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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Politische Anmerkungen zur italienischen Litteraturgeschichte

und weiß, wie Neapel seit dem vorigen Jahrhundert unter eignen Königen
(nach langer Statthalterschaft), wie der Kirchenstaat von jeher unter den Päpsten
regiert wurde, so wird man die vielgeschmähte österreichische Herrschaft in
ihren Folgen für Oberitalien für weniger schädlich ansehen dürfen, als es die
italienischen Dichter thun, wie um nur einen der bedeutendsten von dieser Art
zu nennen, Giovanni Bcrchet, der ganz vom Österreicherhasfe lebte und nach
zahllosen glühenden Romanzen und kriegerischen Oden schließlich doch fried¬
fertig in Turin gestorben ist (1851). Den geringsten Anteil nimmt an dieser
Bewegung begreiflicherweise das physisch und politisch völlig entkräftete Unter¬
italien. Hier hat wohl die Geschichte endgiltig ihr Werk für alle Zeiten voll¬
bracht. Fremde Herrscher, nach einander Normannen, Deutsche, Franzosen,
Spanier, darunter wenige gute, die meisten wahre Geißeln ihres Landes,
haben es regiert und allmählich ausgesogen. Gesund ist nur noch der ewig
fruchtbare Boden, und begehrt sind die immer noch reichen Gaben der Natur,
aber der Mensch hat wenig Verdienst darum. Der Neapolitaner stellt nach
der Ansicht der Kenner die unvorteilhaften Seiten des italienischen National¬
charakters am reinsten dar: politische Unbeständigkeit, Unzufriedenheit mit dem
Bestehenden, Sucht nach Neuem, Überhasten beim Beginnen und Oberflächlich¬
keit im Verfolgen des Begonnenen; Argwohn, böse Zunge gegen Vorgesetzte,
Unzuverlässigkeit gegen Genossen und Freunde, und zuletzt, wenn das in all
solchen Jrrgängen erstrebte zusammengestürzt ist, Schmachvolles Ausruhen und
nicht selten Frohsinn und Witz auf den Trümmern des Baues. So ungefähr
sagt der Geschichtschreiber Neapels, Colletta, und der konnte es wohl be¬
urteilen, da er nach der Meinung seiner Bekannten selbst einen großen Teil
dieser Eigenschaften hatte. Als Historiker hat er wenigstens oft ein deutliches
Wort gesprochen. Die Dichter des jungen Italiens machen es meistens nicht
so. Sie schildern den Herrscher (gewöhnlich ist es der Österreicher) in schlimmen
Farben, finden das Volk unglücklich, aber schuldlos und völlig fähig, durch
abwechselnde Anwendung von Pathos und geistreichem Wortspiel dazu gebracht
zu werden, daß es zur schließlichen Freude eines einigen, glücklichen, freien
Italiens den fremden Tyrannen zum Hause hinausjagt und den Papst auf
die kirchliche Herrschaft zurückweist. Aber wann und durch wen hat das zu
geschehen? Die Dichter selbst sind gewöhnlich nicht mit dabei gewesen, denn
wenn zu den Waffen gegriffen wurde, so waren sie meist im Auslande oder
sonst in Sicherheit, und im Jahre 1859, als sich das Italien der wirklichen
Welt, freilich auf ganz andre Weise, als die Dichter gesungen hatten, zu einigen
begann, da war fast keiner mehr von ihnen am Leben. Sie konnten also
nicht mehr'Zeugen der neuen Wendung sein. Aber eine günstige Rolle hätten
sie sicher nicht dabei zu spielen gehabt, und manchem von ihnen wäre es in
Italien ebenso ergangen wie bei uns Gustav Rasch, der jahrelang über den
"verlassenen Vruderstamm" geschrieben hatte, und der dann bald aus Schleswig-


