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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Politische Anmerkungen zur italienischen Litteraturgeschichte

lebendige Inhalt fehlt. Wie richtig das ist, empfinden wir sofort, wenn wir
einmal einem wirklichen Inhalt, welcher Art er auch sei, gegenübertreten. So
bei Ginsti. Ihn belebt seine Vorliebe für die Sprache und die Sitte Toskanas.
Das ist auch eine Art von Patriotismus, und sie macht den Dichter genie߬
barer, als es die meisten andern sind. Die besten und für uns Deutsche ver¬
ständlichsten Gedanken hat das junge Italien dann entwickelt, wenn es sich an
den Dichter, der uns Deutschen vorzugsweise lieb ist, erinnerte und höhere
sittliche oder auch ernstgemeinte wirtschaftliche Fragen zu berühren versuchte.
Dann haben manche von ihnen auch das Gefühl gehabt, daß sie, politisch
schwach und gesellschaftlich zerrüttet, gegenüber ihren großen Ahnen doch recht
klein dastünden, und in diesem Gefühl sind die Italiener uns angenehmer, weil
sie denn natürlicher sind. Der Ernsthafteste von diesen, Giuseppe Parmi, ein
bescheidner Professor aus Mailand (gestorben 1799), gehört noch ganz dem
vorigen Jahrhundert an. Seine sozialpolitischen Lehrgedichte, "Morgen" und
"Mittag," in reimlosen Jamben, erschienen in der Mitte der sechziger Jahre
und ernährten die Reichen zur Arbeit und zur Teilnahme für die Minder¬
glücklichen. Sie sind damals mit großem Beifall aufgenommen worden, ent¬
halten eine ernste, anständige Auffassung der Lebensverhültnisse und manche
recht hübsche einzelne Stelle, aber Poesie ist das eigentlich nicht. Und nun
vollends die andern, die entweder Dante ausdrücklich ihren Tribut in wohl¬
gemeinten Sonetten brachten oder einzelne seiner Stoffe weiter bearbeiteten
oder endlich im ganzen und großen seinen Ton zu treffen suchten, sie werden
uus zwar wegen ihres guten Willens achtungswert sein, aber das muß auch
genügen. Italie wis, haben sie, wie einst Petrarca, gesungen, aber wahre
Dichter sind sie nicht geworden, und wenn ihnen auch das Verdienst gelassen
werden soll, daß die Saat redlicher Gedanken durch sie in manchem mensch¬
lichen Gemüte zu guter Gesinnung aufgegangen sein mag, so haben sie doch
so wenig wie einst Dante ihr Vaterland stärker, größer oder innerlich besser
machen können.

Aber was dem einen Dante nicht gelang, das Hütte vielleicht ein ganzes
Geschlecht von Dichtern und ähnlich strebenden Männern allmählich zu Wege
gebracht? Die Italiener haben es selbst oft hervorgehoben, daß auf Dante
kein irgendwie bedeutender Dichter von gleicher nationaler Richtung gefolgt ist.
Sie sind der Meinung, daß sonst manches in ihrem öffentlichen Leben anders
geworden wäre. Ebenso haben gewiß wenigstens die meisten Dichter des jungen
Italiens den ernsthaften Glauben gehabt, daß sie ihren Landsleuten noch einen
weitern Vorteil bieten könnten als den, den der Genuß wohlklingender Verse
gewährt. Wenn nun dieses zwar eitel Täuschung gewesen ist, so wird da¬
gegen die andre Frage, ob nicht eine anders gerichtete Nationallitteratur in
frühern Zeiten auch noch einen politischen Wert gehabt Hütte, unter bestimmten
Voraussetzungen bejaht werden dürfen. Aber weil das in Wirklichkeit nicht


Politische Anmerkungen zur italienischen Litteraturgeschichte

lebendige Inhalt fehlt. Wie richtig das ist, empfinden wir sofort, wenn wir
einmal einem wirklichen Inhalt, welcher Art er auch sei, gegenübertreten. So
bei Ginsti. Ihn belebt seine Vorliebe für die Sprache und die Sitte Toskanas.
Das ist auch eine Art von Patriotismus, und sie macht den Dichter genie߬
barer, als es die meisten andern sind. Die besten und für uns Deutsche ver¬
ständlichsten Gedanken hat das junge Italien dann entwickelt, wenn es sich an
den Dichter, der uns Deutschen vorzugsweise lieb ist, erinnerte und höhere
sittliche oder auch ernstgemeinte wirtschaftliche Fragen zu berühren versuchte.
Dann haben manche von ihnen auch das Gefühl gehabt, daß sie, politisch
schwach und gesellschaftlich zerrüttet, gegenüber ihren großen Ahnen doch recht
klein dastünden, und in diesem Gefühl sind die Italiener uns angenehmer, weil
sie denn natürlicher sind. Der Ernsthafteste von diesen, Giuseppe Parmi, ein
bescheidner Professor aus Mailand (gestorben 1799), gehört noch ganz dem
vorigen Jahrhundert an. Seine sozialpolitischen Lehrgedichte, „Morgen" und
„Mittag," in reimlosen Jamben, erschienen in der Mitte der sechziger Jahre
und ernährten die Reichen zur Arbeit und zur Teilnahme für die Minder¬
glücklichen. Sie sind damals mit großem Beifall aufgenommen worden, ent¬
halten eine ernste, anständige Auffassung der Lebensverhültnisse und manche
recht hübsche einzelne Stelle, aber Poesie ist das eigentlich nicht. Und nun
vollends die andern, die entweder Dante ausdrücklich ihren Tribut in wohl¬
gemeinten Sonetten brachten oder einzelne seiner Stoffe weiter bearbeiteten
oder endlich im ganzen und großen seinen Ton zu treffen suchten, sie werden
uus zwar wegen ihres guten Willens achtungswert sein, aber das muß auch
genügen. Italie wis, haben sie, wie einst Petrarca, gesungen, aber wahre
Dichter sind sie nicht geworden, und wenn ihnen auch das Verdienst gelassen
werden soll, daß die Saat redlicher Gedanken durch sie in manchem mensch¬
lichen Gemüte zu guter Gesinnung aufgegangen sein mag, so haben sie doch
so wenig wie einst Dante ihr Vaterland stärker, größer oder innerlich besser
machen können.

