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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Wie man sich verspricht

Höchst merkwürdig ist endlich die Erscheinung der Dissimilation: man hat
einen gewissen Laut mehreremale zu sprechen, unterdrückt ihn aber einmal oder
setzt einen verwandten dafür ein; namentlich um l und r handelt es sich hier.
Meringer hat folgende sichern Beispiele beobachtet: zweisü -- zweiflügelige,
Spiegelbit der Welt; auch der Schreibfehler Tragung der Tauer (statt Trauer)
wird hierher gehören. Diese Dissimilation ist um so auffälliger, weil sie das
gerade Gegenteil von den sonst so häusig beobachteten Vor- und Nachklängen
ist. Sie läßt sich natürlich auch nicht aus derselben Wurzel wie jene andern
Arten des Versprechens erklären.

Die Vor- und Nachklänge, die Verquickungen und Vertauschungen von
Lauten, Silben und Wörtern beruhen darauf, daß die innere Sprachbildung,
der psychische Vorgang, der vor dem sinnenfälligen Sprechen unmittelbar vorher¬
läuft, anders geartet ist als dieses äußere Sprechen. Dieses muß sich in der
Zeit abwickeln, jene kann gleichzeitig oder doch in unendlich viel kürzerer Zeit
verschiednes übersehen, zusammenfassen, fühlen und denken, mehr oder weniger
deutlich empfinden. Die Lautgruppe, die in der innern Sprache ins Bewußt¬
sein tritt, ist gleichzeitig umschwärmt von einer Reihe von Parallelwerten,
eben vernommnen Gehörseindrücken, bevorstehenden Lautbildern, die aus ihrer
umgebenden Sphäre je nach ihrer Stärke leichter oder weniger leicht über die
Schwelle des Bewußtseins herüberwirken und dann auch in die Lautgruppe,
wie sie eben ausgesprochen wird, hineinspielen können. Ganz wo anders ist
die Erklärung für die Dissimilation zu suchen. Nicht um Verschiebungen vor¬
handner Satzglieder aus einer Sphäre in eine andre handelt es sich da, sondern
rein um die Erzeugung eines Lautes, genauer gesagt, um die Schwierigkeit,
denselben Laut zweimal oder gar noch öfter in gleichem Werte innerhalb einer
kleinsten psychologischen Einheit zu bilden. Professor Stricker, auch ein Wiener
Mediziner, hat bei einer genanen Beobachtung seiner innern Bildung der Wort¬
reihe "Roland der Riese am Rathaus zu Bremen" folgendes festgestellt. "In
dem Augenblicke, als ich still denkend "Roland" zu lautiren anfange, während
also das "Ro" im Vordergrunde steht und "Riese" bereits auftaucht, habe
ich in der That nicht die dunkle Vorstellung "Niese," sondern nur "lese.""

Dieselben Erklärungen gelten auch für Lesefehler und Schreibfehler, nur
daß hier teilweise bei der innern Erzeugung der Gesichtssinn an die Stelle
des Gehörssinns tritt. Auch dasür, wie man sich verliest, bietet Meringers
Buch eine große Anzahl hübscher Beispiele, weniger für Verschreibungen. In
ein paar Cieerostunden habe ich mir folgende Verlesungen meiner Jungen aufge-
schrieben: nstrarii (wiederholt statt nstÄrii), 8NÄv cluAnitatis (zweimal), ns-
vöLÄstÄww, an!weg,W lÄoiims und die beiden hübschen Beispiele sustsntMäo g.e
prolÄiMnäo (für xrol".ein6o) und xostrsmo nostsrno alio. Ja einer brachte
eine prächtige Dissimilation zu Tage, indem er laut non öminsm las statt
non N6umso. Von Verschreibungen von Schülern in einer schriftlichen Be-


Wie man sich verspricht

Höchst merkwürdig ist endlich die Erscheinung der Dissimilation: man hat
einen gewissen Laut mehreremale zu sprechen, unterdrückt ihn aber einmal oder
setzt einen verwandten dafür ein; namentlich um l und r handelt es sich hier.
Meringer hat folgende sichern Beispiele beobachtet: zweisü — zweiflügelige,
Spiegelbit der Welt; auch der Schreibfehler Tragung der Tauer (statt Trauer)
wird hierher gehören. Diese Dissimilation ist um so auffälliger, weil sie das
gerade Gegenteil von den sonst so häusig beobachteten Vor- und Nachklängen
ist. Sie läßt sich natürlich auch nicht aus derselben Wurzel wie jene andern
Arten des Versprechens erklären.

Die Vor- und Nachklänge, die Verquickungen und Vertauschungen von
Lauten, Silben und Wörtern beruhen darauf, daß die innere Sprachbildung,
der psychische Vorgang, der vor dem sinnenfälligen Sprechen unmittelbar vorher¬
läuft, anders geartet ist als dieses äußere Sprechen. Dieses muß sich in der
Zeit abwickeln, jene kann gleichzeitig oder doch in unendlich viel kürzerer Zeit
verschiednes übersehen, zusammenfassen, fühlen und denken, mehr oder weniger
deutlich empfinden. Die Lautgruppe, die in der innern Sprache ins Bewußt¬
sein tritt, ist gleichzeitig umschwärmt von einer Reihe von Parallelwerten,
eben vernommnen Gehörseindrücken, bevorstehenden Lautbildern, die aus ihrer
umgebenden Sphäre je nach ihrer Stärke leichter oder weniger leicht über die
Schwelle des Bewußtseins herüberwirken und dann auch in die Lautgruppe,
wie sie eben ausgesprochen wird, hineinspielen können. Ganz wo anders ist
die Erklärung für die Dissimilation zu suchen. Nicht um Verschiebungen vor¬
handner Satzglieder aus einer Sphäre in eine andre handelt es sich da, sondern
rein um die Erzeugung eines Lautes, genauer gesagt, um die Schwierigkeit,
denselben Laut zweimal oder gar noch öfter in gleichem Werte innerhalb einer
kleinsten psychologischen Einheit zu bilden. Professor Stricker, auch ein Wiener
Mediziner, hat bei einer genanen Beobachtung seiner innern Bildung der Wort¬
reihe „Roland der Riese am Rathaus zu Bremen" folgendes festgestellt. „In
dem Augenblicke, als ich still denkend »Roland« zu lautiren anfange, während
also das »Ro« im Vordergrunde steht und »Riese« bereits auftaucht, habe
ich in der That nicht die dunkle Vorstellung »Niese,« sondern nur »lese.«"

