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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Die Sozialreform und die Gemeinden

Die zu erwartenden Verbesserungen der Versicherungsgesetzgebung sollten
sich daher beschränken auf Vereinfachung und Verbillignng der Verwaltung
und sollten auf ein Zusammenfassen aller Versicherungen abzielen. Wer wird
dann der Träger der Arbeit, der Verwaltung und der Aufsicht sein sollen?
Das Reich hat keine geeigneten Organe in den Bezirken und Gemeinden,
der Staat wird seine Bezirks- und Gemeindebehörden zur Verfügung stellen
müssen. Die größern und kleinern Kommunalverbände werden die Verwaltung
des Versicherungswesens an den untern Stellen in die Hand nehmen müssen.
Schon heute aber klagen die Beamten dieser Verbünde über die Lasten, die
ihnen durch die Vcrsicherungsgesetze und durch unsre ganzen neuen sozial¬
politischen Gesetze aufgebürdet wordeu seien, und thatsächlich haben die Ge¬
meinden -- oder die größer"^ Verbände -- durch Versicherungswesen, Ar-
beitcrschntz und Gewerbegerichte neue Aufgaben zugeteilt bekommen. Aber sie
haben sie doch mit Recht zugewiesen bekommen; leider erfüllen nur nicht alle
ihre Pflicht vollkommen, ja manche sogar sehr lässig. Und doch sind es gerade
die Gemeinden, die durch die soziale Gesetzgebung ganz unmittelbare Vorteile
für ihre Kassen erhalten haben. Die angestellten Untersuchungen über den
Einfluß der Versicherungsgesetzgebung auf das Armenwesen und die Armen¬
budgets siud zwar noch nicht abgeschlossen, aber so viel steht doch heute schou
fest, daß die Armenkassen durch die Kranken-, Unfall-, Jnvaliditäts- und Alters¬
versicherungen entlastet worden sind, und daß da, wo keine Verminderung der
Ausgaben stattgefunden hat, doch auch die sonst sicher zu erwarten gewesene
Steigerung ausgeblieben ist. Auch wo man nicht so rigoros vorging, die
gezählten Renten der Kassen, die Unterstützungen durch Krankengelder als zu
Gunsten der Armenkassen gezahlt zu betrachten, sondern wo man ganz indi¬
viduell und mit dem Grundgedanken vorging, daß die sozialpolitische Gesetz¬
gebung nicht zur Verbesserung des Armenwesens und zur Entlastung der
Gemeinden dienen solle, sondern zu einer Verbesserung der ganzen Lage der
untern Klassen, hat man immerhin Gelegenheit zu der Beobachtung gehabt,
daß Armenkasse und Gemeinde durch die Versicherungen entlastet worden
sind. Das Reich scheint aber dafür bei den Gemeinden wenig Dank ernten zu
sollen, denn die Gemeinden sind in ihren Verwaltungen vielfach jeder
Sozialrcform abgeneigt und nur für solche Verbesserungen zu haben, die nicht
nur für die wirtschaftlich Schwachen, sondern zugleich und mehr für die wohl¬
habenden Klassen bestimmt sind. Die Gemeinden haben aber ganz besonders
den Beruf, deu sozialen Frieden zu fördern und die Kluft zwischen den Ständen
und Klassen zu überbrücken, und sie erfüllen ihn vielfach gar nicht, vielfach
unzureichend.

Wohl ist die Pflege der Gesundheit (die Hygieine) in den Gemeinden mit
Eifer und Verständnis aufgenommen worden, aber wo mit besondrer Berück¬
sichtigung der ärmern Klassen? Man baut neue Straßen und Stadtviertel,


Die Sozialreform und die Gemeinden

Die zu erwartenden Verbesserungen der Versicherungsgesetzgebung sollten
sich daher beschränken auf Vereinfachung und Verbillignng der Verwaltung
und sollten auf ein Zusammenfassen aller Versicherungen abzielen. Wer wird
dann der Träger der Arbeit, der Verwaltung und der Aufsicht sein sollen?
Das Reich hat keine geeigneten Organe in den Bezirken und Gemeinden,
der Staat wird seine Bezirks- und Gemeindebehörden zur Verfügung stellen
müssen. Die größern und kleinern Kommunalverbände werden die Verwaltung
des Versicherungswesens an den untern Stellen in die Hand nehmen müssen.
Schon heute aber klagen die Beamten dieser Verbünde über die Lasten, die
ihnen durch die Vcrsicherungsgesetze und durch unsre ganzen neuen sozial¬
politischen Gesetze aufgebürdet wordeu seien, und thatsächlich haben die Ge¬
meinden — oder die größer«^ Verbände — durch Versicherungswesen, Ar-
beitcrschntz und Gewerbegerichte neue Aufgaben zugeteilt bekommen. Aber sie
haben sie doch mit Recht zugewiesen bekommen; leider erfüllen nur nicht alle
ihre Pflicht vollkommen, ja manche sogar sehr lässig. Und doch sind es gerade
die Gemeinden, die durch die soziale Gesetzgebung ganz unmittelbare Vorteile
für ihre Kassen erhalten haben. Die angestellten Untersuchungen über den
Einfluß der Versicherungsgesetzgebung auf das Armenwesen und die Armen¬
budgets siud zwar noch nicht abgeschlossen, aber so viel steht doch heute schou
fest, daß die Armenkassen durch die Kranken-, Unfall-, Jnvaliditäts- und Alters¬
versicherungen entlastet worden sind, und daß da, wo keine Verminderung der
Ausgaben stattgefunden hat, doch auch die sonst sicher zu erwarten gewesene
Steigerung ausgeblieben ist. Auch wo man nicht so rigoros vorging, die
gezählten Renten der Kassen, die Unterstützungen durch Krankengelder als zu
Gunsten der Armenkassen gezahlt zu betrachten, sondern wo man ganz indi¬
viduell und mit dem Grundgedanken vorging, daß die sozialpolitische Gesetz¬
gebung nicht zur Verbesserung des Armenwesens und zur Entlastung der
Gemeinden dienen solle, sondern zu einer Verbesserung der ganzen Lage der
untern Klassen, hat man immerhin Gelegenheit zu der Beobachtung gehabt,
daß Armenkasse und Gemeinde durch die Versicherungen entlastet worden
sind. Das Reich scheint aber dafür bei den Gemeinden wenig Dank ernten zu
sollen, denn die Gemeinden sind in ihren Verwaltungen vielfach jeder
Sozialrcform abgeneigt und nur für solche Verbesserungen zu haben, die nicht
nur für die wirtschaftlich Schwachen, sondern zugleich und mehr für die wohl¬
habenden Klassen bestimmt sind. Die Gemeinden haben aber ganz besonders
den Beruf, deu sozialen Frieden zu fördern und die Kluft zwischen den Ständen
und Klassen zu überbrücken, und sie erfüllen ihn vielfach gar nicht, vielfach
unzureichend.