Aber was dem einen Dante nicht gelang, das Hütte vielleicht ein ganzes
Geschlecht von Dichtern und ähnlich strebenden Männern allmählich zu Wege
gebracht? Die Italiener haben es selbst oft hervorgehoben, daß auf Dante
kein irgendwie bedeutender Dichter von gleicher nationaler Richtung gefolgt ist.
Sie sind der Meinung, daß sonst manches in ihrem öffentlichen Leben anders
geworden wäre. Ebenso haben gewiß wenigstens die meisten Dichter des jungen
Italiens den ernsthaften Glauben gehabt, daß sie ihren Landsleuten noch einen
weitern Vorteil bieten könnten als den, den der Genuß wohlklingender Verse
gewährt. Wenn nun dieses zwar eitel Täuschung gewesen ist, so wird da¬
gegen die andre Frage, ob nicht eine anders gerichtete Nationallitteratur in
frühern Zeiten auch noch einen politischen Wert gehabt Hütte, unter bestimmten
Voraussetzungen bejaht werden dürfen. Aber weil das in Wirklichkeit nicht


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[0560] Politische Anmerkungen zur italienischen Litteraturgeschichte lebendige Inhalt fehlt. Wie richtig das ist, empfinden wir sofort, wenn wir einmal einem wirklichen Inhalt, welcher Art er auch sei, gegenübertreten. So bei Ginsti. Ihn belebt seine Vorliebe für die Sprache und die Sitte Toskanas. Das ist auch eine Art von Patriotismus, und sie macht den Dichter genie߬ barer, als es die meisten andern sind. Die besten und für uns Deutsche ver¬ ständlichsten Gedanken hat das junge Italien dann entwickelt, wenn es sich an den Dichter, der uns Deutschen vorzugsweise lieb ist, erinnerte und höhere sittliche oder auch ernstgemeinte wirtschaftliche Fragen zu berühren versuchte. Dann haben manche von ihnen auch das Gefühl gehabt, daß sie, politisch schwach und gesellschaftlich zerrüttet, gegenüber ihren großen Ahnen doch recht klein dastünden, und in diesem Gefühl sind die Italiener uns angenehmer, weil sie denn natürlicher sind. Der Ernsthafteste von diesen, Giuseppe Parmi, ein bescheidner Professor aus Mailand (gestorben 1799), gehört noch ganz dem vorigen Jahrhundert an. Seine sozialpolitischen Lehrgedichte, „Morgen" und „Mittag," in reimlosen Jamben, erschienen in der Mitte der sechziger Jahre und ernährten die Reichen zur Arbeit und zur Teilnahme für die Minder¬ glücklichen. Sie sind damals mit großem Beifall aufgenommen worden, ent¬ halten eine ernste, anständige Auffassung der Lebensverhültnisse und manche recht hübsche einzelne Stelle, aber Poesie ist das eigentlich nicht. Und nun vollends die andern, die entweder Dante ausdrücklich ihren Tribut in wohl¬ gemeinten Sonetten brachten oder einzelne seiner Stoffe weiter bearbeiteten oder endlich im ganzen und großen seinen Ton zu treffen suchten, sie werden uus zwar wegen ihres guten Willens achtungswert sein, aber das muß auch genügen. Italie wis, haben sie, wie einst Petrarca, gesungen, aber wahre Dichter sind sie nicht geworden, und wenn ihnen auch das Verdienst gelassen werden soll, daß die Saat redlicher Gedanken durch sie in manchem mensch¬ lichen Gemüte zu guter Gesinnung aufgegangen sein mag, so haben sie doch so wenig wie einst Dante ihr Vaterland stärker, größer oder innerlich besser machen können. Aber was dem einen Dante nicht gelang, das Hütte vielleicht ein ganzes Geschlecht von Dichtern und ähnlich strebenden Männern allmählich zu Wege gebracht? Die Italiener haben es selbst oft hervorgehoben, daß auf Dante kein irgendwie bedeutender Dichter von gleicher nationaler Richtung gefolgt ist. Sie sind der Meinung, daß sonst manches in ihrem öffentlichen Leben anders geworden wäre. Ebenso haben gewiß wenigstens die meisten Dichter des jungen Italiens den ernsthaften Glauben gehabt, daß sie ihren Landsleuten noch einen weitern Vorteil bieten könnten als den, den der Genuß wohlklingender Verse gewährt. Wenn nun dieses zwar eitel Täuschung gewesen ist, so wird da¬ gegen die andre Frage, ob nicht eine anders gerichtete Nationallitteratur in frühern Zeiten auch noch einen politischen Wert gehabt Hütte, unter bestimmten Voraussetzungen bejaht werden dürfen. Aber weil das in Wirklichkeit nicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/560>, abgerufen am 26.06.2024.