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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Das Kapital von Karl Marx

bösen Zauberers erscheint, wo die Leinwandweber keine Hemden auf dem Rücken
haben, weil die Fabrikanten zu viel unverkäufliche Leinwand haben.

Das ist es nun, was Marx meint, wenn er die Ware einen Fetisch nennt:
ein unheimliches, unbegreifliches Wesen, das uns beherrscht, "ein vertracktes
Ding voll metaphysischer Spitzfindigkeit." Ein Tisch z.B., sagt er, ist ein
ganz gewöhnliches Ding. "Aber sobald er als Ware auftritt, verwandelt er
sich in ein sinnliches übersinnliches Ding, steht nicht mehr mit seinen Füßen
auf dem Boden, sondern stellt sich allen andern Waren gegenüber auf den
Kopf und entwickelt aus seinem Holzkopf Grillen, viel wunderlicher, als wenn
er aus freien Stücken zu tanzen begänne." So haben wir die Herrschaft über
den Produktionsprozeß verloren. Wenn früher bei der Produktion viele Men¬
schen von einem beherrscht wurden, so lag darin nichts verwunderliches; die
Menschen sind nun einmal so, daß die einen mehr zum herrschen, die andern
mehr zum dienen langen; die Dinge blieben den Menschen Unterthan: pro-
duzirt wurde, was der Herr und seine Leute brauchten, und was er anzubauen
oder anzufertigen befahl. Heute werden alle Menschen von der Ware, diesen:
leblosen Dinge beherrscht und stehen dem Produktionsprozeß, der sie bald
umherschleudert bald als unnützen Bodensatz liegen läßt, rat- und hilflos
gegenüber. So erwächst aus der Erkenntnis dieses von Marx -- nicht von
ihm allein, aber von ihm ganz besonders klar und vollständig -- aufgedeckten
Zusammenhanges die Aufgabe für die heutige Gesellschaft, die Verlorne Herr¬
schaft über den Produktionsprozeß wiederzugewinnen. Nach Marx soll das
dnrch die kommunistische Gesellschaftsordnung geschehen. Wir weisen diese
Lösung ab. Wir würden den "Himmel auf Erden," wenn er hergestellt werden
könnte, nicht für ein erstrebenswertes Ideal ansehen, weil wir glauben, daß
der Mensch des beständigen Ringens mit Hindernissen zur Erfüllung seiner
Bestimmung bedarf. Und wir erblicken die Aufgabe nnr darin, der überwie¬
genden Mehrzahl der Menschen, zunächst unsrer Volksgenossen, durch Grund¬
besitz das Dasein in dem Maße zu sichern, daß sie nicht mehr ganz und gar,
fondern nur noch mit einem Teile ihres Einkommens von den unberechenbaren
Verwicklungen des Produktions- und Tauschprozesses abhängig wären, und
daß der Zustand völliger Abhängigkeit nicht mehr wie heute allgemein wäre,
sondern nur noch als persönliches Unglück vorkäme.

Die übrigen Marxischen Grundlehren können wir kurz abfertigen, weil sie
schon öfter in den Grenzboten besprochen worden sind. An den Begriff des
Wertes schließt sich der des Mehrwerth. Da aller Warenwert aus der Arbeit
fließt, setzt der Arbeiter durch seine Arbeit den Materialien Wert zu. Fürs
erste muß er, damit der Produktionsprozeß im Gange bleiben könne, so viel
zusetzen, daß dadurch die Kosten seines eignen Unterhalts gedeckt werden. Das
geschieht vielleicht durch sechsstündige Arbeit. Aber das genügt dein Fabrikanten
nicht. Der Umstand, daß sich der Arbeiter dem Willen des Fabrikanten fügen


Das Kapital von Karl Marx

bösen Zauberers erscheint, wo die Leinwandweber keine Hemden auf dem Rücken
haben, weil die Fabrikanten zu viel unverkäufliche Leinwand haben.

Das ist es nun, was Marx meint, wenn er die Ware einen Fetisch nennt:
ein unheimliches, unbegreifliches Wesen, das uns beherrscht, „ein vertracktes
Ding voll metaphysischer Spitzfindigkeit." Ein Tisch z.B., sagt er, ist ein
ganz gewöhnliches Ding. „Aber sobald er als Ware auftritt, verwandelt er
sich in ein sinnliches übersinnliches Ding, steht nicht mehr mit seinen Füßen
auf dem Boden, sondern stellt sich allen andern Waren gegenüber auf den
Kopf und entwickelt aus seinem Holzkopf Grillen, viel wunderlicher, als wenn
er aus freien Stücken zu tanzen begänne." So haben wir die Herrschaft über
den Produktionsprozeß verloren. Wenn früher bei der Produktion viele Men¬
schen von einem beherrscht wurden, so lag darin nichts verwunderliches; die
Menschen sind nun einmal so, daß die einen mehr zum herrschen, die andern
mehr zum dienen langen; die Dinge blieben den Menschen Unterthan: pro-
duzirt wurde, was der Herr und seine Leute brauchten, und was er anzubauen
oder anzufertigen befahl. Heute werden alle Menschen von der Ware, diesen:
leblosen Dinge beherrscht und stehen dem Produktionsprozeß, der sie bald
umherschleudert bald als unnützen Bodensatz liegen läßt, rat- und hilflos
gegenüber. So erwächst aus der Erkenntnis dieses von Marx — nicht von
ihm allein, aber von ihm ganz besonders klar und vollständig — aufgedeckten
Zusammenhanges die Aufgabe für die heutige Gesellschaft, die Verlorne Herr¬
schaft über den Produktionsprozeß wiederzugewinnen. Nach Marx soll das
dnrch die kommunistische Gesellschaftsordnung geschehen. Wir weisen diese
Lösung ab. Wir würden den „Himmel auf Erden," wenn er hergestellt werden
könnte, nicht für ein erstrebenswertes Ideal ansehen, weil wir glauben, daß
der Mensch des beständigen Ringens mit Hindernissen zur Erfüllung seiner
Bestimmung bedarf. Und wir erblicken die Aufgabe nnr darin, der überwie¬
genden Mehrzahl der Menschen, zunächst unsrer Volksgenossen, durch Grund¬
besitz das Dasein in dem Maße zu sichern, daß sie nicht mehr ganz und gar,
fondern nur noch mit einem Teile ihres Einkommens von den unberechenbaren
Verwicklungen des Produktions- und Tauschprozesses abhängig wären, und
daß der Zustand völliger Abhängigkeit nicht mehr wie heute allgemein wäre,
sondern nur noch als persönliches Unglück vorkäme.

Die übrigen Marxischen Grundlehren können wir kurz abfertigen, weil sie
schon öfter in den Grenzboten besprochen worden sind. An den Begriff des
Wertes schließt sich der des Mehrwerth. Da aller Warenwert aus der Arbeit
fließt, setzt der Arbeiter durch seine Arbeit den Materialien Wert zu. Fürs
erste muß er, damit der Produktionsprozeß im Gange bleiben könne, so viel
zusetzen, daß dadurch die Kosten seines eignen Unterhalts gedeckt werden. Das
geschieht vielleicht durch sechsstündige Arbeit. Aber das genügt dein Fabrikanten
nicht. Der Umstand, daß sich der Arbeiter dem Willen des Fabrikanten fügen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/37>, abgerufen am 27.07.2024.