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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Wandlungen des Ich im Zeitenstroine

Sühne für unsre Sünden und ErWirkung der Sündenvergebung, genauer zu
bestimmen, erheben sich eine Menge von Schwierigkeiten: bald fühlt sich der
Verstand, bald das Herz gedrängt, Einspruch zu erheben. So geht es bei allen
andern Dogmen. Beim Unfehlbarkeitsdogma aber erhob sich, abgesehen von
einer Fülle entgegenstehender geschichtlicher Erinnerungen, noch eine ganz be¬
sondre Schwierigkeit. Daß die ursprünglichen Dogmen im Laufe der Zeit ihren
Inhalt immer reicher entfalteten, indem Folgerungen daraus gezogen wurden,
war ein natürlicher und unabwendbarer Prozeß, gegen den an sich, wenn nur
das leidige Dogmatisireu unterbliebe, nichts einzuwenden wäre. So kann es
gar nicht fehlen, daß, wenn man Gott als das vollkommenste Wesen definirt
hat, aus diesem Begriff eine ausführliche Lehre von den Eigenschaften Gottes
herausgesponnen wird. Aber die päpstliche Unfehlbarkeit hätte, wenn sie einen
wesentlichen Bestandteil des christlichen Glaubens bildete, nicht erst als Folge¬
rung in spätern Jahrhunderten herausgesponnen, sondern als Grundwahrheit,
ans der die Lehre von der Kirchenverfassung Herausznspinnen gewesen wäre,
gleich anfangs verkündigt werden müssen. Damit wäre den Glaubensstreitig¬
keiten, die zwar der Geschichtsphilvsoph als Lebensäußerungen des denkenden
Geistes für notwendig, der fromme Gläubige aber als Seclenverderb für ein
großes Übel hält, von vornherein vorgebeugt worden. Übrigens entspricht die
Entwicklung der katholischen Kirche noch in einer zweiten Beziehung durchaus
der des modernen Großstaats. Pius, der sich von einem Konzil die Unfehl¬
barkeit beilegen ließ, um alle Erschütterungen der Kirche durch konziliare und
nichtkonziliare Streitigkeiten für alle Zukunft unmöglich zu machen, verfuhr
genau so wie die Staatsoberhäupter, die darnach streben, sich von den ver¬
fassungsmäßigen Volksvertretungen immer größere Vollmachten bewilligen zu
lassen und so die Parlamente nach und nach zu bloßen Statistenversamm¬
lungen herabzudrücken oder ganz zu beseitigen.

So hatten mich zwar des Bischofs gegen Schluß des Briefes immer herz¬
licher werdenden Worte tief bewegt und bereitwillig gemacht, ihm, mir und
meiner Mutter eine Freude zu bereiten, gleichzeitig aber -- eben durch jene
Wendung, aus der man zugleich herauslesen konnte, wie sehr er selbst die
drohende Beschränkung der innern Freiheit fürchtete -- einen neuen Anstoß
gegeben, das Unvernünftige und Widersprechende im Kirchenwesen zu unter¬
suchen. Das machte sich jedoch erst später geltend. Zunächst ward ich ganz
und gar von den Ereignissen des Tages in Anspruch genommen. Am 11. Mai
kam die Antwort ans mein letztes Schreiben ans Amt. Sie lautete:

Euer Ehrwürden werden sich bei reiflicher und ruhiger Überlegung nicht ver¬
hehlen können, beiß die uns mittelst Ihres Schreibens vom 7. d. Mes. unter¬
breitete und zur Insertion in die Schlesische Zeitung bestimmte Erklärung von uns,
als zur Behebung und Sühnung des durch Ihr erstes Inserat in derselben Zei¬
tung vom 27. April er. gegebnen Anstoßes, als ausreichend nicht erachtet werden


Wandlungen des Ich im Zeitenstroine

Sühne für unsre Sünden und ErWirkung der Sündenvergebung, genauer zu
bestimmen, erheben sich eine Menge von Schwierigkeiten: bald fühlt sich der
Verstand, bald das Herz gedrängt, Einspruch zu erheben. So geht es bei allen
andern Dogmen. Beim Unfehlbarkeitsdogma aber erhob sich, abgesehen von
einer Fülle entgegenstehender geschichtlicher Erinnerungen, noch eine ganz be¬
sondre Schwierigkeit. Daß die ursprünglichen Dogmen im Laufe der Zeit ihren
Inhalt immer reicher entfalteten, indem Folgerungen daraus gezogen wurden,
war ein natürlicher und unabwendbarer Prozeß, gegen den an sich, wenn nur
das leidige Dogmatisireu unterbliebe, nichts einzuwenden wäre. So kann es
gar nicht fehlen, daß, wenn man Gott als das vollkommenste Wesen definirt
hat, aus diesem Begriff eine ausführliche Lehre von den Eigenschaften Gottes
herausgesponnen wird. Aber die päpstliche Unfehlbarkeit hätte, wenn sie einen
wesentlichen Bestandteil des christlichen Glaubens bildete, nicht erst als Folge¬
rung in spätern Jahrhunderten herausgesponnen, sondern als Grundwahrheit,
ans der die Lehre von der Kirchenverfassung Herausznspinnen gewesen wäre,
gleich anfangs verkündigt werden müssen. Damit wäre den Glaubensstreitig¬
keiten, die zwar der Geschichtsphilvsoph als Lebensäußerungen des denkenden
Geistes für notwendig, der fromme Gläubige aber als Seclenverderb für ein
großes Übel hält, von vornherein vorgebeugt worden. Übrigens entspricht die
Entwicklung der katholischen Kirche noch in einer zweiten Beziehung durchaus
der des modernen Großstaats. Pius, der sich von einem Konzil die Unfehl¬
barkeit beilegen ließ, um alle Erschütterungen der Kirche durch konziliare und
nichtkonziliare Streitigkeiten für alle Zukunft unmöglich zu machen, verfuhr
genau so wie die Staatsoberhäupter, die darnach streben, sich von den ver¬
fassungsmäßigen Volksvertretungen immer größere Vollmachten bewilligen zu
lassen und so die Parlamente nach und nach zu bloßen Statistenversamm¬
lungen herabzudrücken oder ganz zu beseitigen.

