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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Kirche und Schule

der sich gar nicht mehr lange wird aufrecht erhalten lassen. Denn der Staat
hat die Verhältnisse der Volksschule durch ein Gesetz geordnet (in Sachsen)
oder fühlt sich doch wenigstens dazu berechtigt und verpflichtet (z. B. in
Preußen). Es ist unvermeidlich, daß er, indem er von allen Gemeinden die¬
selben Leistungen fordert, die Lasten außerordentlich ungleichmäßig verteilt.
Die darin liegende Ungerechtigkeit wird nicht lange bestehen können; sie wird
dadurch beseitigt werden müssen, daß die Gemeinden nur die ordentlichen Un¬
kosten des Schulwesens (Instandhaltung der Schulgebäude, Grundgehalt der
Lehrer) zu tragen haben, während der Staat die außerordentlichen Unkosten
(für Neubauten und für Alterszulagen der Lehrer) übernimmt, was übrigens
in Sachsen bereits ziemlich vollständig durchgeführt ist, nur daß es vorläufig
noch in der Form von Unterstützungen und Beihilfen, die das Kultusmini¬
sterium den Gemeinden gewährt, gegeben wird, eine Form, die deutlich den
Übergangszustand verrät. Sachsen wird am ersten diesen Schritt thun können,
weil es durch seine ausgezeichnete Finanzwirtschaft dazu in den Stand gesetzt
wird; aber Preußen und die andern deutschen Staaten werden ihm darin folgen
müssen, wenn sie sich vielleicht auch noch lange dagegen sträuben werden.

So steht die Schule jetzt nahe vor dem Endpunkt einer Entwicklung,
durch die sie aus einer Einrichtung der evangelischen Kirche zu einer Einrich¬
tung des Staats geworden ist, der inzwischen seinen christlichen Charakter
abgestreift hat. Wir haben auch hier wieder die Erscheinung, die sich so häusig
beobachten läßt, daß zwischen dem Anfangspunkt und dem Endpunkt einer
Entwicklung eine so tiefe Kluft liegt, daß es fast undenkbar scheint, daß sie
durch die Brücke eben dieser Entwicklung verbunden sein könnten. Im übrigen --
steht die Schule wirklich schon am Endpunkt ihrer Entwicklung überhaupt?
Sie ist jetzt eine Staatsangelegenheit der Einzelstaaten des deutschen Reichs --
sollte sie sich schließlich vielleicht gar noch zur Neichsangelegenheit auswachsen
wollen?

Zugegeben, daß die Volksschule in der Gegenwart eine reine Staats¬
angelegenheit ist, das geschichtliche Recht der evangelischen Kirche auf die deutsche
Volksschule wird sich nicht leugnen lassen. Aber freilich, was ist und heißt
geschichtliches Recht? Ist es nicht das Recht der Vergangenheit an die Gegen¬
wart, des Todes an das Leben? Dann ist es überhaupt kein Recht, oder
doch nur das Recht ohne Kraft, ein totes Recht, ein Recht, aus dem gar nichts
folgt. Denn nur das Leben und die Gegenwart haben Recht und Geltung.
Darum: wenn die Kirche der Schule gegenüber weiter nichts vorbringen kann,
als ihr geschichtliches Recht, so räume sie das Feld, es ist nichts mehr für
sie dort zu holen. Und die Kirche ist in der That auf der ganzen Linie im
Rückzüge begriffen; nur drei Punkte hält sie noch besetzt: das geistliche Orts-
schulinspektorat, den Kirchendienst der Kirchschullehrer und den Religionsunter¬
richt in der Volksschule. Ich habe diese drei Punkte so geordnet, daß ich den


Kirche und Schule

der sich gar nicht mehr lange wird aufrecht erhalten lassen. Denn der Staat
hat die Verhältnisse der Volksschule durch ein Gesetz geordnet (in Sachsen)
oder fühlt sich doch wenigstens dazu berechtigt und verpflichtet (z. B. in
Preußen). Es ist unvermeidlich, daß er, indem er von allen Gemeinden die¬
selben Leistungen fordert, die Lasten außerordentlich ungleichmäßig verteilt.
Die darin liegende Ungerechtigkeit wird nicht lange bestehen können; sie wird
dadurch beseitigt werden müssen, daß die Gemeinden nur die ordentlichen Un¬
kosten des Schulwesens (Instandhaltung der Schulgebäude, Grundgehalt der
Lehrer) zu tragen haben, während der Staat die außerordentlichen Unkosten
(für Neubauten und für Alterszulagen der Lehrer) übernimmt, was übrigens
in Sachsen bereits ziemlich vollständig durchgeführt ist, nur daß es vorläufig
noch in der Form von Unterstützungen und Beihilfen, die das Kultusmini¬
sterium den Gemeinden gewährt, gegeben wird, eine Form, die deutlich den
Übergangszustand verrät. Sachsen wird am ersten diesen Schritt thun können,
weil es durch seine ausgezeichnete Finanzwirtschaft dazu in den Stand gesetzt
wird; aber Preußen und die andern deutschen Staaten werden ihm darin folgen
müssen, wenn sie sich vielleicht auch noch lange dagegen sträuben werden.

So steht die Schule jetzt nahe vor dem Endpunkt einer Entwicklung,
durch die sie aus einer Einrichtung der evangelischen Kirche zu einer Einrich¬
tung des Staats geworden ist, der inzwischen seinen christlichen Charakter
abgestreift hat. Wir haben auch hier wieder die Erscheinung, die sich so häusig
beobachten läßt, daß zwischen dem Anfangspunkt und dem Endpunkt einer
Entwicklung eine so tiefe Kluft liegt, daß es fast undenkbar scheint, daß sie
durch die Brücke eben dieser Entwicklung verbunden sein könnten. Im übrigen —
steht die Schule wirklich schon am Endpunkt ihrer Entwicklung überhaupt?
Sie ist jetzt eine Staatsangelegenheit der Einzelstaaten des deutschen Reichs —
sollte sie sich schließlich vielleicht gar noch zur Neichsangelegenheit auswachsen
wollen?

Zugegeben, daß die Volksschule in der Gegenwart eine reine Staats¬
angelegenheit ist, das geschichtliche Recht der evangelischen Kirche auf die deutsche
Volksschule wird sich nicht leugnen lassen. Aber freilich, was ist und heißt
geschichtliches Recht? Ist es nicht das Recht der Vergangenheit an die Gegen¬
wart, des Todes an das Leben? Dann ist es überhaupt kein Recht, oder
doch nur das Recht ohne Kraft, ein totes Recht, ein Recht, aus dem gar nichts
folgt. Denn nur das Leben und die Gegenwart haben Recht und Geltung.
Darum: wenn die Kirche der Schule gegenüber weiter nichts vorbringen kann,
als ihr geschichtliches Recht, so räume sie das Feld, es ist nichts mehr für
sie dort zu holen. Und die Kirche ist in der That auf der ganzen Linie im
Rückzüge begriffen; nur drei Punkte hält sie noch besetzt: das geistliche Orts-
schulinspektorat, den Kirchendienst der Kirchschullehrer und den Religionsunter¬
richt in der Volksschule. Ich habe diese drei Punkte so geordnet, daß ich den


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/466>, abgerufen am 24.06.2024.