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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Die Sozialdemokratie und die englischen Parlamentswahlen

forderung der Sozialdemokratie mehr und mehr in England zur Erörterung
gekommen, und dadurch haben die Ansichten über die Ziele der Sozialdemo-
kratie unter den Arbeitern an Klarheit gewonnen.

Will man sich über die Fortentwicklung der Sozialdemokratie in England
eine Lehre aus einem andern Lande holen, so erinnere man sich, daß im Jahre
1871 im ganzen deutschen Reiche 120108 Stimmen für die beiden damaligen
sozialdemokratischen Parteien abgegeben wurden, während als einziger Sozial¬
demokrat Bebel für Glauchau und Meerane in den Reichstag kam. Bei der
Reichstagswahl des Jahres 1893 hatte die Sozialdemokratie 1786738 Stimmen,
errang aber bloß 44 Mandate, die in allen die Grundfesten unsrer "kapita¬
listischen Gesellschaftsordnung" berührenden Fragen bei den 397 Neichstags-
mcmdaten einfach bedeutungslos sind. John Burns hält es deshalb, wie er
mir im vorigen Jahre sagte, nicht für unmöglich, daß die Bourgeoisie (Mittel¬
klasse) in England noch fünfzig Jahre regieren werde, doch sei das Prophezeien
in, solchen Dingen gefährlich, auch sein Freund Engels habe sich geirrt, als
er im Jahre 1845 den Ausbruch einer sozialen Revolution für die nächste Zeit
(etwa sieben bis acht Jahre) voraussagte.

Während seit dem Jahre 1893 auf den Gewerkschaftskongressen die Sozial¬
demokratie die Herrschaft hat, haben die Gewerkvereinsmitglieder bei den neuesten
Parlamentswahlen gezeigt, daß sie noch nicht in ihrer Mehrheit der Sozial¬
demokratie geneigt sind. Auf dem Gewerkvereinskongreß zu Belfast im Jahre
1893 ließen sich 900000 Gewerkvereinler") durch 380 Abgeordnete vertreten.
Von diesen 900000 Gewerkvereinlern haben aller Wahrscheinlichkeit nach mehr
als 500000 das Parlamentswahlrecht. Und doch sind im Jahre 1895 nur
etwa 64000 sozialdemokratische Stimmen abgegeben worden. Da bei der Ab¬
stimmung über die Forderung der Vergesellschaftung der Produktionsmittel in
Belfast 137 Abgeordnete im sozialdemokratischen Sinne dafür und nur 97 Ab¬
geordnete dagegen stimmten, hätte man erwarten können, es würden bei der
Parlamentswahl mehr als 300000 Stimmen für die Sozialdemokratie ab¬
gegeben werden. Wem aber die Entstehungsgeschichte der englischen Sozial¬
demokratie einigermaßen bekannt ist, der konnte nicht im Zweifel darüber sein,
daß die Mannschaften in dieser Beziehung noch nicht die Anschauungen ihrer
Offiziere teilen. Es hat sich das auch alljährlich bei den Stadtverordneten¬
wahlen gezeigt. Als ich John Burns einmal fragte, wie es käme, daß die
Erfolge des Sozialismus auf den Gewerkvereinskongressen noch nicht ihre Be¬
stätigung in den politischen Wahlen funden, erwiderte er: "Die Antwort, die
ich geben muß, ist ein Kompliment für den Sozialismus. Er wird eben zuerst
von den gebildetem und dann von den uugebildetern Arbeitern erfaßt."



Vgl. den Deport ok tds 27. I'rkäs-Vmon LoiiFrs88 Kola w Uorvieli on ssxtsmdc-r
18S4, S, 79.
Die Sozialdemokratie und die englischen Parlamentswahlen

forderung der Sozialdemokratie mehr und mehr in England zur Erörterung
gekommen, und dadurch haben die Ansichten über die Ziele der Sozialdemo-
kratie unter den Arbeitern an Klarheit gewonnen.

Will man sich über die Fortentwicklung der Sozialdemokratie in England
eine Lehre aus einem andern Lande holen, so erinnere man sich, daß im Jahre
1871 im ganzen deutschen Reiche 120108 Stimmen für die beiden damaligen
sozialdemokratischen Parteien abgegeben wurden, während als einziger Sozial¬
demokrat Bebel für Glauchau und Meerane in den Reichstag kam. Bei der
Reichstagswahl des Jahres 1893 hatte die Sozialdemokratie 1786738 Stimmen,
errang aber bloß 44 Mandate, die in allen die Grundfesten unsrer „kapita¬
listischen Gesellschaftsordnung" berührenden Fragen bei den 397 Neichstags-
mcmdaten einfach bedeutungslos sind. John Burns hält es deshalb, wie er
mir im vorigen Jahre sagte, nicht für unmöglich, daß die Bourgeoisie (Mittel¬
klasse) in England noch fünfzig Jahre regieren werde, doch sei das Prophezeien
in, solchen Dingen gefährlich, auch sein Freund Engels habe sich geirrt, als
er im Jahre 1845 den Ausbruch einer sozialen Revolution für die nächste Zeit
(etwa sieben bis acht Jahre) voraussagte.

