicht an ein einzelnes Lied, und alle unsre andern


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[0570] Nicolaus Becker und sein Rheinlied holländischen Grenze. Hier war eine seiner beiden Stiefschwestern aus einer frühern Ehe seines Vaters verheiratet. In dem Hause des Schwagers, des Friedensgerichtsschreibers Schwarz, bereitete sich der Dichter für die zweite Prüfung vor; nach einer andern Nachricht ist er schon damals entschlossen gewesen, in die Laufbahn eines Gerichtsschreibers überzutreten, da ihm seine Vermögensverhältnisse ein jahrelanges Abwarten nicht gestatteten. „Politik und Tagesgeschichte waren ihm damals so gleichgiltig, daß er seinem Freunde Matzerath förmlich einen Vorwurf daraus machte, wie er sein Talent an Zeitungsartikel verschwenden könne." Matzerath hatte einen der Aufsätze geschrieben, in denen die Augsburger Allgemeine Zeitung Lamartines Hinweisen auf die Rheingrenze entgegentrat. Als an einem Julitage Becker den Freund in seinem Elternhause in Linnig besuchte, wurde im Verlauf eines angeregten politischen Gesprächs auch dieser Aufsatz vorgelesen. „Tags darauf schickte Becker von Geilenlirchen »als Frucht des gestrigen Disputs« das Nheinlied an Matzerath, der es einige Tage später im Garten der Löwenburg zu Unkel am Rhein seinen Freunden und Mit¬ herausgeber» des Rheinischen Jahrbuchs, Freiligrath und Simrock, vorlas, worauf es, mit der seine Bestimmung kennzeichnenden Überschrift »An Alphons de Lamartine« versehen, nebst einigen andern Gedichten Beckers zum Abdruck im zweiten Bande des Jahrbuchs bestimmt wurde." An eine besondre Wirkung des Liedes auf die politische Stimmung dachten also die Herausgeber nicht, als sie es für eine spätere Veröffentlichung nur um seiner selbst willen auswählten. Seine mächtige politische Wirkung wurde durch einen Zufall entdeckt, als durch eiuen Vetter Beckers, den Oberbürger¬ meister von Bonn, Oppenhoff, das Lied unter der Überschrift „Der deutsche Rhein" in der Trierer Zeitung vom 18. September erschien. Schon dieser erste Abdruck hatte in dem kleinen Leserkreise der Trierer Zeitung denselben Erfolg, den das Lied dann drei Wochen später durch die Kölnische Zeitung in den weitesten Kreisen erlangen sollte. Einige Tage darauf mußte die Zeitung den vollen Namen des Dichters (er war nur als „N. B. a. G." bezeichnet gewesen) bekannt machen. Es wurde auch in Trier schon komponirt und ge¬ sungen, ja es erschienen schon Nachahmungen, z. B. Die deutsche Mosel, Mosel und Rhein. Dann kam die Veröffentlichung vom 8. Oktober, und mit ihr der Ruhm, der Ruhm in seiner beglückendsten Gestalt. Was der Sänger in einer ge¬ hobnen Stunde dichterisch empfunden hatte, klang ihm nun von aller Munde entgegen. Und fürwahr, es giebt kein Lied, das unmittelbarer gewirkt Hütte. Die „Wacht am Rhein" ward der Ausdruck einer noch mächtigern Begeisterung, aber erst, nachdem sie dreißig Jahre hindurch fast unbekannt gewesen war. Die Marseillaise drang nicht so blitzartig durch. Die Begeisterung der Be¬ freiungskriege heftete sich nicht an ein einzelnes Lied, und alle unsre andern

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/570>, abgerufen am 26.06.2024.