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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Die Sozialdemokratie und die englischen Parlamentswahlen

gegenüber den mehr als sechs Millionen britischer Wühler? Die Gcwerk-
vereinsbcwegung ist, wie gesagt, seit 1890 wieder zurückgegangen. Ans keinen
Fall macht sie schnelle Fortschritte. In so bedeutenden uralten Industrien
wie der Streichgarn- und Kammgaruindustric können die Gewerkvereine keine
weitere Verbreitung gewinnen, sondern verbleiben trotz der rastlosen Bemühungen
der Führer in den engsten Grenzen.

Auch wenn man bedenkt, daß eine Anzahl Gewerkvereine, besonders von
Arbeiterinnen, nicht die Kongresse beschickt, so kommt man doch jetzt im
ganzen nicht höher als auf I Million Gewerkvereinsmitgliedcr beiderlei Ge¬
schlechts. Was will aber diese Zahl sagen gegenüber den 13 Millionen Ar¬
beitern beiderlei Geschlechts, die Großbritannien überhaupt hat? Allein die
Industriearbeiter im engern Sinne sind 7V2 Millionen, wovon 5^ Millionen
männlichen Geschlechts sein sollen.

Die englischen Gewerkvercinler wenden sich der Sozialdemokratie zu, weil
sie sehen, daß die Gewerkvereine nicht mehr recht vorwärts kommen wollen,
daß sie die Löhne nicht weiter erhöhen, die Arbeitszeit nicht weiter kürzen,
kurz die soziale Lage des Volks nicht weiter heben können, weil sie sich davon
überzeugen, daß überhaupt das Ansdehnungsgebiet der Gewerkvereine eng be¬
grenzt ist.

Die letzten Parlamentswahlen werden schwerlich die Folge haben, daß
sich die Sozialdemokratie und die Gewerkvereine trennen. Im Gegenteil werden
sie sich noch enger verbinden. Durch das Ergebnis dieser Wahlen ist die par¬
lamentarische Macht der Sozialdemokratie wie der Gewerkvereine vermindert
worden. In der Niederlage Keir Hardies haben sie beide den gleichen Verlust
erlitten. Die Gewerkvercinler haben noch durch das Unterliegen des General¬
sekretärs der Gewerkvereine, Samuel Woods, des frühern Abgeordneten der
Kohlengräber auf dem Gewerkvereinskvngreß, ein zweites Mandat eingebüßt.
In diesem Parlament sind die Gewerkvereine also noch schwächer als in dem
vorigen vertreten, und doch sind die Wünsche des Gewertvereinskongresses,
auch abgesehen von der sozialdemokratischen Grundforderung der Vergesell¬
schaftung der Produktionsmittel, in immer schärfern Gegensatz zu dem Willen
des Parlaments geraten.

Wohl finden sich in der unionistischen Mehrheit Männer von hervor¬
ragendem sozialpolitischen Verständnis, wie der neue Minister der Kolonien,
Chamberlain, und der rühmlichst bekannte frühere Sekretär der Royal Com¬
mission on Labour, Geoffreh Drage. Dennoch erscheint es fraglich, ob es eine
Partei, die einen so glänzenden Sieg errungen hat, für nötig halten wird,
größere soziale Reformen eintreten zu lassen. Will das Parlament die sozialen
Verhältnisse wesentlich bessern, so muß es die Arbeitszeit im Bergbau und in
^r mechanischen Industrie, besonders in der Textilindustrie, auf achtundvierzig
Stunden wöchentlich verkürzen, die Versicherung gegen Krankheit, Alter, In-


Die Sozialdemokratie und die englischen Parlamentswahlen

gegenüber den mehr als sechs Millionen britischer Wühler? Die Gcwerk-
vereinsbcwegung ist, wie gesagt, seit 1890 wieder zurückgegangen. Ans keinen
Fall macht sie schnelle Fortschritte. In so bedeutenden uralten Industrien
wie der Streichgarn- und Kammgaruindustric können die Gewerkvereine keine
weitere Verbreitung gewinnen, sondern verbleiben trotz der rastlosen Bemühungen
der Führer in den engsten Grenzen.

Auch wenn man bedenkt, daß eine Anzahl Gewerkvereine, besonders von
Arbeiterinnen, nicht die Kongresse beschickt, so kommt man doch jetzt im
ganzen nicht höher als auf I Million Gewerkvereinsmitgliedcr beiderlei Ge¬
schlechts. Was will aber diese Zahl sagen gegenüber den 13 Millionen Ar¬
beitern beiderlei Geschlechts, die Großbritannien überhaupt hat? Allein die
Industriearbeiter im engern Sinne sind 7V2 Millionen, wovon 5^ Millionen
männlichen Geschlechts sein sollen.

Die englischen Gewerkvercinler wenden sich der Sozialdemokratie zu, weil
sie sehen, daß die Gewerkvereine nicht mehr recht vorwärts kommen wollen,
daß sie die Löhne nicht weiter erhöhen, die Arbeitszeit nicht weiter kürzen,
kurz die soziale Lage des Volks nicht weiter heben können, weil sie sich davon
überzeugen, daß überhaupt das Ansdehnungsgebiet der Gewerkvereine eng be¬
grenzt ist.

