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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Lin schweizerisches Strafgesetzbuch

wie sie das Reichsgericht zu § 130 unsers Strafgesetzbuchs gebilligt hat, z. B.
es sei die Erregung einer naheliegenden Gefahr nicht notwendig, möge die
Gefahr auch eine noch so entfernte sein (Entscheidungen Bd. 15, S. 116), der
Anreiz könne auch nur für einen künftig sich darbietenden günstigen Anlaß
berechnet sein (Entscheidungen Bd. 17, S. 309), oder gar: es genüge, "eine zu
Gewaltthätigkeiten geneigte Stimmung hervorzurufen oder zu verstärken, die,
unbestimmt wann und auf welchen Anlaß hin, früher oder später den öffent¬
lichen Frieden unter den Bevölkerungsklasfen erschüttern kann" (Urteil des
3. Strafsenats vom 7. Januar 1895), so würde nach dem Stooßschen Vor¬
schlag ein temperamentvoller Schweizer Bürger auch bei Verfolgung sehr be¬
rechtigter Interessen sogar das Zuchthaus mit dem Ärmel streifen können.
Diese Gefahr ist in einem demokratischen Staatswesen deshalb schwerlich ge¬
ringer, weil die Richter, wie in der Schweiz geschieht, teils unmittelbar vom
Volke, teils von den repräsentativen Körperschaften, immer aber nur auf be¬
stimmte Zeit und nicht auf Lebenszeit gewählt werden. Denn natürlich werden
sie eben deshalb aus der Mitte der jeweilig herrschenden politischen Partei
hervorgehen und eben deshalb in politischen Prozessen leicht noch befangner
sein als selbst büreaukratische Richter. Immerhin beruft sich Stooß nicht mit
Unrecht darauf, daß die Schweiz an der Freiheit der Meinungsäußerung in
Wort und Schrift festhalte, das Versammlungs- und Vereinsrecht gewährleiste
und gerade deshalb nicht dulden dürfe, daß jemand diese Freiheit mißbrauche,
um den öffentlichen Frieden zu gefährden und zu stören. Sein Entwurf läßt
es denn anch in einem besondern Abschnitt: "Verbrechen gegen die Ausübung
politischer Rechte" nicht an strengen Strafbestimmungen fehlen, die ihrem Wort¬
laute nach auch etwaige Übergriffe der Beamten treffen. Er bedroht ferner
ganz allgemein den Beamten mit Gefängnis, der "die ihm anvertraute Gewalt
wissentlich mißbraucht" (Artikel 176), und ermächtigt den Richter, einen Thäter,
der sich durch ein Verbrechen des Amtes, das er bekleidet, unwürdig gemacht
hat, des Amtes zu entsetzen und ihn für mindestens fünf Jahre zu einem Amte
nicht wählbar zu erklären (Artikel 30). Einem Staate, der so starke Schutz¬
wehren gegen den Mißbrauch der Amtsgewalt errichtet, darf man vielleicht
das Recht zugestehen, auch mit den Maßregeln gegen den Mißbrauch der all¬
gemeinen bürgerlichen Freiheit etwas weiter zu gehen.

Die Behandlung der "Verbrechen gegen die Ehre" ähnelt der deutschen
in der Unterscheidung zwischen übler Nachrede und einfacher Beleidigung. Doch
kennt Stooß an Stelle der Beleidigung nnr die "Beschimpfung durch Wort
und That," freilich ohne eine nähere Bestimmung ihres Begriffs zu versuchen,
wie ja auch der deutsche Gesetzgeber bei der Beleidigung darauf verzichtet hat.
Der Verleumder, der planmäßig darauf ausgeht, den guten Ruf einer Person
zu untergraben, wird sogar mit Zuchthaus bedroht. Dagegen wird auch der
Richter ermächtigt, wenn es sich um gutgläubige und nicht öffentliche Nach-


