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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Gugen Dühring und die Größen der modernen Litteratur

Einsicht und Aufklärung "als etwas klägliches erscheinen muß," sondern ver¬
leiht ihr eine erhöhte, ja die höchste Bedeutung. Und doch sollen wir uns die
Tausende und Zehntausende von Tragödien, die in ihr abgespielt worden sind,
nicht vor die Phantasie rücken?

Dührings Verhältnis zum Christentum, in dem ein andrer Teil seiner
härtesten Und einseitigsten Urteile wurzelt, ist bis hierher absichtlich beiseite ge¬
lassen worden. Nach seiner Auffassung ist das Christentum lediglich als "Heils¬
versuch am grundschlechter Judentum" erwachsen, und die verderbte antike
Zivilisation konnte aus sich keine Religion verbessern, "die schon in ihrer ur¬
sprünglichen Anlage verfehlt war und nur geringfügiges Gutes in sich barg.
Wohl aber konnten dies die bessern Charaktere und frischen Kräfte neuerer
Völker, insbesondre die der Germanen." Wenn nun uach Dührings eigner
Anschauung "einiges vom bessern Bölkergeist" und Charakterzüge in das
Christentum hineingekommen sind, die "an sich selbst in ungemischter Gestalt
vollkommen achtungswert sind," wenn mit einem Worte selbst Dühring sich
der innern Gewalt der geschichtlichen Thatsache des Christentums nicht ent¬
ziehen kann, wenn er die "gemütvolle Aufnahme und Umgestaltung christlicher
Lehren durch die germanischen Völkerelemente" anerkennen und achten muß,
wie nehmen sich demgegenüber die durch das ganze Buch fortgesetzten Angriffe
auf alle Dichter aus, die von dieser Gemütsmacht, dieser geschichtlichen That¬
sache im Innersten ergriffen oder wenigstens menschlich bewegt worden sind?
Welchen Sinn hat es, einem ungeheuern, Weitschattenden Baume gegenüber
zu versichern, daß dieser Baum ursprünglich ein dürftiges palästinisches Reislein
gewesen sei, Zeter über jeden zu rufen, der seine heiße Stirn in diesem Schatten
kühlt, die Charaktergröße und geistige Bedeutung schaffender Naturen aus¬
schließlich darnach zu messen, ob sie diesen Schatten geflohen oder versucht
haben, den Baum selbst auszuwurzeln? Wer so wenig Verständnis, Mitgefühl
oder auch nur Duldung für die Lebensüberlieferung und die Lebensformen an
den Tag legt, in denen sich Geschick, Glück und Leid ihm stammverwandter
Millionen abgespielt hat, der ist zum letzten, endgiltigen Urteil über die Größen
der modernen Litteratur nicht berufen. Die Überzeugung: "Die göttlichen
Vorstellungen sind Fehlbegriffe; man muß zu ihrem Ursprung zurückkehren und
die bessere Anlage des menschlichen Geistes von neuem in Thätigkeit setzen,
um statt der Fehlgeburten gesunde und lebensfähige Wesen zu erhalten," schlösse
keine Kritik der Poesie ein. wie sie Dühring übt; diese Überzeugung ist bei
andern mit dem feinsten und liebevollsten Verständnis für die poetischen Ver¬
körperungen alles echten Lebens gepaart gewesen. Es mußte uoch eine Gleich-
giltigkeit gegen die wohlthätige künstlerische Schöpferkraft, ein herber Puri-
tanismus aufgeklärten Denkertums, eine tiefreichende Verbitterung gegen alle
Zustände älterer wie neuerer Vergangenheit hinzutreten, um dies merkwürdige
Buch zu erzeugen.


Gugen Dühring und die Größen der modernen Litteratur

Einsicht und Aufklärung „als etwas klägliches erscheinen muß," sondern ver¬
leiht ihr eine erhöhte, ja die höchste Bedeutung. Und doch sollen wir uns die
Tausende und Zehntausende von Tragödien, die in ihr abgespielt worden sind,
nicht vor die Phantasie rücken?

