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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Politische Anmerkungen zur italienischen Litteraturgeschichte

begreifen wir. Aber für uns haben diese Gründe ein um so größeres Inter¬
esse, als über diese Dinge und über den Wert unsers Verhältnisses zu Italien
unter uns noch ganz wunderliche Vorstellungen weit verbreitet sind. Die
Litteratur wird uns in diesem Falle noch etwas mehr sein als angenehme
Unterhaltung.

Die Beliebtheit des jungen Italiens bei seinen Verehrern unter uns be¬
ruht zum Teil auf politischer Zuneigung, hat also in dem gleichen Bekenntnis
auf beiden Seiten seinen Grund. In diesem Falle gilt der Beifall einem
Phantom, denn politisch hat die Richtung in Italien so gut wie nichts ge¬
leistet. Oder die Vorliebe für Leopardi, Giusti, und wie sie alle heißen, ist
rein sentimental, dann begreift man sie, so lange sie sich an der schönen Form
und der Melodie der Verse genügen läßt. Sollte sie aber das für etwas
andres nehmen als für rein äußerliche Vorzüge und nach tieferen, ernstem
Wesen oder gar nach fruchtbaren und wirksamen Lebenskeimen suchen, so täuscht
sie sich, so augenehm ihr manchmal die Täuschung sein mag. Und seltsam
genug, weder die eine noch die andre Art von Liebe hat den Deutschen je
Gegenliebe eingetragen. Der politisch denkende Mensch in Italien und zumal
der Demokrat, der für das junge Italien allein in Betracht kommt, neigt zu
Frankreich hin aus vielen Gründen und wird das immer thun. Dort findet
er einen gleichartigen Volksstamm und eine Republik, und die dankbare Er¬
innerung an 1859 und 1866 ist noch nicht erloschen. Für bloße Sentimen¬
talitäten aber ist der Italiener überhaupt nicht zu haben, wenn er sie sich
höher anrechnen lassen soll als zum Werte von Phrasen. Dazu ist er eben
viel zu berechnend. Also die Dummen bei dieser Art von Geschäft sind in
beiden Fällen wir Deutsche, und wer seit 1859 die Entwicklung Italiens be¬
obachtet hat, der wird sich ans das vermeintliche Zusammenstimmen unsrer
Interessen für den Fall des Ernstes nicht zu sehr verlassen.

Doch wir haben uns ja über Litteratur zu unterhalten. Viele unter den
Dichtern des jungen Italiens stammen ans Oberitalien. In der Lombardei,
in Mailand vor allem, hat die ganze Richtung die kräftigste Pflege gefunden.
Hier wurde sie durch vieles gefördert. Es konnte auch an alte Über¬
lieferung angeknüpft werden, so wenn Cesare Balbo (gestorben 1853) in seiner
Selbstbiographie sagt, er stamme aus einer Familie, die sich in thörichter
Eitelkeit auf ein altrömisches Geschlecht zurückführe, dafür aber mit Recht
auf den herrlichen Ruhm stolz sei, zur Schlacht von Legncmo, der einzigen
wirklichen großen italienischen Siegesschlacht, fünfzig Tote geliefert zu haben.
Die Lage der lombardischen Städte hat sich freilich in den viertehalb Jahr¬
hunderten von Barbarossa bis zu der in deutschen Liedern gefeierten Pavier-
schlacht sehr geändert, aber die stark gemischte, kräftige Bevölkerung des Landes
ist noch heute vielleicht die tüchtigste, wenigstens die fleißigste, und sie steht
in ihrer ganzen Art uns Deutschen am nächsten. Und wenn man das sieht


Politische Anmerkungen zur italienischen Litteraturgeschichte

begreifen wir. Aber für uns haben diese Gründe ein um so größeres Inter¬
esse, als über diese Dinge und über den Wert unsers Verhältnisses zu Italien
unter uns noch ganz wunderliche Vorstellungen weit verbreitet sind. Die
Litteratur wird uns in diesem Falle noch etwas mehr sein als angenehme
Unterhaltung.

Die Beliebtheit des jungen Italiens bei seinen Verehrern unter uns be¬
ruht zum Teil auf politischer Zuneigung, hat also in dem gleichen Bekenntnis
auf beiden Seiten seinen Grund. In diesem Falle gilt der Beifall einem
Phantom, denn politisch hat die Richtung in Italien so gut wie nichts ge¬
leistet. Oder die Vorliebe für Leopardi, Giusti, und wie sie alle heißen, ist
rein sentimental, dann begreift man sie, so lange sie sich an der schönen Form
und der Melodie der Verse genügen läßt. Sollte sie aber das für etwas
andres nehmen als für rein äußerliche Vorzüge und nach tieferen, ernstem
Wesen oder gar nach fruchtbaren und wirksamen Lebenskeimen suchen, so täuscht
sie sich, so augenehm ihr manchmal die Täuschung sein mag. Und seltsam
genug, weder die eine noch die andre Art von Liebe hat den Deutschen je
Gegenliebe eingetragen. Der politisch denkende Mensch in Italien und zumal
der Demokrat, der für das junge Italien allein in Betracht kommt, neigt zu
Frankreich hin aus vielen Gründen und wird das immer thun. Dort findet
er einen gleichartigen Volksstamm und eine Republik, und die dankbare Er¬
innerung an 1859 und 1866 ist noch nicht erloschen. Für bloße Sentimen¬
talitäten aber ist der Italiener überhaupt nicht zu haben, wenn er sie sich
höher anrechnen lassen soll als zum Werte von Phrasen. Dazu ist er eben
viel zu berechnend. Also die Dummen bei dieser Art von Geschäft sind in
beiden Fällen wir Deutsche, und wer seit 1859 die Entwicklung Italiens be¬
obachtet hat, der wird sich ans das vermeintliche Zusammenstimmen unsrer
Interessen für den Fall des Ernstes nicht zu sehr verlassen.