Lin schweizerisches Strafgesetzbuch

wie sie das Reichsgericht zu § 130 unsers Strafgesetzbuchs gebilligt hat, z. B.
es sei die Erregung einer naheliegenden Gefahr nicht notwendig, möge die
Gefahr auch eine noch so entfernte sein (Entscheidungen Bd. 15, S. 116), der
Anreiz könne auch nur für einen künftig sich darbietenden günstigen Anlaß
berechnet sein (Entscheidungen Bd. 17, S. 309), oder gar: es genüge, „eine zu
Gewaltthätigkeiten geneigte Stimmung hervorzurufen oder zu verstärken, die,
unbestimmt wann und auf welchen Anlaß hin, früher oder später den öffent¬
lichen Frieden unter den Bevölkerungsklasfen erschüttern kann" (Urteil des
3. Strafsenats vom 7. Januar 1895), so würde nach dem Stooßschen Vor¬
schlag ein temperamentvoller Schweizer Bürger auch bei Verfolgung sehr be¬
rechtigter Interessen sogar das Zuchthaus mit dem Ärmel streifen können.
Diese Gefahr ist in einem demokratischen Staatswesen deshalb schwerlich ge¬
ringer, weil die Richter, wie in der Schweiz geschieht, teils unmittelbar vom
Volke, teils von den repräsentativen Körperschaften, immer aber nur auf be¬
stimmte Zeit und nicht auf Lebenszeit gewählt werden. Denn natürlich werden
sie eben deshalb aus der Mitte der jeweilig herrschenden politischen Partei
hervorgehen und eben deshalb in politischen Prozessen leicht noch befangner
sein als selbst büreaukratische Richter. Immerhin beruft sich Stooß nicht mit
Unrecht darauf, daß die Schweiz an der Freiheit der Meinungsäußerung in
Wort und Schrift festhalte, das Versammlungs- und Vereinsrecht gewährleiste
und gerade deshalb nicht dulden dürfe, daß jemand diese Freiheit mißbrauche,
um den öffentlichen Frieden zu gefährden und zu stören. Sein Entwurf läßt
es denn anch in einem besondern Abschnitt: „Verbrechen gegen die Ausübung
politischer Rechte" nicht an strengen Strafbestimmungen fehlen, die ihrem Wort¬
laute nach auch etwaige Übergriffe der Beamten treffen. Er bedroht ferner
ganz allgemein den Beamten mit Gefängnis, der „die ihm anvertraute Gewalt
wissentlich mißbraucht" (Artikel 176), und ermächtigt den Richter, einen Thäter,
der sich durch ein Verbrechen des Amtes, das er bekleidet, unwürdig gemacht
hat, des Amtes zu entsetzen und ihn für mindestens fünf Jahre zu einem Amte
nicht wählbar zu erklären (Artikel 30). Einem Staate, der so starke Schutz¬
wehren gegen den Mißbrauch der Amtsgewalt errichtet, darf man vielleicht
das Recht zugestehen, auch mit den Maßregeln gegen den Mißbrauch der all¬
gemeinen bürgerlichen Freiheit etwas weiter zu gehen.

Die Behandlung der „Verbrechen gegen die Ehre" ähnelt der deutschen
in der Unterscheidung zwischen übler Nachrede und einfacher Beleidigung. Doch
kennt Stooß an Stelle der Beleidigung nnr die „Beschimpfung durch Wort
und That," freilich ohne eine nähere Bestimmung ihres Begriffs zu versuchen,
wie ja auch der deutsche Gesetzgeber bei der Beleidigung darauf verzichtet hat.
Der Verleumder, der planmäßig darauf ausgeht, den guten Ruf einer Person
zu untergraben, wird sogar mit Zuchthaus bedroht. Dagegen wird auch der
Richter ermächtigt, wenn es sich um gutgläubige und nicht öffentliche Nach-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/12>, abgerufen am 27.07.2024.