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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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politische Anmerkungen zur italienischen Litteraturgeschichte

verschiedensten Formen: Traktate, Dialoge, Briefe, Streitschriften, Widmungen.
Das alles ist in Italien schon sehr früh ausgebildet. Und es beeinflußt nun
natürlich die Dichtung selbst. Das Volkstümliche und Unmittelbare, das aus
der Empfindung Geborne wird als Ganzes immer seltener und tritt schließlich
völlig zurück, oder es bleibt höchstens, um als Eiuzelzug in der Kunstdichtung
mit Bewußtsein weiter verwendet zu werden. Jeder Art von Poesie merkt
man jetzt zuerst einen starken Zusatz von erzwungnem Nachdenken an. Sodann
tritt die Form in Sprache und Verskunst gegenüber dem Gedankengehalt ge¬
wöhnlich als das bedeutendere, immer als etwas für den Inhalt maßgebendes
hervor, und der größte Teil der Erzeugnisse dieser Litteratur erscheint uns
wie Übungen einer auf die Beherrschung gewisser Formen einstudirten Kunst¬
fertigkeit. Derselbe Mann schreibt italienisch und auch lateinisch, oder wenigstens'
er kann das in den ersten zwei bis drei Jahrhunderten nach Dantes Tod, er
schreibt ferner Verse und Prosa. Sind es italienische Verse, so steht im
Vordergründe die Lyrik mit ihren festen Formen, der Canzone und dem Sonett,
seltener sind Ballata. Madrigal und ähnliches, und immer fragt man, und
man fühlt, daß der Dichter zuerst diese Frage an sich selber gestellt hat: wie
verhält er sich zu Petrarca? ahmt er ihm nach, will er strenger sein, will
er ganz von ihm abweichen? Der Inhalt, ob Liebe, ob patriotische oder
moralische Betrachtung, ist Nebensache und entweder ganz gleichgiltig oder
höchstens durch Gelegenheit veranlaßt. Ist es italienische Prosa, so entsteht
wieder, seit Boccaccio geschrieben hat, zuerst die Frage: will der Schriftsteller
den Decamerone nachahmen in Sprachbau und Stil, in Wortwahl und in
dialektischen Gepräge, will er toskanisch schreiben, und zwar, je weiter nun
die Litteratur fortschreitet, will er alttoskanisch schreiben, also wesentlich
Boccaccio und den alten Schriftstellern folgen, oder auch dem neuen Sprach¬
gebrauch, oder endlich: will er über Toskana auch örtlich hinausgehen und,
wie einst Dante in jener Schrift über die Volkssprache angegeben hatte, eine
Sprache aus deu besten einzelnen Sprachgebieten zusammensetzen? Die Frage,
ob toskanisch oder nicht, bekam bald eine weitergehende Bedeutung. Sie hörte
auf, rein litterarisch zu sein, erhielt einen nationalen Hintergrund. Sie wurde
mit Leidenschaft erörtert und hat sogar zu körperlichen Angriffen und Meuchel¬
mord geführt, ehe sich noch am Ende des sechzehnten Jahrhunderts in Florenz
aus der ältern, philosophischen Akademie eine Sprachakademie abgezweigt hatte,
die "Crusca," die nun entschied, was in der Sprache Rechtens sein sollte. Sie
that damals gleich Tasso in den Bann und nahm, um ihn zu ärgern, Ariost,
den ältern Dichter desselben Hofes von Ferrara, unter die Klassiker ans. Den
Grafen Castiglione aber zitirte sie zur Strafe nur ein einzigesmal, weil er,
wie einst Dante, den Anspruch von Florenz, die einzig richtige Sprache zu
haben, nicht vertreten wollte. Aus rein sachlicher Erwägung hat sie nur
einen Nichttoskaner für kanonisch erklärt, den Venetianer Bembo, und zwar