Während seit dem Jahre 1893 auf den Gewerkschaftskongressen die Sozial¬
demokratie die Herrschaft hat, haben die Gewerkvereinsmitglieder bei den neuesten
Parlamentswahlen gezeigt, daß sie noch nicht in ihrer Mehrheit der Sozial¬
demokratie geneigt sind. Auf dem Gewerkvereinskongreß zu Belfast im Jahre
1893 ließen sich 900000 Gewerkvereinler") durch 380 Abgeordnete vertreten.
Von diesen 900000 Gewerkvereinlern haben aller Wahrscheinlichkeit nach mehr
als 500000 das Parlamentswahlrecht. Und doch sind im Jahre 1895 nur
etwa 64000 sozialdemokratische Stimmen abgegeben worden. Da bei der Ab¬
stimmung über die Forderung der Vergesellschaftung der Produktionsmittel in
Belfast 137 Abgeordnete im sozialdemokratischen Sinne dafür und nur 97 Ab¬
geordnete dagegen stimmten, hätte man erwarten können, es würden bei der
Parlamentswahl mehr als 300000 Stimmen für die Sozialdemokratie ab¬
gegeben werden. Wem aber die Entstehungsgeschichte der englischen Sozial¬
demokratie einigermaßen bekannt ist, der konnte nicht im Zweifel darüber sein,
daß die Mannschaften in dieser Beziehung noch nicht die Anschauungen ihrer
Offiziere teilen. Es hat sich das auch alljährlich bei den Stadtverordneten¬
wahlen gezeigt. Als ich John Burns einmal fragte, wie es käme, daß die
Erfolge des Sozialismus auf den Gewerkvereinskongressen noch nicht ihre Be¬
stätigung in den politischen Wahlen funden, erwiderte er: „Die Antwort, die
ich geben muß, ist ein Kompliment für den Sozialismus. Er wird eben zuerst
von den gebildetem und dann von den uugebildetern Arbeitern erfaßt."



Vgl. den Deport ok tds 27. I'rkäs-Vmon LoiiFrs88 Kola w Uorvieli on ssxtsmdc-r
18S4, S, 79.
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[0453] Die Sozialdemokratie und die englischen Parlamentswahlen forderung der Sozialdemokratie mehr und mehr in England zur Erörterung gekommen, und dadurch haben die Ansichten über die Ziele der Sozialdemo- kratie unter den Arbeitern an Klarheit gewonnen. Will man sich über die Fortentwicklung der Sozialdemokratie in England eine Lehre aus einem andern Lande holen, so erinnere man sich, daß im Jahre 1871 im ganzen deutschen Reiche 120108 Stimmen für die beiden damaligen sozialdemokratischen Parteien abgegeben wurden, während als einziger Sozial¬ demokrat Bebel für Glauchau und Meerane in den Reichstag kam. Bei der Reichstagswahl des Jahres 1893 hatte die Sozialdemokratie 1786738 Stimmen, errang aber bloß 44 Mandate, die in allen die Grundfesten unsrer „kapita¬ listischen Gesellschaftsordnung" berührenden Fragen bei den 397 Neichstags- mcmdaten einfach bedeutungslos sind. John Burns hält es deshalb, wie er mir im vorigen Jahre sagte, nicht für unmöglich, daß die Bourgeoisie (Mittel¬ klasse) in England noch fünfzig Jahre regieren werde, doch sei das Prophezeien in, solchen Dingen gefährlich, auch sein Freund Engels habe sich geirrt, als er im Jahre 1845 den Ausbruch einer sozialen Revolution für die nächste Zeit (etwa sieben bis acht Jahre) voraussagte. Während seit dem Jahre 1893 auf den Gewerkschaftskongressen die Sozial¬ demokratie die Herrschaft hat, haben die Gewerkvereinsmitglieder bei den neuesten Parlamentswahlen gezeigt, daß sie noch nicht in ihrer Mehrheit der Sozial¬ demokratie geneigt sind. Auf dem Gewerkvereinskongreß zu Belfast im Jahre 1893 ließen sich 900000 Gewerkvereinler") durch 380 Abgeordnete vertreten. Von diesen 900000 Gewerkvereinlern haben aller Wahrscheinlichkeit nach mehr als 500000 das Parlamentswahlrecht. Und doch sind im Jahre 1895 nur etwa 64000 sozialdemokratische Stimmen abgegeben worden. Da bei der Ab¬ stimmung über die Forderung der Vergesellschaftung der Produktionsmittel in Belfast 137 Abgeordnete im sozialdemokratischen Sinne dafür und nur 97 Ab¬ geordnete dagegen stimmten, hätte man erwarten können, es würden bei der Parlamentswahl mehr als 300000 Stimmen für die Sozialdemokratie ab¬ gegeben werden. Wem aber die Entstehungsgeschichte der englischen Sozial¬ demokratie einigermaßen bekannt ist, der konnte nicht im Zweifel darüber sein, daß die Mannschaften in dieser Beziehung noch nicht die Anschauungen ihrer Offiziere teilen. Es hat sich das auch alljährlich bei den Stadtverordneten¬ wahlen gezeigt. Als ich John Burns einmal fragte, wie es käme, daß die Erfolge des Sozialismus auf den Gewerkvereinskongressen noch nicht ihre Be¬ stätigung in den politischen Wahlen funden, erwiderte er: „Die Antwort, die ich geben muß, ist ein Kompliment für den Sozialismus. Er wird eben zuerst von den gebildetem und dann von den uugebildetern Arbeitern erfaßt." Vgl. den Deport ok tds 27. I'rkäs-Vmon LoiiFrs88 Kola w Uorvieli on ssxtsmdc-r 18S4, S, 79.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/453>, abgerufen am 24.06.2024.