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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Die Sozialreform und die Gemeinden

Hausfrau, die trotz ihres schmalen Haushaltungsgeldes ganz ohne Dienst¬
mädchen nicht gut auskommen kann und für dieses fünf bis zehn Mark in die
Versicherungskassen zahlt, sie sind zwar mit der Absicht der Versicherung einver¬
standen, aber daß sie trotz ihrer wirtschaftlichen Schwäche etwas dazu bei¬
tragen müssen, bringt sie in Erregung, macht sie zu Gegnern der neuen Gesetze.
Diese kleinen Leute sind die schweigsamen Gegner, sie machen die Faust
in der Tasche, während sich die Großindustriellen, die Aktionäre und Ver-
waltungsrüte und die Großgrundbesitzer laut über die großen Ausgaben beklagen,
die ihnen die Kranken-, Unfall-, Alters- und Juvaliditätsversicherung auferlegt
haben. Gewiß sind auch unter diesen lauten Gegnern des Zählens und
Klebens manche, die sich wirklich bedrückt fühlen und nicht mit Unrecht fordern,
daß die Lasten auf andre Schultern kommen mögen, die sie leichter tragen
können. Ist doch auch die Abgabe für Versicherungszwecke bei diesen leistungs-
sähigern Verpflichteten eine Kopfsteuer nach den Köpfen der Arbeitskräfte, und
ist doch ihr Gewinn vielfach unabhängig von der Zahl der beschäftigten Per¬
sonen, ja vielleicht sogar häufig am kleinsten, wo die größte Zahl von Arbeits¬
kräften notwendig ist.

Daß aber eine Veränderung und Verbesserung der Gesetze in dieser Rich¬
tung in Aussicht genommen wäre, hat man bisher nicht gehört; es sprechen
auch gewichtige Gründe dafür, daß sie zunächst unmöglich wäre. Wollte
man etwa eine besondre Versicherungssteuer für das Reich einführen, so würde
das den wahren Freunden der Sozialreform ganz gewiß willkommen sein.
Aber bei der Mehrzahl der Maßgebenden ist weder solche Freundschaft für
Sozialreform noch solche Steuerbewilligungsfreudigkeit vorauszusetzen. Jede
andre Entlastung aber, sei es durch Neichszuschüsse zu allen Versicherungs¬
kassen, sei es selbst durch Übernahme aller Versicherungslasten auf das Reich,
bleibt -- abgesehen von ihrer Unwahrscheinlichkeit oder Unmöglichkeit -- eine
ungerechte Lastenverteilung, solange als das Reich seine Einnahmen aus in¬
direkten Steuern und Zöllen nimmt. Nur durch Einführung direkter Reichs¬
steuern könnte eine gerechte Verteilung der Lasten nach dem Einkommen und
Vermögen herbeigeführt werden. Aber obgleich sie wiederholt gefordert und
von links her bis über die Nationalliberalen hinaus gefordert worden sind,
scheinen sie keine Aussichten auf baldige Einführung zu haben. Nicht zum
wenigsten scheinen dabei Finanzhoheitsbedenken der Einzelregierungen mitzu¬
sprechen. Finanztechnisch wären NeichSsteuern, von Neichskommissionen ein¬
geschätzt und bearbeitet, eine große Erleichterung sür die Fiuanzbehörden, da
Einzelstaaten und Kommunalverbände für ihre Bedürfnisse einfach prozentuale
Sätze dieser Steuern erheben könnten. Es dürften aber außer den Regierungen
auch die Kommunalvorstäude gerade gegen die Reichssteuereinschätzung ein¬
genommen sein. In absehbarer Zeit haben wir also auf die gleichmäßige Be¬
lastung aller Neichsbürger, je nach Einkommen und Vermögen, keine Aussicht.


Die Sozialreform und die Gemeinden

Hausfrau, die trotz ihres schmalen Haushaltungsgeldes ganz ohne Dienst¬
mädchen nicht gut auskommen kann und für dieses fünf bis zehn Mark in die
Versicherungskassen zahlt, sie sind zwar mit der Absicht der Versicherung einver¬
standen, aber daß sie trotz ihrer wirtschaftlichen Schwäche etwas dazu bei¬
tragen müssen, bringt sie in Erregung, macht sie zu Gegnern der neuen Gesetze.
Diese kleinen Leute sind die schweigsamen Gegner, sie machen die Faust
in der Tasche, während sich die Großindustriellen, die Aktionäre und Ver-
waltungsrüte und die Großgrundbesitzer laut über die großen Ausgaben beklagen,
die ihnen die Kranken-, Unfall-, Alters- und Juvaliditätsversicherung auferlegt
haben. Gewiß sind auch unter diesen lauten Gegnern des Zählens und
Klebens manche, die sich wirklich bedrückt fühlen und nicht mit Unrecht fordern,
daß die Lasten auf andre Schultern kommen mögen, die sie leichter tragen
können. Ist doch auch die Abgabe für Versicherungszwecke bei diesen leistungs-
sähigern Verpflichteten eine Kopfsteuer nach den Köpfen der Arbeitskräfte, und
ist doch ihr Gewinn vielfach unabhängig von der Zahl der beschäftigten Per¬
sonen, ja vielleicht sogar häufig am kleinsten, wo die größte Zahl von Arbeits¬
kräften notwendig ist.