Die letzten Parlamentswahlen werden schwerlich die Folge haben, daß
sich die Sozialdemokratie und die Gewerkvereine trennen. Im Gegenteil werden
sie sich noch enger verbinden. Durch das Ergebnis dieser Wahlen ist die par¬
lamentarische Macht der Sozialdemokratie wie der Gewerkvereine vermindert
worden. In der Niederlage Keir Hardies haben sie beide den gleichen Verlust
erlitten. Die Gewerkvercinler haben noch durch das Unterliegen des General¬
sekretärs der Gewerkvereine, Samuel Woods, des frühern Abgeordneten der
Kohlengräber auf dem Gewerkvereinskvngreß, ein zweites Mandat eingebüßt.
In diesem Parlament sind die Gewerkvereine also noch schwächer als in dem
vorigen vertreten, und doch sind die Wünsche des Gewertvereinskongresses,
auch abgesehen von der sozialdemokratischen Grundforderung der Vergesell¬
schaftung der Produktionsmittel, in immer schärfern Gegensatz zu dem Willen
des Parlaments geraten.

Wohl finden sich in der unionistischen Mehrheit Männer von hervor¬
ragendem sozialpolitischen Verständnis, wie der neue Minister der Kolonien,
Chamberlain, und der rühmlichst bekannte frühere Sekretär der Royal Com¬
mission on Labour, Geoffreh Drage. Dennoch erscheint es fraglich, ob es eine
Partei, die einen so glänzenden Sieg errungen hat, für nötig halten wird,
größere soziale Reformen eintreten zu lassen. Will das Parlament die sozialen
Verhältnisse wesentlich bessern, so muß es die Arbeitszeit im Bergbau und in
^r mechanischen Industrie, besonders in der Textilindustrie, auf achtundvierzig
Stunden wöchentlich verkürzen, die Versicherung gegen Krankheit, Alter, In-


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[0455] Die Sozialdemokratie und die englischen Parlamentswahlen gegenüber den mehr als sechs Millionen britischer Wühler? Die Gcwerk- vereinsbcwegung ist, wie gesagt, seit 1890 wieder zurückgegangen. Ans keinen Fall macht sie schnelle Fortschritte. In so bedeutenden uralten Industrien wie der Streichgarn- und Kammgaruindustric können die Gewerkvereine keine weitere Verbreitung gewinnen, sondern verbleiben trotz der rastlosen Bemühungen der Führer in den engsten Grenzen. Auch wenn man bedenkt, daß eine Anzahl Gewerkvereine, besonders von Arbeiterinnen, nicht die Kongresse beschickt, so kommt man doch jetzt im ganzen nicht höher als auf I Million Gewerkvereinsmitgliedcr beiderlei Ge¬ schlechts. Was will aber diese Zahl sagen gegenüber den 13 Millionen Ar¬ beitern beiderlei Geschlechts, die Großbritannien überhaupt hat? Allein die Industriearbeiter im engern Sinne sind 7V2 Millionen, wovon 5^ Millionen männlichen Geschlechts sein sollen. Die englischen Gewerkvercinler wenden sich der Sozialdemokratie zu, weil sie sehen, daß die Gewerkvereine nicht mehr recht vorwärts kommen wollen, daß sie die Löhne nicht weiter erhöhen, die Arbeitszeit nicht weiter kürzen, kurz die soziale Lage des Volks nicht weiter heben können, weil sie sich davon überzeugen, daß überhaupt das Ansdehnungsgebiet der Gewerkvereine eng be¬ grenzt ist. Die letzten Parlamentswahlen werden schwerlich die Folge haben, daß sich die Sozialdemokratie und die Gewerkvereine trennen. Im Gegenteil werden sie sich noch enger verbinden. Durch das Ergebnis dieser Wahlen ist die par¬ lamentarische Macht der Sozialdemokratie wie der Gewerkvereine vermindert worden. In der Niederlage Keir Hardies haben sie beide den gleichen Verlust erlitten. Die Gewerkvercinler haben noch durch das Unterliegen des General¬ sekretärs der Gewerkvereine, Samuel Woods, des frühern Abgeordneten der Kohlengräber auf dem Gewerkvereinskvngreß, ein zweites Mandat eingebüßt. In diesem Parlament sind die Gewerkvereine also noch schwächer als in dem vorigen vertreten, und doch sind die Wünsche des Gewertvereinskongresses, auch abgesehen von der sozialdemokratischen Grundforderung der Vergesell¬ schaftung der Produktionsmittel, in immer schärfern Gegensatz zu dem Willen des Parlaments geraten. Wohl finden sich in der unionistischen Mehrheit Männer von hervor¬ ragendem sozialpolitischen Verständnis, wie der neue Minister der Kolonien, Chamberlain, und der rühmlichst bekannte frühere Sekretär der Royal Com¬ mission on Labour, Geoffreh Drage. Dennoch erscheint es fraglich, ob es eine Partei, die einen so glänzenden Sieg errungen hat, für nötig halten wird, größere soziale Reformen eintreten zu lassen. Will das Parlament die sozialen Verhältnisse wesentlich bessern, so muß es die Arbeitszeit im Bergbau und in ^r mechanischen Industrie, besonders in der Textilindustrie, auf achtundvierzig Stunden wöchentlich verkürzen, die Versicherung gegen Krankheit, Alter, In-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/455>, abgerufen am 24.06.2024.