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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Politische Anmerkungen zur italienischen Litteraturgeschichte

Wegen seiner schönen Prosa im Boceaeeiostil, denn seine Verse, wenigstens
die italienischen, gelten nicht viel. An die Stelle einer Nationallitteratur war
also, so darf man jetzt sagen, eine Nationälgrammatik getreten. Oft genug
kann man es ausgesprochen finden, daß ein Land, dem die politische Einigung
versagt sei, desto höhern Wert auf das einigende Band einer möglichst voll-
kommnen Schriftsprache legen müsse. Erinnert uns das nicht wieder an unsre
eigne romantische Schule und an die Entstehung der deutschen Sprach- und
Altertumswissenschaft? Ja, aber doch nur äußerlich, denn das Wesen ist
grundverschieden. Unsre deutschen Gelehrten hatten damals etwas von der
Art der Dichter angenommen, in Italien aber waren die Dichter zugleich und
zum Teil sogar vorwiegend Gelehrte, und die sprachgelehrten aus dem Kreise
der Crusea stehen, wie die pedantische Regel, dem lebendigen Sprachgebrauch
und den Dichtern, die ihn für sich in Anspruch nehmen, feindlich gegenüber.

So ist denn gekommen, daß auf die unglaubliche Fruchtbarkeit des einen
Jahrhunderts, das drei große und gleich vielseitige Dichter und daneben sehr
vollendete Geschichtschreiber, Moralisten und Erzähler hervorgebracht hatte,
zwei Jahrhunderte folgten, die zwar immer noch interessant sind, aber an
Inhalt und Tendenz ganz verschieden. Italien hat nur uoch einen wirklich
bedeutenden Dichter wieder gehabt, Ariost. Alles andre, was an Litteratur
vorliegt, sind Vorstufen zu Leistungen, die nie erreicht worden sind, oder Nach¬
ahmungen früherer Erscheinungen, bei denen, wenn sie poetisch find, die Form
die Hauptsache ist, während in der Prosa der Inhalt uoch eher einen wichtigern
Ausgangspunkt zeigen kann. Geschichtlich und als Ausdruck der höchsten
geistigen Kultur find die meisten dieser Zeugnisse von großem Interesse, und
wir staunen, wie früh hier alles das zum Abschluß gekommen ist, worüber
man sich in Nordeuropa erst nach Jahrhunderten verständigte. Aber eine
volkstümliche Dichtung, die durch Raum und Zeit immer wieder verständlich
wird und darum weiter lebt, ist nicht darunter. Einer solchen mußte vielmehr
alles, was jene Kultur hat erblühen machen, im Wege sein. Und da die
Italiener an der schönen Form und der äußern Erscheinung ein um so größeres
Gefallen haben, so haben sie dieser Litteratur gegenüber allmählich für ihr
Gemüt keinen Mangel mehr empfunden, und aus ganz andern Gründen höchstens
klagen ihre Historiker, daß seit Dante kein Dichter mehr ernstlich von Waffen
und Vaterland gesungen habe. Dessen haben wir ja bei Gelegenheit des jungen
Italiens schon gedacht.

(Schluß folgt)




Politische Anmerkungen zur italienischen Litteraturgeschichte

Wegen seiner schönen Prosa im Boceaeeiostil, denn seine Verse, wenigstens
die italienischen, gelten nicht viel. An die Stelle einer Nationallitteratur war
also, so darf man jetzt sagen, eine Nationälgrammatik getreten. Oft genug
kann man es ausgesprochen finden, daß ein Land, dem die politische Einigung
versagt sei, desto höhern Wert auf das einigende Band einer möglichst voll-
kommnen Schriftsprache legen müsse. Erinnert uns das nicht wieder an unsre
eigne romantische Schule und an die Entstehung der deutschen Sprach- und
Altertumswissenschaft? Ja, aber doch nur äußerlich, denn das Wesen ist
grundverschieden. Unsre deutschen Gelehrten hatten damals etwas von der
Art der Dichter angenommen, in Italien aber waren die Dichter zugleich und
zum Teil sogar vorwiegend Gelehrte, und die sprachgelehrten aus dem Kreise
der Crusea stehen, wie die pedantische Regel, dem lebendigen Sprachgebrauch
und den Dichtern, die ihn für sich in Anspruch nehmen, feindlich gegenüber.