Doch wir haben uns ja über Litteratur zu unterhalten. Viele unter den
Dichtern des jungen Italiens stammen ans Oberitalien. In der Lombardei,
in Mailand vor allem, hat die ganze Richtung die kräftigste Pflege gefunden.
Hier wurde sie durch vieles gefördert. Es konnte auch an alte Über¬
lieferung angeknüpft werden, so wenn Cesare Balbo (gestorben 1853) in seiner
Selbstbiographie sagt, er stamme aus einer Familie, die sich in thörichter
Eitelkeit auf ein altrömisches Geschlecht zurückführe, dafür aber mit Recht
auf den herrlichen Ruhm stolz sei, zur Schlacht von Legncmo, der einzigen
wirklichen großen italienischen Siegesschlacht, fünfzig Tote geliefert zu haben.
Die Lage der lombardischen Städte hat sich freilich in den viertehalb Jahr¬
hunderten von Barbarossa bis zu der in deutschen Liedern gefeierten Pavier-
schlacht sehr geändert, aber die stark gemischte, kräftige Bevölkerung des Landes
ist noch heute vielleicht die tüchtigste, wenigstens die fleißigste, und sie steht
in ihrer ganzen Art uns Deutschen am nächsten. Und wenn man das sieht


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[0556] Politische Anmerkungen zur italienischen Litteraturgeschichte begreifen wir. Aber für uns haben diese Gründe ein um so größeres Inter¬ esse, als über diese Dinge und über den Wert unsers Verhältnisses zu Italien unter uns noch ganz wunderliche Vorstellungen weit verbreitet sind. Die Litteratur wird uns in diesem Falle noch etwas mehr sein als angenehme Unterhaltung. Die Beliebtheit des jungen Italiens bei seinen Verehrern unter uns be¬ ruht zum Teil auf politischer Zuneigung, hat also in dem gleichen Bekenntnis auf beiden Seiten seinen Grund. In diesem Falle gilt der Beifall einem Phantom, denn politisch hat die Richtung in Italien so gut wie nichts ge¬ leistet. Oder die Vorliebe für Leopardi, Giusti, und wie sie alle heißen, ist rein sentimental, dann begreift man sie, so lange sie sich an der schönen Form und der Melodie der Verse genügen läßt. Sollte sie aber das für etwas andres nehmen als für rein äußerliche Vorzüge und nach tieferen, ernstem Wesen oder gar nach fruchtbaren und wirksamen Lebenskeimen suchen, so täuscht sie sich, so augenehm ihr manchmal die Täuschung sein mag. Und seltsam genug, weder die eine noch die andre Art von Liebe hat den Deutschen je Gegenliebe eingetragen. Der politisch denkende Mensch in Italien und zumal der Demokrat, der für das junge Italien allein in Betracht kommt, neigt zu Frankreich hin aus vielen Gründen und wird das immer thun. Dort findet er einen gleichartigen Volksstamm und eine Republik, und die dankbare Er¬ innerung an 1859 und 1866 ist noch nicht erloschen. Für bloße Sentimen¬ talitäten aber ist der Italiener überhaupt nicht zu haben, wenn er sie sich höher anrechnen lassen soll als zum Werte von Phrasen. Dazu ist er eben viel zu berechnend. Also die Dummen bei dieser Art von Geschäft sind in beiden Fällen wir Deutsche, und wer seit 1859 die Entwicklung Italiens be¬ obachtet hat, der wird sich ans das vermeintliche Zusammenstimmen unsrer Interessen für den Fall des Ernstes nicht zu sehr verlassen. Doch wir haben uns ja über Litteratur zu unterhalten. Viele unter den Dichtern des jungen Italiens stammen ans Oberitalien. In der Lombardei, in Mailand vor allem, hat die ganze Richtung die kräftigste Pflege gefunden. Hier wurde sie durch vieles gefördert. Es konnte auch an alte Über¬ lieferung angeknüpft werden, so wenn Cesare Balbo (gestorben 1853) in seiner Selbstbiographie sagt, er stamme aus einer Familie, die sich in thörichter Eitelkeit auf ein altrömisches Geschlecht zurückführe, dafür aber mit Recht auf den herrlichen Ruhm stolz sei, zur Schlacht von Legncmo, der einzigen wirklichen großen italienischen Siegesschlacht, fünfzig Tote geliefert zu haben. Die Lage der lombardischen Städte hat sich freilich in den viertehalb Jahr¬ hunderten von Barbarossa bis zu der in deutschen Liedern gefeierten Pavier- schlacht sehr geändert, aber die stark gemischte, kräftige Bevölkerung des Landes ist noch heute vielleicht die tüchtigste, wenigstens die fleißigste, und sie steht in ihrer ganzen Art uns Deutschen am nächsten. Und wenn man das sieht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/556>, abgerufen am 26.06.2024.