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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Kirche und Schule

sie sich noch befindet. Der Aufklärung ist die Überschätzung des sogenannten
Positiven Wissens eigentümlich. Diese Überschätzung hat in die Volksschule Ein¬
gang gefunden und herrscht noch heute darin; sie hat es dahin gebracht, daß
unsre Volksschule aus einer Erziehungs- oder, was dasselbe ist, Bildungs¬
anstalt zu einer Anstalt geworden ist, die fast weiter nichts kann als Kennt¬
nisse mitteilen. Die Schule wirkt fast nur uoch auf den Verstand und wird
notwendigerweise immer mehr, schließlich ganz darauf verzichten müssen, das
Gemüt des Kindes zu beeinflussen, ihm sittliche Grundsätze einzupflanzen, ihm
zu einer festen Überzeugung zu verhelfen, seinen Charakter zu bilden. Die
Volksschule wäre vielleicht nicht auf diesen Abweg geraten, wenn die evangelische
Kirche in der Zeit der Aufklärung Kraft genug gehabt Hütte, die Schule als
eine reine Einrichtung der Kirche unter ihrer Gewalt zu behalten; denn unter
der unbeschränkten Herrschaft der Kirche hätte sich die Schule als Erziehungs¬
anstalt weiter entwickeln müssen, weil die Kirche viel mehr Interesse an der
Erziehung als an der Mitteilung von Kenntnissen haben müßte. Aber die
evangelische Kirche befand sich damals in dem Banne des Rationalismus, der
alles andre, nur nicht die Äußerung kirchlicher Kraft begünstigte und das
Ansehen der Kirche so schwächte, daß die Volksschule eben dadurch das all¬
gemeine Wohlwollen errang, daß sie sich von der Bevormundung der Kirche
freizumachen suchte und der Aufklärung in die Arme warf, daß sie die Auf¬
gabe, zu erziehen, hinter die Aufgabe, Kenntnisse mitzuteilen, zurückstellte. Die
Kirche hat von da an eine Verlorne Stellung verteidigt, und der Prozeß der
Ablösung der Schule von der Kirche ist rasch und unaufhaltsam fortgeschritten;
das ist durch die französische Revolution, die alles Bestehende umstieß oder
doch ins Schwanken brachte, außerordentlich gefördert worden. Nach der
französischen Revolution beginnen auch die Volksschullehrer politisch eine Rolle
M spielen, als Volksredner, Zeitungsschreiber, Abgeordnete; meistens stehen
sie im radikalen Lager. Die Volksschullehrer werden in gewisser Beziehung
eine Macht im öffentlichen Leben, weil sie fest zusammenhalten und ein hoch¬
entwickeltes Standesbewußtsein haben und geflissentlich zur Schau tragen.

Die vollständige Trennung der Volksschule von der Kirche hat der kon¬
stitutionelle Staat vollzogen; die Volksschule ist heute nicht mehr eine Ein¬
richtung der Kirche, sondern der politischen Gemeinde, was einerseits in der
Zusammensetzung des Schnlvorstcmdes,") andrerseits darin seinen Ausdruck
findet, daß die politische Gemeinde für alle Unkosten des Schulwesens (also
Schulbänken, Gehalte und Alterszulagen der Lehrer u. s. w.) auszukommen
hat. Doch handelt es sich hier augenscheinlich nur um einen Übergangszustand,



") Im Königreich Sachsen besteht der Schnlvorstcmd aus einer Anzahl von Mitglie¬
dern der bürgerlichen Gemeindevertretung, aus dem Lehrer und dem Ortsschulinspektor, d. h.
aus dem Lande in der Regel dem Geistlichen (Z 25 des sächsischen Volksschulgesetzes vom
26. April 1878).
Grenzboten N! 1895 58
Kirche und Schule

sie sich noch befindet. Der Aufklärung ist die Überschätzung des sogenannten
Positiven Wissens eigentümlich. Diese Überschätzung hat in die Volksschule Ein¬
gang gefunden und herrscht noch heute darin; sie hat es dahin gebracht, daß
unsre Volksschule aus einer Erziehungs- oder, was dasselbe ist, Bildungs¬
anstalt zu einer Anstalt geworden ist, die fast weiter nichts kann als Kennt¬
nisse mitteilen. Die Schule wirkt fast nur uoch auf den Verstand und wird
notwendigerweise immer mehr, schließlich ganz darauf verzichten müssen, das
Gemüt des Kindes zu beeinflussen, ihm sittliche Grundsätze einzupflanzen, ihm
zu einer festen Überzeugung zu verhelfen, seinen Charakter zu bilden. Die
Volksschule wäre vielleicht nicht auf diesen Abweg geraten, wenn die evangelische
Kirche in der Zeit der Aufklärung Kraft genug gehabt Hütte, die Schule als
eine reine Einrichtung der Kirche unter ihrer Gewalt zu behalten; denn unter
der unbeschränkten Herrschaft der Kirche hätte sich die Schule als Erziehungs¬
anstalt weiter entwickeln müssen, weil die Kirche viel mehr Interesse an der
Erziehung als an der Mitteilung von Kenntnissen haben müßte. Aber die
evangelische Kirche befand sich damals in dem Banne des Rationalismus, der
alles andre, nur nicht die Äußerung kirchlicher Kraft begünstigte und das
Ansehen der Kirche so schwächte, daß die Volksschule eben dadurch das all¬
gemeine Wohlwollen errang, daß sie sich von der Bevormundung der Kirche
freizumachen suchte und der Aufklärung in die Arme warf, daß sie die Auf¬
gabe, zu erziehen, hinter die Aufgabe, Kenntnisse mitzuteilen, zurückstellte. Die
Kirche hat von da an eine Verlorne Stellung verteidigt, und der Prozeß der
Ablösung der Schule von der Kirche ist rasch und unaufhaltsam fortgeschritten;
das ist durch die französische Revolution, die alles Bestehende umstieß oder
doch ins Schwanken brachte, außerordentlich gefördert worden. Nach der
französischen Revolution beginnen auch die Volksschullehrer politisch eine Rolle
M spielen, als Volksredner, Zeitungsschreiber, Abgeordnete; meistens stehen
sie im radikalen Lager. Die Volksschullehrer werden in gewisser Beziehung
eine Macht im öffentlichen Leben, weil sie fest zusammenhalten und ein hoch¬
entwickeltes Standesbewußtsein haben und geflissentlich zur Schau tragen.