So ist denn gekommen, daß auf die unglaubliche Fruchtbarkeit des einen
Jahrhunderts, das drei große und gleich vielseitige Dichter und daneben sehr
vollendete Geschichtschreiber, Moralisten und Erzähler hervorgebracht hatte,
zwei Jahrhunderte folgten, die zwar immer noch interessant sind, aber an
Inhalt und Tendenz ganz verschieden. Italien hat nur uoch einen wirklich
bedeutenden Dichter wieder gehabt, Ariost. Alles andre, was an Litteratur
vorliegt, sind Vorstufen zu Leistungen, die nie erreicht worden sind, oder Nach¬
ahmungen früherer Erscheinungen, bei denen, wenn sie poetisch find, die Form
die Hauptsache ist, während in der Prosa der Inhalt uoch eher einen wichtigern
Ausgangspunkt zeigen kann. Geschichtlich und als Ausdruck der höchsten
geistigen Kultur find die meisten dieser Zeugnisse von großem Interesse, und
wir staunen, wie früh hier alles das zum Abschluß gekommen ist, worüber
man sich in Nordeuropa erst nach Jahrhunderten verständigte. Aber eine
volkstümliche Dichtung, die durch Raum und Zeit immer wieder verständlich
wird und darum weiter lebt, ist nicht darunter. Einer solchen mußte vielmehr
alles, was jene Kultur hat erblühen machen, im Wege sein. Und da die
Italiener an der schönen Form und der äußern Erscheinung ein um so größeres
Gefallen haben, so haben sie dieser Litteratur gegenüber allmählich für ihr
Gemüt keinen Mangel mehr empfunden, und aus ganz andern Gründen höchstens
klagen ihre Historiker, daß seit Dante kein Dichter mehr ernstlich von Waffen
und Vaterland gesungen habe. Dessen haben wir ja bei Gelegenheit des jungen
Italiens schon gedacht.

(Schluß folgt)




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[0565] Politische Anmerkungen zur italienischen Litteraturgeschichte Wegen seiner schönen Prosa im Boceaeeiostil, denn seine Verse, wenigstens die italienischen, gelten nicht viel. An die Stelle einer Nationallitteratur war also, so darf man jetzt sagen, eine Nationälgrammatik getreten. Oft genug kann man es ausgesprochen finden, daß ein Land, dem die politische Einigung versagt sei, desto höhern Wert auf das einigende Band einer möglichst voll- kommnen Schriftsprache legen müsse. Erinnert uns das nicht wieder an unsre eigne romantische Schule und an die Entstehung der deutschen Sprach- und Altertumswissenschaft? Ja, aber doch nur äußerlich, denn das Wesen ist grundverschieden. Unsre deutschen Gelehrten hatten damals etwas von der Art der Dichter angenommen, in Italien aber waren die Dichter zugleich und zum Teil sogar vorwiegend Gelehrte, und die sprachgelehrten aus dem Kreise der Crusea stehen, wie die pedantische Regel, dem lebendigen Sprachgebrauch und den Dichtern, die ihn für sich in Anspruch nehmen, feindlich gegenüber. So ist denn gekommen, daß auf die unglaubliche Fruchtbarkeit des einen Jahrhunderts, das drei große und gleich vielseitige Dichter und daneben sehr vollendete Geschichtschreiber, Moralisten und Erzähler hervorgebracht hatte, zwei Jahrhunderte folgten, die zwar immer noch interessant sind, aber an Inhalt und Tendenz ganz verschieden. Italien hat nur uoch einen wirklich bedeutenden Dichter wieder gehabt, Ariost. Alles andre, was an Litteratur vorliegt, sind Vorstufen zu Leistungen, die nie erreicht worden sind, oder Nach¬ ahmungen früherer Erscheinungen, bei denen, wenn sie poetisch find, die Form die Hauptsache ist, während in der Prosa der Inhalt uoch eher einen wichtigern Ausgangspunkt zeigen kann. Geschichtlich und als Ausdruck der höchsten geistigen Kultur find die meisten dieser Zeugnisse von großem Interesse, und wir staunen, wie früh hier alles das zum Abschluß gekommen ist, worüber man sich in Nordeuropa erst nach Jahrhunderten verständigte. Aber eine volkstümliche Dichtung, die durch Raum und Zeit immer wieder verständlich wird und darum weiter lebt, ist nicht darunter. Einer solchen mußte vielmehr alles, was jene Kultur hat erblühen machen, im Wege sein. Und da die Italiener an der schönen Form und der äußern Erscheinung ein um so größeres Gefallen haben, so haben sie dieser Litteratur gegenüber allmählich für ihr Gemüt keinen Mangel mehr empfunden, und aus ganz andern Gründen höchstens klagen ihre Historiker, daß seit Dante kein Dichter mehr ernstlich von Waffen und Vaterland gesungen habe. Dessen haben wir ja bei Gelegenheit des jungen Italiens schon gedacht. (Schluß folgt)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/565>, abgerufen am 26.06.2024.