So hatten mich zwar des Bischofs gegen Schluß des Briefes immer herz¬
licher werdenden Worte tief bewegt und bereitwillig gemacht, ihm, mir und
meiner Mutter eine Freude zu bereiten, gleichzeitig aber — eben durch jene
Wendung, aus der man zugleich herauslesen konnte, wie sehr er selbst die
drohende Beschränkung der innern Freiheit fürchtete — einen neuen Anstoß
gegeben, das Unvernünftige und Widersprechende im Kirchenwesen zu unter¬
suchen. Das machte sich jedoch erst später geltend. Zunächst ward ich ganz
und gar von den Ereignissen des Tages in Anspruch genommen. Am 11. Mai
kam die Antwort ans mein letztes Schreiben ans Amt. Sie lautete:

Euer Ehrwürden werden sich bei reiflicher und ruhiger Überlegung nicht ver¬
hehlen können, beiß die uns mittelst Ihres Schreibens vom 7. d. Mes. unter¬
breitete und zur Insertion in die Schlesische Zeitung bestimmte Erklärung von uns,
als zur Behebung und Sühnung des durch Ihr erstes Inserat in derselben Zei¬
tung vom 27. April er. gegebnen Anstoßes, als ausreichend nicht erachtet werden


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[0523] Wandlungen des Ich im Zeitenstroine Sühne für unsre Sünden und ErWirkung der Sündenvergebung, genauer zu bestimmen, erheben sich eine Menge von Schwierigkeiten: bald fühlt sich der Verstand, bald das Herz gedrängt, Einspruch zu erheben. So geht es bei allen andern Dogmen. Beim Unfehlbarkeitsdogma aber erhob sich, abgesehen von einer Fülle entgegenstehender geschichtlicher Erinnerungen, noch eine ganz be¬ sondre Schwierigkeit. Daß die ursprünglichen Dogmen im Laufe der Zeit ihren Inhalt immer reicher entfalteten, indem Folgerungen daraus gezogen wurden, war ein natürlicher und unabwendbarer Prozeß, gegen den an sich, wenn nur das leidige Dogmatisireu unterbliebe, nichts einzuwenden wäre. So kann es gar nicht fehlen, daß, wenn man Gott als das vollkommenste Wesen definirt hat, aus diesem Begriff eine ausführliche Lehre von den Eigenschaften Gottes herausgesponnen wird. Aber die päpstliche Unfehlbarkeit hätte, wenn sie einen wesentlichen Bestandteil des christlichen Glaubens bildete, nicht erst als Folge¬ rung in spätern Jahrhunderten herausgesponnen, sondern als Grundwahrheit, ans der die Lehre von der Kirchenverfassung Herausznspinnen gewesen wäre, gleich anfangs verkündigt werden müssen. Damit wäre den Glaubensstreitig¬ keiten, die zwar der Geschichtsphilvsoph als Lebensäußerungen des denkenden Geistes für notwendig, der fromme Gläubige aber als Seclenverderb für ein großes Übel hält, von vornherein vorgebeugt worden. Übrigens entspricht die Entwicklung der katholischen Kirche noch in einer zweiten Beziehung durchaus der des modernen Großstaats. Pius, der sich von einem Konzil die Unfehl¬ barkeit beilegen ließ, um alle Erschütterungen der Kirche durch konziliare und nichtkonziliare Streitigkeiten für alle Zukunft unmöglich zu machen, verfuhr genau so wie die Staatsoberhäupter, die darnach streben, sich von den ver¬ fassungsmäßigen Volksvertretungen immer größere Vollmachten bewilligen zu lassen und so die Parlamente nach und nach zu bloßen Statistenversamm¬ lungen herabzudrücken oder ganz zu beseitigen. So hatten mich zwar des Bischofs gegen Schluß des Briefes immer herz¬ licher werdenden Worte tief bewegt und bereitwillig gemacht, ihm, mir und meiner Mutter eine Freude zu bereiten, gleichzeitig aber — eben durch jene Wendung, aus der man zugleich herauslesen konnte, wie sehr er selbst die drohende Beschränkung der innern Freiheit fürchtete — einen neuen Anstoß gegeben, das Unvernünftige und Widersprechende im Kirchenwesen zu unter¬ suchen. Das machte sich jedoch erst später geltend. Zunächst ward ich ganz und gar von den Ereignissen des Tages in Anspruch genommen. Am 11. Mai kam die Antwort ans mein letztes Schreiben ans Amt. Sie lautete: Euer Ehrwürden werden sich bei reiflicher und ruhiger Überlegung nicht ver¬ hehlen können, beiß die uns mittelst Ihres Schreibens vom 7. d. Mes. unter¬ breitete und zur Insertion in die Schlesische Zeitung bestimmte Erklärung von uns, als zur Behebung und Sühnung des durch Ihr erstes Inserat in derselben Zei¬ tung vom 27. April er. gegebnen Anstoßes, als ausreichend nicht erachtet werden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/523>, abgerufen am 23.06.2024.