Die vollständige Trennung der Volksschule von der Kirche hat der kon¬
stitutionelle Staat vollzogen; die Volksschule ist heute nicht mehr eine Ein¬
richtung der Kirche, sondern der politischen Gemeinde, was einerseits in der
Zusammensetzung des Schnlvorstcmdes,") andrerseits darin seinen Ausdruck
findet, daß die politische Gemeinde für alle Unkosten des Schulwesens (also
Schulbänken, Gehalte und Alterszulagen der Lehrer u. s. w.) auszukommen
hat. Doch handelt es sich hier augenscheinlich nur um einen Übergangszustand,



") Im Königreich Sachsen besteht der Schnlvorstcmd aus einer Anzahl von Mitglie¬
dern der bürgerlichen Gemeindevertretung, aus dem Lehrer und dem Ortsschulinspektor, d. h.
aus dem Lande in der Regel dem Geistlichen (Z 25 des sächsischen Volksschulgesetzes vom
26. April 1878).
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[0465] Kirche und Schule sie sich noch befindet. Der Aufklärung ist die Überschätzung des sogenannten Positiven Wissens eigentümlich. Diese Überschätzung hat in die Volksschule Ein¬ gang gefunden und herrscht noch heute darin; sie hat es dahin gebracht, daß unsre Volksschule aus einer Erziehungs- oder, was dasselbe ist, Bildungs¬ anstalt zu einer Anstalt geworden ist, die fast weiter nichts kann als Kennt¬ nisse mitteilen. Die Schule wirkt fast nur uoch auf den Verstand und wird notwendigerweise immer mehr, schließlich ganz darauf verzichten müssen, das Gemüt des Kindes zu beeinflussen, ihm sittliche Grundsätze einzupflanzen, ihm zu einer festen Überzeugung zu verhelfen, seinen Charakter zu bilden. Die Volksschule wäre vielleicht nicht auf diesen Abweg geraten, wenn die evangelische Kirche in der Zeit der Aufklärung Kraft genug gehabt Hütte, die Schule als eine reine Einrichtung der Kirche unter ihrer Gewalt zu behalten; denn unter der unbeschränkten Herrschaft der Kirche hätte sich die Schule als Erziehungs¬ anstalt weiter entwickeln müssen, weil die Kirche viel mehr Interesse an der Erziehung als an der Mitteilung von Kenntnissen haben müßte. Aber die evangelische Kirche befand sich damals in dem Banne des Rationalismus, der alles andre, nur nicht die Äußerung kirchlicher Kraft begünstigte und das Ansehen der Kirche so schwächte, daß die Volksschule eben dadurch das all¬ gemeine Wohlwollen errang, daß sie sich von der Bevormundung der Kirche freizumachen suchte und der Aufklärung in die Arme warf, daß sie die Auf¬ gabe, zu erziehen, hinter die Aufgabe, Kenntnisse mitzuteilen, zurückstellte. Die Kirche hat von da an eine Verlorne Stellung verteidigt, und der Prozeß der Ablösung der Schule von der Kirche ist rasch und unaufhaltsam fortgeschritten; das ist durch die französische Revolution, die alles Bestehende umstieß oder doch ins Schwanken brachte, außerordentlich gefördert worden. Nach der französischen Revolution beginnen auch die Volksschullehrer politisch eine Rolle M spielen, als Volksredner, Zeitungsschreiber, Abgeordnete; meistens stehen sie im radikalen Lager. Die Volksschullehrer werden in gewisser Beziehung eine Macht im öffentlichen Leben, weil sie fest zusammenhalten und ein hoch¬ entwickeltes Standesbewußtsein haben und geflissentlich zur Schau tragen. Die vollständige Trennung der Volksschule von der Kirche hat der kon¬ stitutionelle Staat vollzogen; die Volksschule ist heute nicht mehr eine Ein¬ richtung der Kirche, sondern der politischen Gemeinde, was einerseits in der Zusammensetzung des Schnlvorstcmdes,") andrerseits darin seinen Ausdruck findet, daß die politische Gemeinde für alle Unkosten des Schulwesens (also Schulbänken, Gehalte und Alterszulagen der Lehrer u. s. w.) auszukommen hat. Doch handelt es sich hier augenscheinlich nur um einen Übergangszustand, ") Im Königreich Sachsen besteht der Schnlvorstcmd aus einer Anzahl von Mitglie¬ dern der bürgerlichen Gemeindevertretung, aus dem Lehrer und dem Ortsschulinspektor, d. h. aus dem Lande in der Regel dem Geistlichen (Z 25 des sächsischen Volksschulgesetzes vom 26. April 1878). Grenzboten N! 1895 58

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/465>, abgerufen am 24.06.2024.