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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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eingetreten ist, so ist es weniger verlockend, dem in Gedanken nachzugehen, als
das, was vorliegt, nämlich die italienische Litteratur seit Dante, unter dem
Politischen Gesichtspunkte zu betrachten. Die Geschichte der Litteratur eines
Volks erklärt manchmal den Gang seines politischen Lebens. Die Geschichte
der italienischen Litteratur lehrt nicht nur, daß diese Litteratur lange vor dem
jungen Italien abgeschlossen war, sondern sie macht es auch höchst wahrschein¬
lich, daß das Italien der europäischen Geschichte seine Aufgabe erfüllt hat.
Nach dem Haushalte der Weltgeschichte wäre es wohl begreiflich, daß Süd¬
europa, das zuerst der modernen Kultur geöffnet worden ist, auch am frühesten
in den Zustand der trägen Masse zurückfüllt. Für Griechenland liegt das zu
Tage. Bei Spanien und Portugal dürfte es wenig Widerspruch finden, und
daß demnächst Italien keinen großen Abstand mehr zeigt, läßt sich aus vielen
Anzeichen wahrnehmen. Gemeinsam ist diesen Stnatsgebilden die wirtschaft¬
liche Unzuverlässigkeit und zwar nicht als vorübergehende Folge zufälliger Ur¬
sachen, sondern als ein unheilbarer Zustand, der mit den Eigenschaften des
Volks, vor allem mit dem Mangel an Ehrlichkeit und Pflichtgefühl zusammen¬
hängt. An der Ausfuhr ist weniger der menschliche Fleiß beteiligt als die
Natur mit ihren unverdienten Gaben, und dem Defizit im Staatshaushalt
wird nicht durch Schaffung neuer Werte oder Sparsamkeit, sondern durch An¬
leihen und neue Steuern das Gleichgewicht gehalten, wenn nicht offner Bankerott
eintritt oder, wie letzthin in Italien, Zinsreduktion ihm näher führt. Die
wirtschaftliche Leistungsfähigkeit kann, auch wenn die allgemeine Moral tiefer
steht, ein Gemeinwesen eine Zeit lang erhalten und für die Wiederbelebung
aufbehalten. Wenn beide versagen, während die politische Bedeutung längst
geschwunden ist, wie bei Spanien und Portugal, oder künstlich aufrecht er¬
halten wird, wie bei Italien, oder überhaupt niemals vorhanden war, wie bei
dem modernen Griechenland, dann ist die Rolle eines Staats zu Ende gespielt,
wenn er auch als Ballast für das Gleichgewicht Europas noch weiter geführt
oder als Ausgangspunkt für eine europäische Frage noch genannt werden mag.
Der Gang einer Litteratur hat manchmal etwas folgerichtiges, der Zusammen-
hang ihrer einzelnen Erscheinungen ist verständlicher als die Geschichte manches
äußern Ereignisses. Die italienische Litteratur kann uns vielfach die politische
Geschichte Italiens erklären, und diese Aufklärung reicht bis zu der Gegenwart
herab und gestaltet sich dann zu einem richtigern Bilde und einem bessern Aus¬
blick in die Zukunft, als beides der unechte Patriotismus des jungen Italiens
hinterlassen hat.

Dante hat in seinem großen Gedichte für das Volk seine Ansicht über
den Staat dargelegt und noch ausführlicher in dem, wie mau annehmen darf,
nicht lange vor Kaiser Heinrichs VII. Ankunft lateinisch geschriebnen Traktat
über die Monarchie. Man hat in Italien sowohl wie bei uns diese seine
Politik wiederholt auf ihre praktische Durchführbarkeit geprüft und hat diese


Grenzboten III 1895 7g

eingetreten ist, so ist es weniger verlockend, dem in Gedanken nachzugehen, als
das, was vorliegt, nämlich die italienische Litteratur seit Dante, unter dem
Politischen Gesichtspunkte zu betrachten. Die Geschichte der Litteratur eines
Volks erklärt manchmal den Gang seines politischen Lebens. Die Geschichte
der italienischen Litteratur lehrt nicht nur, daß diese Litteratur lange vor dem
jungen Italien abgeschlossen war, sondern sie macht es auch höchst wahrschein¬
lich, daß das Italien der europäischen Geschichte seine Aufgabe erfüllt hat.
Nach dem Haushalte der Weltgeschichte wäre es wohl begreiflich, daß Süd¬
europa, das zuerst der modernen Kultur geöffnet worden ist, auch am frühesten
in den Zustand der trägen Masse zurückfüllt. Für Griechenland liegt das zu
Tage. Bei Spanien und Portugal dürfte es wenig Widerspruch finden, und
daß demnächst Italien keinen großen Abstand mehr zeigt, läßt sich aus vielen
Anzeichen wahrnehmen. Gemeinsam ist diesen Stnatsgebilden die wirtschaft¬
liche Unzuverlässigkeit und zwar nicht als vorübergehende Folge zufälliger Ur¬
sachen, sondern als ein unheilbarer Zustand, der mit den Eigenschaften des
Volks, vor allem mit dem Mangel an Ehrlichkeit und Pflichtgefühl zusammen¬
hängt. An der Ausfuhr ist weniger der menschliche Fleiß beteiligt als die
Natur mit ihren unverdienten Gaben, und dem Defizit im Staatshaushalt
wird nicht durch Schaffung neuer Werte oder Sparsamkeit, sondern durch An¬
leihen und neue Steuern das Gleichgewicht gehalten, wenn nicht offner Bankerott
eintritt oder, wie letzthin in Italien, Zinsreduktion ihm näher führt. Die
wirtschaftliche Leistungsfähigkeit kann, auch wenn die allgemeine Moral tiefer
steht, ein Gemeinwesen eine Zeit lang erhalten und für die Wiederbelebung
aufbehalten. Wenn beide versagen, während die politische Bedeutung längst
geschwunden ist, wie bei Spanien und Portugal, oder künstlich aufrecht er¬
halten wird, wie bei Italien, oder überhaupt niemals vorhanden war, wie bei
dem modernen Griechenland, dann ist die Rolle eines Staats zu Ende gespielt,
wenn er auch als Ballast für das Gleichgewicht Europas noch weiter geführt
oder als Ausgangspunkt für eine europäische Frage noch genannt werden mag.
Der Gang einer Litteratur hat manchmal etwas folgerichtiges, der Zusammen-
hang ihrer einzelnen Erscheinungen ist verständlicher als die Geschichte manches
äußern Ereignisses. Die italienische Litteratur kann uns vielfach die politische
Geschichte Italiens erklären, und diese Aufklärung reicht bis zu der Gegenwart
herab und gestaltet sich dann zu einem richtigern Bilde und einem bessern Aus¬
blick in die Zukunft, als beides der unechte Patriotismus des jungen Italiens
hinterlassen hat.