Daß aber eine Veränderung und Verbesserung der Gesetze in dieser Rich¬
tung in Aussicht genommen wäre, hat man bisher nicht gehört; es sprechen
auch gewichtige Gründe dafür, daß sie zunächst unmöglich wäre. Wollte
man etwa eine besondre Versicherungssteuer für das Reich einführen, so würde
das den wahren Freunden der Sozialreform ganz gewiß willkommen sein.
Aber bei der Mehrzahl der Maßgebenden ist weder solche Freundschaft für
Sozialreform noch solche Steuerbewilligungsfreudigkeit vorauszusetzen. Jede
andre Entlastung aber, sei es durch Neichszuschüsse zu allen Versicherungs¬
kassen, sei es selbst durch Übernahme aller Versicherungslasten auf das Reich,
bleibt — abgesehen von ihrer Unwahrscheinlichkeit oder Unmöglichkeit — eine
ungerechte Lastenverteilung, solange als das Reich seine Einnahmen aus in¬
direkten Steuern und Zöllen nimmt. Nur durch Einführung direkter Reichs¬
steuern könnte eine gerechte Verteilung der Lasten nach dem Einkommen und
Vermögen herbeigeführt werden. Aber obgleich sie wiederholt gefordert und
von links her bis über die Nationalliberalen hinaus gefordert worden sind,
scheinen sie keine Aussichten auf baldige Einführung zu haben. Nicht zum
wenigsten scheinen dabei Finanzhoheitsbedenken der Einzelregierungen mitzu¬
sprechen. Finanztechnisch wären NeichSsteuern, von Neichskommissionen ein¬
geschätzt und bearbeitet, eine große Erleichterung sür die Fiuanzbehörden, da
Einzelstaaten und Kommunalverbände für ihre Bedürfnisse einfach prozentuale
Sätze dieser Steuern erheben könnten. Es dürften aber außer den Regierungen
auch die Kommunalvorstäude gerade gegen die Reichssteuereinschätzung ein¬
genommen sein. In absehbarer Zeit haben wir also auf die gleichmäßige Be¬
lastung aller Neichsbürger, je nach Einkommen und Vermögen, keine Aussicht.


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[0549] Die Sozialreform und die Gemeinden Hausfrau, die trotz ihres schmalen Haushaltungsgeldes ganz ohne Dienst¬ mädchen nicht gut auskommen kann und für dieses fünf bis zehn Mark in die Versicherungskassen zahlt, sie sind zwar mit der Absicht der Versicherung einver¬ standen, aber daß sie trotz ihrer wirtschaftlichen Schwäche etwas dazu bei¬ tragen müssen, bringt sie in Erregung, macht sie zu Gegnern der neuen Gesetze. Diese kleinen Leute sind die schweigsamen Gegner, sie machen die Faust in der Tasche, während sich die Großindustriellen, die Aktionäre und Ver- waltungsrüte und die Großgrundbesitzer laut über die großen Ausgaben beklagen, die ihnen die Kranken-, Unfall-, Alters- und Juvaliditätsversicherung auferlegt haben. Gewiß sind auch unter diesen lauten Gegnern des Zählens und Klebens manche, die sich wirklich bedrückt fühlen und nicht mit Unrecht fordern, daß die Lasten auf andre Schultern kommen mögen, die sie leichter tragen können. Ist doch auch die Abgabe für Versicherungszwecke bei diesen leistungs- sähigern Verpflichteten eine Kopfsteuer nach den Köpfen der Arbeitskräfte, und ist doch ihr Gewinn vielfach unabhängig von der Zahl der beschäftigten Per¬ sonen, ja vielleicht sogar häufig am kleinsten, wo die größte Zahl von Arbeits¬ kräften notwendig ist. Daß aber eine Veränderung und Verbesserung der Gesetze in dieser Rich¬ tung in Aussicht genommen wäre, hat man bisher nicht gehört; es sprechen auch gewichtige Gründe dafür, daß sie zunächst unmöglich wäre. Wollte man etwa eine besondre Versicherungssteuer für das Reich einführen, so würde das den wahren Freunden der Sozialreform ganz gewiß willkommen sein. Aber bei der Mehrzahl der Maßgebenden ist weder solche Freundschaft für Sozialreform noch solche Steuerbewilligungsfreudigkeit vorauszusetzen. Jede andre Entlastung aber, sei es durch Neichszuschüsse zu allen Versicherungs¬ kassen, sei es selbst durch Übernahme aller Versicherungslasten auf das Reich, bleibt — abgesehen von ihrer Unwahrscheinlichkeit oder Unmöglichkeit — eine ungerechte Lastenverteilung, solange als das Reich seine Einnahmen aus in¬ direkten Steuern und Zöllen nimmt. Nur durch Einführung direkter Reichs¬ steuern könnte eine gerechte Verteilung der Lasten nach dem Einkommen und Vermögen herbeigeführt werden. Aber obgleich sie wiederholt gefordert und von links her bis über die Nationalliberalen hinaus gefordert worden sind, scheinen sie keine Aussichten auf baldige Einführung zu haben. Nicht zum wenigsten scheinen dabei Finanzhoheitsbedenken der Einzelregierungen mitzu¬ sprechen. Finanztechnisch wären NeichSsteuern, von Neichskommissionen ein¬ geschätzt und bearbeitet, eine große Erleichterung sür die Fiuanzbehörden, da Einzelstaaten und Kommunalverbände für ihre Bedürfnisse einfach prozentuale Sätze dieser Steuern erheben könnten. Es dürften aber außer den Regierungen auch die Kommunalvorstäude gerade gegen die Reichssteuereinschätzung ein¬ genommen sein. In absehbarer Zeit haben wir also auf die gleichmäßige Be¬ lastung aller Neichsbürger, je nach Einkommen und Vermögen, keine Aussicht.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/549>, abgerufen am 23.06.2024.