Dieselben Erklärungen gelten auch für Lesefehler und Schreibfehler, nur
daß hier teilweise bei der innern Erzeugung der Gesichtssinn an die Stelle
des Gehörssinns tritt. Auch dasür, wie man sich verliest, bietet Meringers
Buch eine große Anzahl hübscher Beispiele, weniger für Verschreibungen. In
ein paar Cieerostunden habe ich mir folgende Verlesungen meiner Jungen aufge-
schrieben: nstrarii (wiederholt statt nstÄrii), 8NÄv cluAnitatis (zweimal), ns-
vöLÄstÄww, an!weg,W lÄoiims und die beiden hübschen Beispiele sustsntMäo g.e
prolÄiMnäo (für xrol».ein6o) und xostrsmo nostsrno alio. Ja einer brachte
eine prächtige Dissimilation zu Tage, indem er laut non öminsm las statt
non N6umso. Von Verschreibungen von Schülern in einer schriftlichen Be-


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[0485] Wie man sich verspricht Höchst merkwürdig ist endlich die Erscheinung der Dissimilation: man hat einen gewissen Laut mehreremale zu sprechen, unterdrückt ihn aber einmal oder setzt einen verwandten dafür ein; namentlich um l und r handelt es sich hier. Meringer hat folgende sichern Beispiele beobachtet: zweisü — zweiflügelige, Spiegelbit der Welt; auch der Schreibfehler Tragung der Tauer (statt Trauer) wird hierher gehören. Diese Dissimilation ist um so auffälliger, weil sie das gerade Gegenteil von den sonst so häusig beobachteten Vor- und Nachklängen ist. Sie läßt sich natürlich auch nicht aus derselben Wurzel wie jene andern Arten des Versprechens erklären. Die Vor- und Nachklänge, die Verquickungen und Vertauschungen von Lauten, Silben und Wörtern beruhen darauf, daß die innere Sprachbildung, der psychische Vorgang, der vor dem sinnenfälligen Sprechen unmittelbar vorher¬ läuft, anders geartet ist als dieses äußere Sprechen. Dieses muß sich in der Zeit abwickeln, jene kann gleichzeitig oder doch in unendlich viel kürzerer Zeit verschiednes übersehen, zusammenfassen, fühlen und denken, mehr oder weniger deutlich empfinden. Die Lautgruppe, die in der innern Sprache ins Bewußt¬ sein tritt, ist gleichzeitig umschwärmt von einer Reihe von Parallelwerten, eben vernommnen Gehörseindrücken, bevorstehenden Lautbildern, die aus ihrer umgebenden Sphäre je nach ihrer Stärke leichter oder weniger leicht über die Schwelle des Bewußtseins herüberwirken und dann auch in die Lautgruppe, wie sie eben ausgesprochen wird, hineinspielen können. Ganz wo anders ist die Erklärung für die Dissimilation zu suchen. Nicht um Verschiebungen vor¬ handner Satzglieder aus einer Sphäre in eine andre handelt es sich da, sondern rein um die Erzeugung eines Lautes, genauer gesagt, um die Schwierigkeit, denselben Laut zweimal oder gar noch öfter in gleichem Werte innerhalb einer kleinsten psychologischen Einheit zu bilden. Professor Stricker, auch ein Wiener Mediziner, hat bei einer genanen Beobachtung seiner innern Bildung der Wort¬ reihe „Roland der Riese am Rathaus zu Bremen" folgendes festgestellt. „In dem Augenblicke, als ich still denkend »Roland« zu lautiren anfange, während also das »Ro« im Vordergrunde steht und »Riese« bereits auftaucht, habe ich in der That nicht die dunkle Vorstellung »Niese,« sondern nur »lese.«" Dieselben Erklärungen gelten auch für Lesefehler und Schreibfehler, nur daß hier teilweise bei der innern Erzeugung der Gesichtssinn an die Stelle des Gehörssinns tritt. Auch dasür, wie man sich verliest, bietet Meringers Buch eine große Anzahl hübscher Beispiele, weniger für Verschreibungen. In ein paar Cieerostunden habe ich mir folgende Verlesungen meiner Jungen aufge- schrieben: nstrarii (wiederholt statt nstÄrii), 8NÄv cluAnitatis (zweimal), ns- vöLÄstÄww, an!weg,W lÄoiims und die beiden hübschen Beispiele sustsntMäo g.e prolÄiMnäo (für xrol».ein6o) und xostrsmo nostsrno alio. Ja einer brachte eine prächtige Dissimilation zu Tage, indem er laut non öminsm las statt non N6umso. Von Verschreibungen von Schülern in einer schriftlichen Be-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/485>, abgerufen am 24.06.2024.