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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Wandlungen des Ich im Zeitenstrome

Man erkennt aus diesem Schreiben deutlich den Standpunkt, den ich
bereits gezeichnet habe. Sehr interessant ist die Wendung: "Die Meinung
darüber (über die Unfehlbarkeit) ist zur Stunde in der Kirche noch frei." Sie
beruht auf der Anschauung, die damals viel erörtert wurde, daß es in dem
uferlosen und meistens sehr stürmischen Meere philosophischer und theologischer
Meinungen einen fest umschriebnen Kreis, gewissermaßen einen ruhigen Hafen
erklärter Dogmen gebe, über die nicht mehr gestritten werden dürfe, und daß
im Laufe der Zeit dieser Kreis immer weiter ausgedehnt und eine immer
größere Anzahl von Zweifeln gelöst, von Gegenständen dem Streite entrückt
werde. Man beruft sich dafür auf die Verheißung Christi im 14. und 16. Ka¬
pitel des Johannisevangeliums, daß der Tröster, der heilige Geist, die Kirche
-- denn an diese seien die zu den Aposteln gesprochnen Worte gerichtet --
alle Wahrheit lehren werde. In der That ist ja nun auch das theologische
Leben in der katholischen Kirche so verlaufen, daß Konzilien und Päpste zwischen
den streitenden Theologen geschlichtet und immer die eine von zwei entgegen¬
gesetzten Meinungen dogmatisirt, die andre für Irrtum erklärt und so das Ge¬
biet der freien Meinungen immer mehr eingeschränkt haben, sodaß heutzutage
die katholische Theologie einem ruhigen Hafen gleicht, während die protestan¬
tische das nicht umfriedete stürmische Meer darstellt. Der Verlauf gleicht auf
ein Haar dem der Ausbildung des modernen Staats, der immer mehr Lebens¬
gebiete in seinen Bereich zieht, immer mehr Handlungen verbietet und so den
Bereich des Erlaubten, der Freiheit immer mehr einschränkt. Aber sich äußer¬
lichen, auch noch so harten Freiheitsbeschränkungen geduldig oder murrend zu
fügen, das ist, wenn anch nicht angenehm, so doch wenigstens möglich; da¬
gegen ist es für den an selbständiges Denken gewöhnten ein Ding der Un¬
möglichkeit, einen Satz, den er bisher für falsch gehalten hat, ohne Beweis
und bloß auf Kommando von einem bestimmten Tage ab für wahr zu halten.
Glaubensmeinungen, in denen man aufgewachsen ist, werden einem nicht so
leicht zweifelhaft, aber soll man plötzlich ein neues Dogma annehmen, noch
dazu eins, das einem zuwider ist, so fühlt man sich zur Prüfung des ganzen
Glaubenssystems herausgefordert. Und jeder weitere Ausbau eines Glaubens¬
systeins durch Einfügung neuer Dogmen*) macht seine Annahme schwieriger.
Gegen den Satz, daß Christus ein Erlöser sei, wird ein Mensch, der das
Christentum kennen gelernt hat, nicht leicht etwas einzuwenden haben, denn
es giebt vieles im Neuen Testament und in der Kirche, was wohlthätig und
erlösend wirkt, und so darf man ohne Zweifel den einen Erlöser nennen, von
dem diese Wirkungen ausgehen. Aber sobald man anfängt, den Begriff der
Erlösung, sei es auf katholische, sei es auf protestantische Weise, etwa als



*) Es ist nur Ausrede, wenn gesagt wird, es würden ja nicht neue Dogmen gemacht,
sondern nur alte Meinungen oder logische Folgerungen aus anerkannten Dogmen dogmatisirt;
als Dogmen sind sie eben neu.
Wandlungen des Ich im Zeitenstrome

Man erkennt aus diesem Schreiben deutlich den Standpunkt, den ich
bereits gezeichnet habe. Sehr interessant ist die Wendung: „Die Meinung
darüber (über die Unfehlbarkeit) ist zur Stunde in der Kirche noch frei." Sie
beruht auf der Anschauung, die damals viel erörtert wurde, daß es in dem
uferlosen und meistens sehr stürmischen Meere philosophischer und theologischer
Meinungen einen fest umschriebnen Kreis, gewissermaßen einen ruhigen Hafen
erklärter Dogmen gebe, über die nicht mehr gestritten werden dürfe, und daß
im Laufe der Zeit dieser Kreis immer weiter ausgedehnt und eine immer
größere Anzahl von Zweifeln gelöst, von Gegenständen dem Streite entrückt
werde. Man beruft sich dafür auf die Verheißung Christi im 14. und 16. Ka¬
pitel des Johannisevangeliums, daß der Tröster, der heilige Geist, die Kirche
— denn an diese seien die zu den Aposteln gesprochnen Worte gerichtet —
alle Wahrheit lehren werde. In der That ist ja nun auch das theologische
Leben in der katholischen Kirche so verlaufen, daß Konzilien und Päpste zwischen
den streitenden Theologen geschlichtet und immer die eine von zwei entgegen¬
gesetzten Meinungen dogmatisirt, die andre für Irrtum erklärt und so das Ge¬
biet der freien Meinungen immer mehr eingeschränkt haben, sodaß heutzutage
die katholische Theologie einem ruhigen Hafen gleicht, während die protestan¬
tische das nicht umfriedete stürmische Meer darstellt. Der Verlauf gleicht auf
ein Haar dem der Ausbildung des modernen Staats, der immer mehr Lebens¬
gebiete in seinen Bereich zieht, immer mehr Handlungen verbietet und so den
Bereich des Erlaubten, der Freiheit immer mehr einschränkt. Aber sich äußer¬
lichen, auch noch so harten Freiheitsbeschränkungen geduldig oder murrend zu
fügen, das ist, wenn anch nicht angenehm, so doch wenigstens möglich; da¬
gegen ist es für den an selbständiges Denken gewöhnten ein Ding der Un¬
möglichkeit, einen Satz, den er bisher für falsch gehalten hat, ohne Beweis
und bloß auf Kommando von einem bestimmten Tage ab für wahr zu halten.
Glaubensmeinungen, in denen man aufgewachsen ist, werden einem nicht so
leicht zweifelhaft, aber soll man plötzlich ein neues Dogma annehmen, noch
dazu eins, das einem zuwider ist, so fühlt man sich zur Prüfung des ganzen
Glaubenssystems herausgefordert. Und jeder weitere Ausbau eines Glaubens¬
systeins durch Einfügung neuer Dogmen*) macht seine Annahme schwieriger.
Gegen den Satz, daß Christus ein Erlöser sei, wird ein Mensch, der das
Christentum kennen gelernt hat, nicht leicht etwas einzuwenden haben, denn
es giebt vieles im Neuen Testament und in der Kirche, was wohlthätig und
erlösend wirkt, und so darf man ohne Zweifel den einen Erlöser nennen, von
dem diese Wirkungen ausgehen. Aber sobald man anfängt, den Begriff der
Erlösung, sei es auf katholische, sei es auf protestantische Weise, etwa als