Wohl ist die Pflege der Gesundheit (die Hygieine) in den Gemeinden mit
Eifer und Verständnis aufgenommen worden, aber wo mit besondrer Berück¬
sichtigung der ärmern Klassen? Man baut neue Straßen und Stadtviertel,


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[0550] Die Sozialreform und die Gemeinden Die zu erwartenden Verbesserungen der Versicherungsgesetzgebung sollten sich daher beschränken auf Vereinfachung und Verbillignng der Verwaltung und sollten auf ein Zusammenfassen aller Versicherungen abzielen. Wer wird dann der Träger der Arbeit, der Verwaltung und der Aufsicht sein sollen? Das Reich hat keine geeigneten Organe in den Bezirken und Gemeinden, der Staat wird seine Bezirks- und Gemeindebehörden zur Verfügung stellen müssen. Die größern und kleinern Kommunalverbände werden die Verwaltung des Versicherungswesens an den untern Stellen in die Hand nehmen müssen. Schon heute aber klagen die Beamten dieser Verbünde über die Lasten, die ihnen durch die Vcrsicherungsgesetze und durch unsre ganzen neuen sozial¬ politischen Gesetze aufgebürdet wordeu seien, und thatsächlich haben die Ge¬ meinden — oder die größer«^ Verbände — durch Versicherungswesen, Ar- beitcrschntz und Gewerbegerichte neue Aufgaben zugeteilt bekommen. Aber sie haben sie doch mit Recht zugewiesen bekommen; leider erfüllen nur nicht alle ihre Pflicht vollkommen, ja manche sogar sehr lässig. Und doch sind es gerade die Gemeinden, die durch die soziale Gesetzgebung ganz unmittelbare Vorteile für ihre Kassen erhalten haben. Die angestellten Untersuchungen über den Einfluß der Versicherungsgesetzgebung auf das Armenwesen und die Armen¬ budgets siud zwar noch nicht abgeschlossen, aber so viel steht doch heute schou fest, daß die Armenkassen durch die Kranken-, Unfall-, Jnvaliditäts- und Alters¬ versicherungen entlastet worden sind, und daß da, wo keine Verminderung der Ausgaben stattgefunden hat, doch auch die sonst sicher zu erwarten gewesene Steigerung ausgeblieben ist. Auch wo man nicht so rigoros vorging, die gezählten Renten der Kassen, die Unterstützungen durch Krankengelder als zu Gunsten der Armenkassen gezahlt zu betrachten, sondern wo man ganz indi¬ viduell und mit dem Grundgedanken vorging, daß die sozialpolitische Gesetz¬ gebung nicht zur Verbesserung des Armenwesens und zur Entlastung der Gemeinden dienen solle, sondern zu einer Verbesserung der ganzen Lage der untern Klassen, hat man immerhin Gelegenheit zu der Beobachtung gehabt, daß Armenkasse und Gemeinde durch die Versicherungen entlastet worden sind. Das Reich scheint aber dafür bei den Gemeinden wenig Dank ernten zu sollen, denn die Gemeinden sind in ihren Verwaltungen vielfach jeder Sozialrcform abgeneigt und nur für solche Verbesserungen zu haben, die nicht nur für die wirtschaftlich Schwachen, sondern zugleich und mehr für die wohl¬ habenden Klassen bestimmt sind. Die Gemeinden haben aber ganz besonders den Beruf, deu sozialen Frieden zu fördern und die Kluft zwischen den Ständen und Klassen zu überbrücken, und sie erfüllen ihn vielfach gar nicht, vielfach unzureichend. Wohl ist die Pflege der Gesundheit (die Hygieine) in den Gemeinden mit Eifer und Verständnis aufgenommen worden, aber wo mit besondrer Berück¬ sichtigung der ärmern Klassen? Man baut neue Straßen und Stadtviertel,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/550>, abgerufen am 23.06.2024.