Politische Anmerkungen zur italienischen Litteraturgeschichte

und weiß, wie Neapel seit dem vorigen Jahrhundert unter eignen Königen
(nach langer Statthalterschaft), wie der Kirchenstaat von jeher unter den Päpsten
regiert wurde, so wird man die vielgeschmähte österreichische Herrschaft in
ihren Folgen für Oberitalien für weniger schädlich ansehen dürfen, als es die
italienischen Dichter thun, wie um nur einen der bedeutendsten von dieser Art
zu nennen, Giovanni Bcrchet, der ganz vom Österreicherhasfe lebte und nach
zahllosen glühenden Romanzen und kriegerischen Oden schließlich doch fried¬
fertig in Turin gestorben ist (1851). Den geringsten Anteil nimmt an dieser
Bewegung begreiflicherweise das physisch und politisch völlig entkräftete Unter¬
italien. Hier hat wohl die Geschichte endgiltig ihr Werk für alle Zeiten voll¬
bracht. Fremde Herrscher, nach einander Normannen, Deutsche, Franzosen,
Spanier, darunter wenige gute, die meisten wahre Geißeln ihres Landes,
haben es regiert und allmählich ausgesogen. Gesund ist nur noch der ewig
fruchtbare Boden, und begehrt sind die immer noch reichen Gaben der Natur,
aber der Mensch hat wenig Verdienst darum. Der Neapolitaner stellt nach
der Ansicht der Kenner die unvorteilhaften Seiten des italienischen National¬
charakters am reinsten dar: politische Unbeständigkeit, Unzufriedenheit mit dem
Bestehenden, Sucht nach Neuem, Überhasten beim Beginnen und Oberflächlich¬
keit im Verfolgen des Begonnenen; Argwohn, böse Zunge gegen Vorgesetzte,
Unzuverlässigkeit gegen Genossen und Freunde, und zuletzt, wenn das in all
solchen Jrrgängen erstrebte zusammengestürzt ist, Schmachvolles Ausruhen und
nicht selten Frohsinn und Witz auf den Trümmern des Baues. So ungefähr
sagt der Geschichtschreiber Neapels, Colletta, und der konnte es wohl be¬
urteilen, da er nach der Meinung seiner Bekannten selbst einen großen Teil
dieser Eigenschaften hatte. Als Historiker hat er wenigstens oft ein deutliches
Wort gesprochen. Die Dichter des jungen Italiens machen es meistens nicht
so. Sie schildern den Herrscher (gewöhnlich ist es der Österreicher) in schlimmen
Farben, finden das Volk unglücklich, aber schuldlos und völlig fähig, durch
abwechselnde Anwendung von Pathos und geistreichem Wortspiel dazu gebracht
zu werden, daß es zur schließlichen Freude eines einigen, glücklichen, freien
Italiens den fremden Tyrannen zum Hause hinausjagt und den Papst auf
die kirchliche Herrschaft zurückweist. Aber wann und durch wen hat das zu
geschehen? Die Dichter selbst sind gewöhnlich nicht mit dabei gewesen, denn
wenn zu den Waffen gegriffen wurde, so waren sie meist im Auslande oder
sonst in Sicherheit, und im Jahre 1859, als sich das Italien der wirklichen
Welt, freilich auf ganz andre Weise, als die Dichter gesungen hatten, zu einigen
begann, da war fast keiner mehr von ihnen am Leben. Sie konnten also
nicht mehr'Zeugen der neuen Wendung sein. Aber eine günstige Rolle hätten
sie sicher nicht dabei zu spielen gehabt, und manchem von ihnen wäre es in
Italien ebenso ergangen wie bei uns Gustav Rasch, der jahrelang über den
„verlassenen Vruderstamm" geschrieben hatte, und der dann bald aus Schleswig-


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[0557] Politische Anmerkungen zur italienischen Litteraturgeschichte und weiß, wie Neapel seit dem vorigen Jahrhundert unter eignen Königen (nach langer Statthalterschaft), wie der Kirchenstaat von jeher unter den Päpsten regiert wurde, so wird man die vielgeschmähte österreichische Herrschaft in ihren Folgen für Oberitalien für weniger schädlich ansehen dürfen, als es die italienischen Dichter thun, wie um nur einen der bedeutendsten von dieser Art zu nennen, Giovanni Bcrchet, der ganz vom Österreicherhasfe lebte und nach zahllosen glühenden Romanzen und kriegerischen Oden schließlich doch fried¬ fertig in Turin gestorben ist (1851). Den geringsten Anteil nimmt an dieser Bewegung begreiflicherweise das physisch und politisch völlig entkräftete Unter¬ italien. Hier hat wohl die Geschichte endgiltig ihr Werk für alle Zeiten voll¬ bracht. Fremde Herrscher, nach einander Normannen, Deutsche, Franzosen, Spanier, darunter wenige gute, die meisten wahre Geißeln ihres Landes, haben es regiert und allmählich ausgesogen. Gesund ist nur noch der ewig fruchtbare Boden, und begehrt sind die immer noch reichen Gaben der Natur, aber der Mensch hat wenig Verdienst darum. Der Neapolitaner stellt nach der Ansicht der Kenner die unvorteilhaften Seiten des italienischen National¬ charakters am reinsten dar: politische Unbeständigkeit, Unzufriedenheit mit dem Bestehenden, Sucht nach Neuem, Überhasten beim Beginnen und Oberflächlich¬ keit im Verfolgen des Begonnenen; Argwohn, böse Zunge gegen Vorgesetzte, Unzuverlässigkeit gegen Genossen und Freunde, und zuletzt, wenn das in all solchen Jrrgängen erstrebte zusammengestürzt ist, Schmachvolles Ausruhen und nicht selten Frohsinn und Witz auf den Trümmern des Baues. So ungefähr sagt der Geschichtschreiber Neapels, Colletta, und der konnte es wohl be¬ urteilen, da er nach der Meinung seiner Bekannten selbst einen großen Teil dieser Eigenschaften hatte. Als Historiker hat er wenigstens oft ein deutliches Wort gesprochen. Die Dichter des jungen Italiens machen es meistens nicht so. Sie schildern den Herrscher (gewöhnlich ist es der Österreicher) in schlimmen Farben, finden das Volk unglücklich, aber schuldlos und völlig fähig, durch abwechselnde Anwendung von Pathos und geistreichem Wortspiel dazu gebracht zu werden, daß es zur schließlichen Freude eines einigen, glücklichen, freien Italiens den fremden Tyrannen zum Hause hinausjagt und den Papst auf die kirchliche Herrschaft zurückweist. Aber wann und durch wen hat das zu geschehen? Die Dichter selbst sind gewöhnlich nicht mit dabei gewesen, denn wenn zu den Waffen gegriffen wurde, so waren sie meist im Auslande oder sonst in Sicherheit, und im Jahre 1859, als sich das Italien der wirklichen Welt, freilich auf ganz andre Weise, als die Dichter gesungen hatten, zu einigen begann, da war fast keiner mehr von ihnen am Leben. Sie konnten also nicht mehr'Zeugen der neuen Wendung sein. Aber eine günstige Rolle hätten sie sicher nicht dabei zu spielen gehabt, und manchem von ihnen wäre es in Italien ebenso ergangen wie bei uns Gustav Rasch, der jahrelang über den „verlassenen Vruderstamm" geschrieben hatte, und der dann bald aus Schleswig-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/557>, abgerufen am 26.06.2024.