Dante hat in seinem großen Gedichte für das Volk seine Ansicht über
den Staat dargelegt und noch ausführlicher in dem, wie mau annehmen darf,
nicht lange vor Kaiser Heinrichs VII. Ankunft lateinisch geschriebnen Traktat
über die Monarchie. Man hat in Italien sowohl wie bei uns diese seine
Politik wiederholt auf ihre praktische Durchführbarkeit geprüft und hat diese


Grenzboten III 1895 7g
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[0561] eingetreten ist, so ist es weniger verlockend, dem in Gedanken nachzugehen, als das, was vorliegt, nämlich die italienische Litteratur seit Dante, unter dem Politischen Gesichtspunkte zu betrachten. Die Geschichte der Litteratur eines Volks erklärt manchmal den Gang seines politischen Lebens. Die Geschichte der italienischen Litteratur lehrt nicht nur, daß diese Litteratur lange vor dem jungen Italien abgeschlossen war, sondern sie macht es auch höchst wahrschein¬ lich, daß das Italien der europäischen Geschichte seine Aufgabe erfüllt hat. Nach dem Haushalte der Weltgeschichte wäre es wohl begreiflich, daß Süd¬ europa, das zuerst der modernen Kultur geöffnet worden ist, auch am frühesten in den Zustand der trägen Masse zurückfüllt. Für Griechenland liegt das zu Tage. Bei Spanien und Portugal dürfte es wenig Widerspruch finden, und daß demnächst Italien keinen großen Abstand mehr zeigt, läßt sich aus vielen Anzeichen wahrnehmen. Gemeinsam ist diesen Stnatsgebilden die wirtschaft¬ liche Unzuverlässigkeit und zwar nicht als vorübergehende Folge zufälliger Ur¬ sachen, sondern als ein unheilbarer Zustand, der mit den Eigenschaften des Volks, vor allem mit dem Mangel an Ehrlichkeit und Pflichtgefühl zusammen¬ hängt. An der Ausfuhr ist weniger der menschliche Fleiß beteiligt als die Natur mit ihren unverdienten Gaben, und dem Defizit im Staatshaushalt wird nicht durch Schaffung neuer Werte oder Sparsamkeit, sondern durch An¬ leihen und neue Steuern das Gleichgewicht gehalten, wenn nicht offner Bankerott eintritt oder, wie letzthin in Italien, Zinsreduktion ihm näher führt. Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit kann, auch wenn die allgemeine Moral tiefer steht, ein Gemeinwesen eine Zeit lang erhalten und für die Wiederbelebung aufbehalten. Wenn beide versagen, während die politische Bedeutung längst geschwunden ist, wie bei Spanien und Portugal, oder künstlich aufrecht er¬ halten wird, wie bei Italien, oder überhaupt niemals vorhanden war, wie bei dem modernen Griechenland, dann ist die Rolle eines Staats zu Ende gespielt, wenn er auch als Ballast für das Gleichgewicht Europas noch weiter geführt oder als Ausgangspunkt für eine europäische Frage noch genannt werden mag. Der Gang einer Litteratur hat manchmal etwas folgerichtiges, der Zusammen- hang ihrer einzelnen Erscheinungen ist verständlicher als die Geschichte manches äußern Ereignisses. Die italienische Litteratur kann uns vielfach die politische Geschichte Italiens erklären, und diese Aufklärung reicht bis zu der Gegenwart herab und gestaltet sich dann zu einem richtigern Bilde und einem bessern Aus¬ blick in die Zukunft, als beides der unechte Patriotismus des jungen Italiens hinterlassen hat. Dante hat in seinem großen Gedichte für das Volk seine Ansicht über den Staat dargelegt und noch ausführlicher in dem, wie mau annehmen darf, nicht lange vor Kaiser Heinrichs VII. Ankunft lateinisch geschriebnen Traktat über die Monarchie. Man hat in Italien sowohl wie bei uns diese seine Politik wiederholt auf ihre praktische Durchführbarkeit geprüft und hat diese Grenzboten III 1895 7g

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/561>, abgerufen am 26.06.2024.