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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Lin schweizerisches Strafgesetzbuch

rede handelt und wenn die Nachrede förmlich als unwahr zurückgezogen wird,
den Thäter ganz von Strafe zu befreien, indem er zugleich dem Verletzten
über die Rücknahme der ehrenrühriger Behauptung eine Urkunde ausstellt.
Auch der Entwurf läßt den Wahrheitsbeweis zu. Sind aber jemand straf¬
bare Handlungen nachgeredet worden, und ist ein gerichtliches Verfahren aus¬
führbar, so soll der Beweis nur durch besondres Strafurteil geführt werden
dürfen, eine Bestimmung, die die Beseitigung des staatsanwaltlichen Anklage¬
monopols zur notwendigen Voraussetzung hat. Mit Recht ist der Wahrheits¬
beweis über Vorgänge des ehelichen oder des Familienlebens ein für allemal
ausgeschlossen. Trotz des gelungner Wahrheitsbeweises bleibt der Thäter
wegen Beschimpfung strafbar, wenn er "ohne begründete Veranlassung, ins¬
besondre aus Gehässigkeit, Neid, Nachsucht, Schadenfreude gehandelt hatte."
Wie man sieht, ist also die "Wahrnehmung berechtigter Interessen" für sich
allein kein Schutz gegen Bestrafung, wenn die Wahrheit der Übeln Nachrede
nicht bewiesen werden kann.

Auch die Beschimpfung des Bundesrath oder der Regierung eines Kantons
soll nur auf Antrag strafbar sein. Dieselben Organe sollen aber auch wegen
Beschimpfung des Schweizervvlks oder des Volks eines Kantons Strafantrag
stellen können. Um nicht zur Heuchelei zu erziehe", und da es niemand ver¬
arge werden könne, wenn er die schlechte Sache mit einem richtigen und selbst
einem zu scharfen Ausdrucke bezeichne, soll der Beschimpfende von Strafe be¬
freit werden dürfen, wenn der Verletzte dnrch sein ungebührliches oder straf¬
bares Verhalten zu der Beschimpfung unmittelbar Anlaß gegeben hat. End¬
lich weist der Entwurf geringe Thätlichkeiten, die keine Körperverletzung zur
Folge haben, und bloße Scheltworte, sofern das Verhalten des Beleidigten den
Thäter nicht entschuldigt, den Übertretungen zu und bedroht sie nicht härter
als mit Haft bis zu acht Tagen oder Buße bis zu 1000 Franken.

Ganz ohne "groben Unfugsparagraphen" kommt leider auch Stooß nicht
ans. Immerhin dürfte es schwer fallen, den Boykott, das Verteilen sozial¬
demokratischer Wahlslngblätter oder antisemitischer Schmähschriften oder lieb¬
lose Preßurteile über die Trunksucht toter Referendare -- dies die jüngste
Maienblüte der modernen deutschen Rechtsprechung ans dem dankbaren Gebiete
des groben Unfugs -- unter den von Stooß vorgeschlagnen Thatbestand zu
bringen. Er lautet in Artikel 196, nachdem im ersten Satze die Störung der
öffentlichen Ruhe durch Lärm oder Geschrei bedroht worden ist: "Wer die
Bevölkerung oder Teile derselben durch falsche Gerüchte, Alarmzeichen oder
ähnliche Handlungen beunruhigt oder ängstigt, wird mit Haft (von drei Tagen
bis zu drei Monaten) oder mit Buße bis 3000 Franken bestraft." Freilich
Zerfalle Stooß an andrer Stelle (Artikel 205) in einen für einen so vorsich¬
tigen Gesetzgeber fast unbegreiflichen Übergriff des Strafgesetzes in das Ge¬
biet der Sitte, indem er in einer geradezu uferlosen Bestimmung mit Buße


Lin schweizerisches Strafgesetzbuch

rede handelt und wenn die Nachrede förmlich als unwahr zurückgezogen wird,
den Thäter ganz von Strafe zu befreien, indem er zugleich dem Verletzten
über die Rücknahme der ehrenrühriger Behauptung eine Urkunde ausstellt.
Auch der Entwurf läßt den Wahrheitsbeweis zu. Sind aber jemand straf¬
bare Handlungen nachgeredet worden, und ist ein gerichtliches Verfahren aus¬
führbar, so soll der Beweis nur durch besondres Strafurteil geführt werden
dürfen, eine Bestimmung, die die Beseitigung des staatsanwaltlichen Anklage¬
monopols zur notwendigen Voraussetzung hat. Mit Recht ist der Wahrheits¬
beweis über Vorgänge des ehelichen oder des Familienlebens ein für allemal
ausgeschlossen. Trotz des gelungner Wahrheitsbeweises bleibt der Thäter
wegen Beschimpfung strafbar, wenn er „ohne begründete Veranlassung, ins¬
besondre aus Gehässigkeit, Neid, Nachsucht, Schadenfreude gehandelt hatte."
Wie man sieht, ist also die „Wahrnehmung berechtigter Interessen" für sich
allein kein Schutz gegen Bestrafung, wenn die Wahrheit der Übeln Nachrede
nicht bewiesen werden kann.

Auch die Beschimpfung des Bundesrath oder der Regierung eines Kantons
soll nur auf Antrag strafbar sein. Dieselben Organe sollen aber auch wegen
Beschimpfung des Schweizervvlks oder des Volks eines Kantons Strafantrag
stellen können. Um nicht zur Heuchelei zu erziehe», und da es niemand ver¬
arge werden könne, wenn er die schlechte Sache mit einem richtigen und selbst
einem zu scharfen Ausdrucke bezeichne, soll der Beschimpfende von Strafe be¬
freit werden dürfen, wenn der Verletzte dnrch sein ungebührliches oder straf¬
bares Verhalten zu der Beschimpfung unmittelbar Anlaß gegeben hat. End¬
lich weist der Entwurf geringe Thätlichkeiten, die keine Körperverletzung zur
Folge haben, und bloße Scheltworte, sofern das Verhalten des Beleidigten den
Thäter nicht entschuldigt, den Übertretungen zu und bedroht sie nicht härter
als mit Haft bis zu acht Tagen oder Buße bis zu 1000 Franken.

Ganz ohne „groben Unfugsparagraphen" kommt leider auch Stooß nicht
ans. Immerhin dürfte es schwer fallen, den Boykott, das Verteilen sozial¬
demokratischer Wahlslngblätter oder antisemitischer Schmähschriften oder lieb¬
lose Preßurteile über die Trunksucht toter Referendare — dies die jüngste
Maienblüte der modernen deutschen Rechtsprechung ans dem dankbaren Gebiete
des groben Unfugs — unter den von Stooß vorgeschlagnen Thatbestand zu
bringen. Er lautet in Artikel 196, nachdem im ersten Satze die Störung der
öffentlichen Ruhe durch Lärm oder Geschrei bedroht worden ist: „Wer die
Bevölkerung oder Teile derselben durch falsche Gerüchte, Alarmzeichen oder
ähnliche Handlungen beunruhigt oder ängstigt, wird mit Haft (von drei Tagen
bis zu drei Monaten) oder mit Buße bis 3000 Franken bestraft." Freilich
Zerfalle Stooß an andrer Stelle (Artikel 205) in einen für einen so vorsich¬
tigen Gesetzgeber fast unbegreiflichen Übergriff des Strafgesetzes in das Ge¬
biet der Sitte, indem er in einer geradezu uferlosen Bestimmung mit Buße


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/13>, abgerufen am 27.07.2024.