politische Anmerkungen zur italienischen Litteraturgeschichte

verschiedensten Formen: Traktate, Dialoge, Briefe, Streitschriften, Widmungen.
Das alles ist in Italien schon sehr früh ausgebildet. Und es beeinflußt nun
natürlich die Dichtung selbst. Das Volkstümliche und Unmittelbare, das aus
der Empfindung Geborne wird als Ganzes immer seltener und tritt schließlich
völlig zurück, oder es bleibt höchstens, um als Eiuzelzug in der Kunstdichtung
mit Bewußtsein weiter verwendet zu werden. Jeder Art von Poesie merkt
man jetzt zuerst einen starken Zusatz von erzwungnem Nachdenken an. Sodann
tritt die Form in Sprache und Verskunst gegenüber dem Gedankengehalt ge¬
wöhnlich als das bedeutendere, immer als etwas für den Inhalt maßgebendes
hervor, und der größte Teil der Erzeugnisse dieser Litteratur erscheint uns
wie Übungen einer auf die Beherrschung gewisser Formen einstudirten Kunst¬
fertigkeit. Derselbe Mann schreibt italienisch und auch lateinisch, oder wenigstens'
er kann das in den ersten zwei bis drei Jahrhunderten nach Dantes Tod, er
schreibt ferner Verse und Prosa. Sind es italienische Verse, so steht im
Vordergründe die Lyrik mit ihren festen Formen, der Canzone und dem Sonett,
seltener sind Ballata. Madrigal und ähnliches, und immer fragt man, und
man fühlt, daß der Dichter zuerst diese Frage an sich selber gestellt hat: wie
verhält er sich zu Petrarca? ahmt er ihm nach, will er strenger sein, will
er ganz von ihm abweichen? Der Inhalt, ob Liebe, ob patriotische oder
moralische Betrachtung, ist Nebensache und entweder ganz gleichgiltig oder
höchstens durch Gelegenheit veranlaßt. Ist es italienische Prosa, so entsteht
wieder, seit Boccaccio geschrieben hat, zuerst die Frage: will der Schriftsteller
den Decamerone nachahmen in Sprachbau und Stil, in Wortwahl und in
dialektischen Gepräge, will er toskanisch schreiben, und zwar, je weiter nun
die Litteratur fortschreitet, will er alttoskanisch schreiben, also wesentlich
Boccaccio und den alten Schriftstellern folgen, oder auch dem neuen Sprach¬
gebrauch, oder endlich: will er über Toskana auch örtlich hinausgehen und,
wie einst Dante in jener Schrift über die Volkssprache angegeben hatte, eine
Sprache aus deu besten einzelnen Sprachgebieten zusammensetzen? Die Frage,
ob toskanisch oder nicht, bekam bald eine weitergehende Bedeutung. Sie hörte
auf, rein litterarisch zu sein, erhielt einen nationalen Hintergrund. Sie wurde
mit Leidenschaft erörtert und hat sogar zu körperlichen Angriffen und Meuchel¬
mord geführt, ehe sich noch am Ende des sechzehnten Jahrhunderts in Florenz
aus der ältern, philosophischen Akademie eine Sprachakademie abgezweigt hatte,
die „Crusca," die nun entschied, was in der Sprache Rechtens sein sollte. Sie
that damals gleich Tasso in den Bann und nahm, um ihn zu ärgern, Ariost,
den ältern Dichter desselben Hofes von Ferrara, unter die Klassiker ans. Den
Grafen Castiglione aber zitirte sie zur Strafe nur ein einzigesmal, weil er,
wie einst Dante, den Anspruch von Florenz, die einzig richtige Sprache zu
haben, nicht vertreten wollte. Aus rein sachlicher Erwägung hat sie nur
einen Nichttoskaner für kanonisch erklärt, den Venetianer Bembo, und zwar


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[0564] politische Anmerkungen zur italienischen Litteraturgeschichte verschiedensten Formen: Traktate, Dialoge, Briefe, Streitschriften, Widmungen. Das alles ist in Italien schon sehr früh ausgebildet. Und es beeinflußt nun natürlich die Dichtung selbst. Das Volkstümliche und Unmittelbare, das aus der Empfindung Geborne wird als Ganzes immer seltener und tritt schließlich völlig zurück, oder es bleibt höchstens, um als Eiuzelzug in der Kunstdichtung mit Bewußtsein weiter verwendet zu werden. Jeder Art von Poesie merkt man jetzt zuerst einen starken Zusatz von erzwungnem Nachdenken an. Sodann tritt die Form in Sprache und Verskunst gegenüber dem Gedankengehalt ge¬ wöhnlich als das bedeutendere, immer als etwas für den Inhalt maßgebendes hervor, und der größte Teil der Erzeugnisse dieser Litteratur erscheint uns wie Übungen einer auf die Beherrschung gewisser Formen einstudirten Kunst¬ fertigkeit. Derselbe Mann schreibt italienisch und auch lateinisch, oder wenigstens' er kann das in den ersten zwei bis drei Jahrhunderten nach Dantes Tod, er schreibt ferner Verse und Prosa. Sind es italienische Verse, so steht im Vordergründe die Lyrik mit ihren festen Formen, der Canzone und dem Sonett, seltener sind Ballata. Madrigal und ähnliches, und immer fragt man, und man fühlt, daß der Dichter zuerst diese Frage an sich selber gestellt hat: wie verhält er sich zu Petrarca? ahmt er ihm nach, will er strenger sein, will er ganz von ihm abweichen? Der Inhalt, ob Liebe, ob patriotische oder moralische Betrachtung, ist Nebensache und entweder ganz gleichgiltig oder höchstens durch Gelegenheit veranlaßt. Ist es italienische Prosa, so entsteht wieder, seit Boccaccio geschrieben hat, zuerst die Frage: will der Schriftsteller den Decamerone nachahmen in Sprachbau und Stil, in Wortwahl und in dialektischen Gepräge, will er toskanisch schreiben, und zwar, je weiter nun die Litteratur fortschreitet, will er alttoskanisch schreiben, also wesentlich Boccaccio und den alten Schriftstellern folgen, oder auch dem neuen Sprach¬ gebrauch, oder endlich: will er über Toskana auch örtlich hinausgehen und, wie einst Dante in jener Schrift über die Volkssprache angegeben hatte, eine Sprache aus deu besten einzelnen Sprachgebieten zusammensetzen? Die Frage, ob toskanisch oder nicht, bekam bald eine weitergehende Bedeutung. Sie hörte auf, rein litterarisch zu sein, erhielt einen nationalen Hintergrund. Sie wurde mit Leidenschaft erörtert und hat sogar zu körperlichen Angriffen und Meuchel¬ mord geführt, ehe sich noch am Ende des sechzehnten Jahrhunderts in Florenz aus der ältern, philosophischen Akademie eine Sprachakademie abgezweigt hatte, die „Crusca," die nun entschied, was in der Sprache Rechtens sein sollte. Sie that damals gleich Tasso in den Bann und nahm, um ihn zu ärgern, Ariost, den ältern Dichter desselben Hofes von Ferrara, unter die Klassiker ans. Den Grafen Castiglione aber zitirte sie zur Strafe nur ein einzigesmal, weil er, wie einst Dante, den Anspruch von Florenz, die einzig richtige Sprache zu haben, nicht vertreten wollte. Aus rein sachlicher Erwägung hat sie nur einen Nichttoskaner für kanonisch erklärt, den Venetianer Bembo, und zwar

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/564>, abgerufen am 26.06.2024.