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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Socialdemokratie und die englischen parlamentsmcchlen

Die Mannschaften der Gewerkvereine sind, wie wir gesehen haben, nur
zu einem kleinen Teile sozialdemokratisch. Aber die Mannschaften der Sozial¬
demokratie sind fast durch und durch Gewerkvereinler. Von den 64480 sozial¬
demokratischen Stimmen dürften nur einige Hundert nicht von Gewerkvereinlern
herrühren. Unter diesen 64480 Stimmen befinden sich nur sehr wenige, die
von Mitgliedern der Gewerkvereine der Kohlengräber abgegeben sein können.
Im allgemeinen hatte die Sozialdemokratie in den Bergwerksgebieten überhaupt
keine Kandidaten aufgestellt, obgleich sich schon auf dem Gewerkvereinskongreß
zu Norwich im Jahre 1894 zum erstenmale die Mehrheit der Vertreter der
Kohlengrüber für die Sozialdemokratie entschieden hatte. Nur in der Kohlen¬
stadt Newcastle-on-Thue hat der bekannte Sozialdemokrat Fred Haman 2302
Stimmen in zwei Wahlkreisen bei der Parlamentswahl erhalten. Dagegen
sind die sozialdemokratischen Stimmen in Lancashire und in Uvrkshire auf Ge¬
werkvereinler der Textilindustrie zurückzuführen. In Jorkshire die Gewerk-
vereine der Arbeiter der Schafwollindustrie ja gerade die Hochburgen der So¬
zialdemokratie. Die Führer der Gewerkvereine sind dort zugleich die Führer
der Sozialdemokratie. Dagegen haben sich die im Jahre 1889 und 1890 von
den Sozialdemokraten John Burns, Tom Mann und Ben Tiktak begründeten
Gewerkvereine der ungelernten Arbeiter als vollständig bedeutungslos sür die
Sozialdemokratie bei der Parlamentswahl erwiesen. An den Hauptsitzen dieser
Gewerkvereine in London und Glasgow hat die Sozialdemokratin geradezu
lächerlich wenig Stimmen erhalten, wie dies die 1?iMs.it U<zvs verstündigerweise
selbst zugestehen. Erstens sind diese Gewerkvereine der ungelernten Arbeiter
seit 1890 wohl beständig zurückgegangen -- im Jahre 1890 haben sich
1470191 Gewerkvereinler auf dem Gewerkvereinskongreß vertreten lassen (gegen
885055 im Jahre 1889, 1302855 im Jahre 1891, 1219934 im Jahre 1892,
900000 im Jahre 1893) --, dann aber haben ihre Mitglieder zum großen
Teile gar nicht das Wahlrecht oder sie üben es nicht aus.

Den freien englischen Gewerkvereinen gebührte in der Vergangenheit neben
der Arbeiterschutzgesetzgebung des Staats das größte Verdienst an der Fern¬
haltung der Sozialdemokratie von den Gestaden Großbritanniens. Und noch
heute können sich neun Zehntel aller erwachsenen männlichen Gewerlvereins-
mitglieder, die das Wahlrecht haben, als den Damm betrachten, an dem die
Wogen des Sozialismus kraftlos zerschellen. Aber ein Zehntel der Gewerk¬
vereinler ist "umgefallen." Sie sind jetzt die eifrigsten Förderer des Sozia¬
lismus. Und da die Mehrheit der Führer der neuen Lehre zuneigt, so ist
kein Zweifel, daß sich diese doch bald uuter den übrigen neun Zehnteln Ein¬
gang verschaffen wird.

Aber man überschätze nicht den Einfluß der englischen Gewerkvereine auf
die Parlamentswahlen und auf das öffentliche Leben überhaupt. Was be¬
deutet die halbe Million Gewerkvereinler, die das Parlamentswahlrecht haben,


Socialdemokratie und die englischen parlamentsmcchlen

Die Mannschaften der Gewerkvereine sind, wie wir gesehen haben, nur
zu einem kleinen Teile sozialdemokratisch. Aber die Mannschaften der Sozial¬
demokratie sind fast durch und durch Gewerkvereinler. Von den 64480 sozial¬
demokratischen Stimmen dürften nur einige Hundert nicht von Gewerkvereinlern
herrühren. Unter diesen 64480 Stimmen befinden sich nur sehr wenige, die
von Mitgliedern der Gewerkvereine der Kohlengräber abgegeben sein können.
Im allgemeinen hatte die Sozialdemokratie in den Bergwerksgebieten überhaupt
keine Kandidaten aufgestellt, obgleich sich schon auf dem Gewerkvereinskongreß
zu Norwich im Jahre 1894 zum erstenmale die Mehrheit der Vertreter der
Kohlengrüber für die Sozialdemokratie entschieden hatte. Nur in der Kohlen¬
stadt Newcastle-on-Thue hat der bekannte Sozialdemokrat Fred Haman 2302
Stimmen in zwei Wahlkreisen bei der Parlamentswahl erhalten. Dagegen
sind die sozialdemokratischen Stimmen in Lancashire und in Uvrkshire auf Ge¬
werkvereinler der Textilindustrie zurückzuführen. In Jorkshire die Gewerk-
vereine der Arbeiter der Schafwollindustrie ja gerade die Hochburgen der So¬
zialdemokratie. Die Führer der Gewerkvereine sind dort zugleich die Führer
der Sozialdemokratie. Dagegen haben sich die im Jahre 1889 und 1890 von
den Sozialdemokraten John Burns, Tom Mann und Ben Tiktak begründeten
Gewerkvereine der ungelernten Arbeiter als vollständig bedeutungslos sür die
Sozialdemokratie bei der Parlamentswahl erwiesen. An den Hauptsitzen dieser
Gewerkvereine in London und Glasgow hat die Sozialdemokratin geradezu
lächerlich wenig Stimmen erhalten, wie dies die 1?iMs.it U<zvs verstündigerweise
selbst zugestehen. Erstens sind diese Gewerkvereine der ungelernten Arbeiter
seit 1890 wohl beständig zurückgegangen — im Jahre 1890 haben sich
1470191 Gewerkvereinler auf dem Gewerkvereinskongreß vertreten lassen (gegen
885055 im Jahre 1889, 1302855 im Jahre 1891, 1219934 im Jahre 1892,
900000 im Jahre 1893) —, dann aber haben ihre Mitglieder zum großen
Teile gar nicht das Wahlrecht oder sie üben es nicht aus.