*) Es ist nur Ausrede, wenn gesagt wird, es würden ja nicht neue Dogmen gemacht,
sondern nur alte Meinungen oder logische Folgerungen aus anerkannten Dogmen dogmatisirt;
als Dogmen sind sie eben neu.
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[0522] Wandlungen des Ich im Zeitenstrome Man erkennt aus diesem Schreiben deutlich den Standpunkt, den ich bereits gezeichnet habe. Sehr interessant ist die Wendung: „Die Meinung darüber (über die Unfehlbarkeit) ist zur Stunde in der Kirche noch frei." Sie beruht auf der Anschauung, die damals viel erörtert wurde, daß es in dem uferlosen und meistens sehr stürmischen Meere philosophischer und theologischer Meinungen einen fest umschriebnen Kreis, gewissermaßen einen ruhigen Hafen erklärter Dogmen gebe, über die nicht mehr gestritten werden dürfe, und daß im Laufe der Zeit dieser Kreis immer weiter ausgedehnt und eine immer größere Anzahl von Zweifeln gelöst, von Gegenständen dem Streite entrückt werde. Man beruft sich dafür auf die Verheißung Christi im 14. und 16. Ka¬ pitel des Johannisevangeliums, daß der Tröster, der heilige Geist, die Kirche — denn an diese seien die zu den Aposteln gesprochnen Worte gerichtet — alle Wahrheit lehren werde. In der That ist ja nun auch das theologische Leben in der katholischen Kirche so verlaufen, daß Konzilien und Päpste zwischen den streitenden Theologen geschlichtet und immer die eine von zwei entgegen¬ gesetzten Meinungen dogmatisirt, die andre für Irrtum erklärt und so das Ge¬ biet der freien Meinungen immer mehr eingeschränkt haben, sodaß heutzutage die katholische Theologie einem ruhigen Hafen gleicht, während die protestan¬ tische das nicht umfriedete stürmische Meer darstellt. Der Verlauf gleicht auf ein Haar dem der Ausbildung des modernen Staats, der immer mehr Lebens¬ gebiete in seinen Bereich zieht, immer mehr Handlungen verbietet und so den Bereich des Erlaubten, der Freiheit immer mehr einschränkt. Aber sich äußer¬ lichen, auch noch so harten Freiheitsbeschränkungen geduldig oder murrend zu fügen, das ist, wenn anch nicht angenehm, so doch wenigstens möglich; da¬ gegen ist es für den an selbständiges Denken gewöhnten ein Ding der Un¬ möglichkeit, einen Satz, den er bisher für falsch gehalten hat, ohne Beweis und bloß auf Kommando von einem bestimmten Tage ab für wahr zu halten. Glaubensmeinungen, in denen man aufgewachsen ist, werden einem nicht so leicht zweifelhaft, aber soll man plötzlich ein neues Dogma annehmen, noch dazu eins, das einem zuwider ist, so fühlt man sich zur Prüfung des ganzen Glaubenssystems herausgefordert. Und jeder weitere Ausbau eines Glaubens¬ systeins durch Einfügung neuer Dogmen*) macht seine Annahme schwieriger. Gegen den Satz, daß Christus ein Erlöser sei, wird ein Mensch, der das Christentum kennen gelernt hat, nicht leicht etwas einzuwenden haben, denn es giebt vieles im Neuen Testament und in der Kirche, was wohlthätig und erlösend wirkt, und so darf man ohne Zweifel den einen Erlöser nennen, von dem diese Wirkungen ausgehen. Aber sobald man anfängt, den Begriff der Erlösung, sei es auf katholische, sei es auf protestantische Weise, etwa als *) Es ist nur Ausrede, wenn gesagt wird, es würden ja nicht neue Dogmen gemacht, sondern nur alte Meinungen oder logische Folgerungen aus anerkannten Dogmen dogmatisirt; als Dogmen sind sie eben neu.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/522>, abgerufen am 23.06.2024.