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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Nicolaus Becker und sein Rheinlied
von W. Ungewitter

^WW
MMin Jahre 1840 blickte Deutschland freudig auf eine fünfund¬
zwanzigjährige Friedenszeit zurück. Groß und heftig war der
Streit der verschiednen Meinungen im Lande, aber in dem
Wunsche nach Fortdauer des Friedens stimmten alle überein.
Da begann sich Frankreich zu langweilen, und Louis Philipp,
obwohl selbst unkriegerisch, mußte sich dazu verstehen, dem Glvirebedürfnis
seines Volkes nachzugeben. Etwas Spielzeug, hoffte er, würde die wachsende
Ungeduld beschwichtigen. So wurde die Heimführung der Gebeine Napoleons
vorbereitet, und die Einweihung der Julisäule stand bevor. Aber wie immer,
dienten diese Beschwichtigungsmittel nur dazu, Begehrlichkeit und Abenteuerlust
jenseits der Vogesen zu steigern, und als auf Antrieb Englands die vier Gro߬
mächte mit Ausschluß Frankreichs zusammentraten, um in dem Streite zwischen
dem Sultan und seinem aufständischen Vasallen, dem Vizekönig von Ägypten,
zu vermitteln, da hatte Frankreich, da hatte Thiers, der Ministerpräsident,
was er brauchte: die Aussicht auf Krieg.

Nun wäre zu erwarten gewesen, daß sich die Erregung gegen England,
die Vormacht im Vierbunde, die einzige Macht, mit der sich Frankreichs Vor¬
teile im Orient berührten, gerichtet hätte. Aber nein, man rief einfach nach
dem Rhein, und das Verlangen nach einer Nheingrenze versöhnte, wie so oft,
alle widerstreitenden Meinungen in Frankreich. "Wie sonderbar, wenn es
irgendwo den Franzosen nicht ganz nach ihrem Sinne geht, so wollen sie gleich
zum Rhein," schrieb damals die Leipziger Allgemeine Zeitung, und sie wußte
diesen Satz mit Beispielen aus der österreichischen, spanischen und polnischen
Politik Frankreichs zu belegen. Genug, das französische Volk war wieder in
sich geeint, und auch die Julidynastie war einer Sorge ledig. "Lieber im
Rhein als in der Gosse der Revolution sterben," bekannte der Thronfolger.
Nach langer Zeit erklang die Marseillaise wieder, Thiers rüstete, und Louis
Philipp ließ den Dingen ihren Lauf.




Nicolaus Becker und sein Rheinlied
von W. Ungewitter

^WW
MMin Jahre 1840 blickte Deutschland freudig auf eine fünfund¬
zwanzigjährige Friedenszeit zurück. Groß und heftig war der
Streit der verschiednen Meinungen im Lande, aber in dem
Wunsche nach Fortdauer des Friedens stimmten alle überein.
Da begann sich Frankreich zu langweilen, und Louis Philipp,
obwohl selbst unkriegerisch, mußte sich dazu verstehen, dem Glvirebedürfnis
seines Volkes nachzugeben. Etwas Spielzeug, hoffte er, würde die wachsende
Ungeduld beschwichtigen. So wurde die Heimführung der Gebeine Napoleons
vorbereitet, und die Einweihung der Julisäule stand bevor. Aber wie immer,
dienten diese Beschwichtigungsmittel nur dazu, Begehrlichkeit und Abenteuerlust
jenseits der Vogesen zu steigern, und als auf Antrieb Englands die vier Gro߬
mächte mit Ausschluß Frankreichs zusammentraten, um in dem Streite zwischen
dem Sultan und seinem aufständischen Vasallen, dem Vizekönig von Ägypten,
zu vermitteln, da hatte Frankreich, da hatte Thiers, der Ministerpräsident,
was er brauchte: die Aussicht auf Krieg.

Nun wäre zu erwarten gewesen, daß sich die Erregung gegen England,
die Vormacht im Vierbunde, die einzige Macht, mit der sich Frankreichs Vor¬
teile im Orient berührten, gerichtet hätte. Aber nein, man rief einfach nach
dem Rhein, und das Verlangen nach einer Nheingrenze versöhnte, wie so oft,
alle widerstreitenden Meinungen in Frankreich. „Wie sonderbar, wenn es
irgendwo den Franzosen nicht ganz nach ihrem Sinne geht, so wollen sie gleich
zum Rhein," schrieb damals die Leipziger Allgemeine Zeitung, und sie wußte
diesen Satz mit Beispielen aus der österreichischen, spanischen und polnischen
Politik Frankreichs zu belegen. Genug, das französische Volk war wieder in
sich geeint, und auch die Julidynastie war einer Sorge ledig. „Lieber im
Rhein als in der Gosse der Revolution sterben," bekannte der Thronfolger.
Nach langer Zeit erklang die Marseillaise wieder, Thiers rüstete, und Louis
Philipp ließ den Dingen ihren Lauf.


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[0566] [Abbildung] Nicolaus Becker und sein Rheinlied von W. Ungewitter ^WW MMin Jahre 1840 blickte Deutschland freudig auf eine fünfund¬ zwanzigjährige Friedenszeit zurück. Groß und heftig war der Streit der verschiednen Meinungen im Lande, aber in dem Wunsche nach Fortdauer des Friedens stimmten alle überein. Da begann sich Frankreich zu langweilen, und Louis Philipp, obwohl selbst unkriegerisch, mußte sich dazu verstehen, dem Glvirebedürfnis seines Volkes nachzugeben. Etwas Spielzeug, hoffte er, würde die wachsende Ungeduld beschwichtigen. So wurde die Heimführung der Gebeine Napoleons vorbereitet, und die Einweihung der Julisäule stand bevor. Aber wie immer, dienten diese Beschwichtigungsmittel nur dazu, Begehrlichkeit und Abenteuerlust jenseits der Vogesen zu steigern, und als auf Antrieb Englands die vier Gro߬ mächte mit Ausschluß Frankreichs zusammentraten, um in dem Streite zwischen dem Sultan und seinem aufständischen Vasallen, dem Vizekönig von Ägypten, zu vermitteln, da hatte Frankreich, da hatte Thiers, der Ministerpräsident, was er brauchte: die Aussicht auf Krieg. Nun wäre zu erwarten gewesen, daß sich die Erregung gegen England, die Vormacht im Vierbunde, die einzige Macht, mit der sich Frankreichs Vor¬ teile im Orient berührten, gerichtet hätte. Aber nein, man rief einfach nach dem Rhein, und das Verlangen nach einer Nheingrenze versöhnte, wie so oft, alle widerstreitenden Meinungen in Frankreich. „Wie sonderbar, wenn es irgendwo den Franzosen nicht ganz nach ihrem Sinne geht, so wollen sie gleich zum Rhein," schrieb damals die Leipziger Allgemeine Zeitung, und sie wußte diesen Satz mit Beispielen aus der österreichischen, spanischen und polnischen Politik Frankreichs zu belegen. Genug, das französische Volk war wieder in sich geeint, und auch die Julidynastie war einer Sorge ledig. „Lieber im Rhein als in der Gosse der Revolution sterben," bekannte der Thronfolger. Nach langer Zeit erklang die Marseillaise wieder, Thiers rüstete, und Louis Philipp ließ den Dingen ihren Lauf.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/566>, abgerufen am 26.06.2024.