Den freien englischen Gewerkvereinen gebührte in der Vergangenheit neben
der Arbeiterschutzgesetzgebung des Staats das größte Verdienst an der Fern¬
haltung der Sozialdemokratie von den Gestaden Großbritanniens. Und noch
heute können sich neun Zehntel aller erwachsenen männlichen Gewerlvereins-
mitglieder, die das Wahlrecht haben, als den Damm betrachten, an dem die
Wogen des Sozialismus kraftlos zerschellen. Aber ein Zehntel der Gewerk¬
vereinler ist „umgefallen." Sie sind jetzt die eifrigsten Förderer des Sozia¬
lismus. Und da die Mehrheit der Führer der neuen Lehre zuneigt, so ist
kein Zweifel, daß sich diese doch bald uuter den übrigen neun Zehnteln Ein¬
gang verschaffen wird.

Aber man überschätze nicht den Einfluß der englischen Gewerkvereine auf
die Parlamentswahlen und auf das öffentliche Leben überhaupt. Was be¬
deutet die halbe Million Gewerkvereinler, die das Parlamentswahlrecht haben,


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[0454] Socialdemokratie und die englischen parlamentsmcchlen Die Mannschaften der Gewerkvereine sind, wie wir gesehen haben, nur zu einem kleinen Teile sozialdemokratisch. Aber die Mannschaften der Sozial¬ demokratie sind fast durch und durch Gewerkvereinler. Von den 64480 sozial¬ demokratischen Stimmen dürften nur einige Hundert nicht von Gewerkvereinlern herrühren. Unter diesen 64480 Stimmen befinden sich nur sehr wenige, die von Mitgliedern der Gewerkvereine der Kohlengräber abgegeben sein können. Im allgemeinen hatte die Sozialdemokratie in den Bergwerksgebieten überhaupt keine Kandidaten aufgestellt, obgleich sich schon auf dem Gewerkvereinskongreß zu Norwich im Jahre 1894 zum erstenmale die Mehrheit der Vertreter der Kohlengrüber für die Sozialdemokratie entschieden hatte. Nur in der Kohlen¬ stadt Newcastle-on-Thue hat der bekannte Sozialdemokrat Fred Haman 2302 Stimmen in zwei Wahlkreisen bei der Parlamentswahl erhalten. Dagegen sind die sozialdemokratischen Stimmen in Lancashire und in Uvrkshire auf Ge¬ werkvereinler der Textilindustrie zurückzuführen. In Jorkshire die Gewerk- vereine der Arbeiter der Schafwollindustrie ja gerade die Hochburgen der So¬ zialdemokratie. Die Führer der Gewerkvereine sind dort zugleich die Führer der Sozialdemokratie. Dagegen haben sich die im Jahre 1889 und 1890 von den Sozialdemokraten John Burns, Tom Mann und Ben Tiktak begründeten Gewerkvereine der ungelernten Arbeiter als vollständig bedeutungslos sür die Sozialdemokratie bei der Parlamentswahl erwiesen. An den Hauptsitzen dieser Gewerkvereine in London und Glasgow hat die Sozialdemokratin geradezu lächerlich wenig Stimmen erhalten, wie dies die 1?iMs.it U<zvs verstündigerweise selbst zugestehen. Erstens sind diese Gewerkvereine der ungelernten Arbeiter seit 1890 wohl beständig zurückgegangen — im Jahre 1890 haben sich 1470191 Gewerkvereinler auf dem Gewerkvereinskongreß vertreten lassen (gegen 885055 im Jahre 1889, 1302855 im Jahre 1891, 1219934 im Jahre 1892, 900000 im Jahre 1893) —, dann aber haben ihre Mitglieder zum großen Teile gar nicht das Wahlrecht oder sie üben es nicht aus. Den freien englischen Gewerkvereinen gebührte in der Vergangenheit neben der Arbeiterschutzgesetzgebung des Staats das größte Verdienst an der Fern¬ haltung der Sozialdemokratie von den Gestaden Großbritanniens. Und noch heute können sich neun Zehntel aller erwachsenen männlichen Gewerlvereins- mitglieder, die das Wahlrecht haben, als den Damm betrachten, an dem die Wogen des Sozialismus kraftlos zerschellen. Aber ein Zehntel der Gewerk¬ vereinler ist „umgefallen." Sie sind jetzt die eifrigsten Förderer des Sozia¬ lismus. Und da die Mehrheit der Führer der neuen Lehre zuneigt, so ist kein Zweifel, daß sich diese doch bald uuter den übrigen neun Zehnteln Ein¬ gang verschaffen wird. Aber man überschätze nicht den Einfluß der englischen Gewerkvereine auf die Parlamentswahlen und auf das öffentliche Leben überhaupt. Was be¬ deutet die halbe Million Gewerkvereinler, die das Parlamentswahlrecht haben,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/454>, abgerufen am 24.06.2024.