Dührings Verhältnis zum Christentum, in dem ein andrer Teil seiner
härtesten Und einseitigsten Urteile wurzelt, ist bis hierher absichtlich beiseite ge¬
lassen worden. Nach seiner Auffassung ist das Christentum lediglich als „Heils¬
versuch am grundschlechter Judentum" erwachsen, und die verderbte antike
Zivilisation konnte aus sich keine Religion verbessern, „die schon in ihrer ur¬
sprünglichen Anlage verfehlt war und nur geringfügiges Gutes in sich barg.
Wohl aber konnten dies die bessern Charaktere und frischen Kräfte neuerer
Völker, insbesondre die der Germanen." Wenn nun uach Dührings eigner
Anschauung „einiges vom bessern Bölkergeist" und Charakterzüge in das
Christentum hineingekommen sind, die „an sich selbst in ungemischter Gestalt
vollkommen achtungswert sind," wenn mit einem Worte selbst Dühring sich
der innern Gewalt der geschichtlichen Thatsache des Christentums nicht ent¬
ziehen kann, wenn er die „gemütvolle Aufnahme und Umgestaltung christlicher
Lehren durch die germanischen Völkerelemente" anerkennen und achten muß,
wie nehmen sich demgegenüber die durch das ganze Buch fortgesetzten Angriffe
auf alle Dichter aus, die von dieser Gemütsmacht, dieser geschichtlichen That¬
sache im Innersten ergriffen oder wenigstens menschlich bewegt worden sind?
Welchen Sinn hat es, einem ungeheuern, Weitschattenden Baume gegenüber
zu versichern, daß dieser Baum ursprünglich ein dürftiges palästinisches Reislein
gewesen sei, Zeter über jeden zu rufen, der seine heiße Stirn in diesem Schatten
kühlt, die Charaktergröße und geistige Bedeutung schaffender Naturen aus¬
schließlich darnach zu messen, ob sie diesen Schatten geflohen oder versucht
haben, den Baum selbst auszuwurzeln? Wer so wenig Verständnis, Mitgefühl
oder auch nur Duldung für die Lebensüberlieferung und die Lebensformen an
den Tag legt, in denen sich Geschick, Glück und Leid ihm stammverwandter
Millionen abgespielt hat, der ist zum letzten, endgiltigen Urteil über die Größen
der modernen Litteratur nicht berufen. Die Überzeugung: „Die göttlichen
Vorstellungen sind Fehlbegriffe; man muß zu ihrem Ursprung zurückkehren und
die bessere Anlage des menschlichen Geistes von neuem in Thätigkeit setzen,
um statt der Fehlgeburten gesunde und lebensfähige Wesen zu erhalten," schlösse
keine Kritik der Poesie ein. wie sie Dühring übt; diese Überzeugung ist bei
andern mit dem feinsten und liebevollsten Verständnis für die poetischen Ver¬
körperungen alles echten Lebens gepaart gewesen. Es mußte uoch eine Gleich-
giltigkeit gegen die wohlthätige künstlerische Schöpferkraft, ein herber Puri-
tanismus aufgeklärten Denkertums, eine tiefreichende Verbitterung gegen alle
Zustände älterer wie neuerer Vergangenheit hinzutreten, um dies merkwürdige
Buch zu erzeugen.


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[0099] Gugen Dühring und die Größen der modernen Litteratur Einsicht und Aufklärung „als etwas klägliches erscheinen muß," sondern ver¬ leiht ihr eine erhöhte, ja die höchste Bedeutung. Und doch sollen wir uns die Tausende und Zehntausende von Tragödien, die in ihr abgespielt worden sind, nicht vor die Phantasie rücken? Dührings Verhältnis zum Christentum, in dem ein andrer Teil seiner härtesten Und einseitigsten Urteile wurzelt, ist bis hierher absichtlich beiseite ge¬ lassen worden. Nach seiner Auffassung ist das Christentum lediglich als „Heils¬ versuch am grundschlechter Judentum" erwachsen, und die verderbte antike Zivilisation konnte aus sich keine Religion verbessern, „die schon in ihrer ur¬ sprünglichen Anlage verfehlt war und nur geringfügiges Gutes in sich barg. Wohl aber konnten dies die bessern Charaktere und frischen Kräfte neuerer Völker, insbesondre die der Germanen." Wenn nun uach Dührings eigner Anschauung „einiges vom bessern Bölkergeist" und Charakterzüge in das Christentum hineingekommen sind, die „an sich selbst in ungemischter Gestalt vollkommen achtungswert sind," wenn mit einem Worte selbst Dühring sich der innern Gewalt der geschichtlichen Thatsache des Christentums nicht ent¬ ziehen kann, wenn er die „gemütvolle Aufnahme und Umgestaltung christlicher Lehren durch die germanischen Völkerelemente" anerkennen und achten muß, wie nehmen sich demgegenüber die durch das ganze Buch fortgesetzten Angriffe auf alle Dichter aus, die von dieser Gemütsmacht, dieser geschichtlichen That¬ sache im Innersten ergriffen oder wenigstens menschlich bewegt worden sind? Welchen Sinn hat es, einem ungeheuern, Weitschattenden Baume gegenüber zu versichern, daß dieser Baum ursprünglich ein dürftiges palästinisches Reislein gewesen sei, Zeter über jeden zu rufen, der seine heiße Stirn in diesem Schatten kühlt, die Charaktergröße und geistige Bedeutung schaffender Naturen aus¬ schließlich darnach zu messen, ob sie diesen Schatten geflohen oder versucht haben, den Baum selbst auszuwurzeln? Wer so wenig Verständnis, Mitgefühl oder auch nur Duldung für die Lebensüberlieferung und die Lebensformen an den Tag legt, in denen sich Geschick, Glück und Leid ihm stammverwandter Millionen abgespielt hat, der ist zum letzten, endgiltigen Urteil über die Größen der modernen Litteratur nicht berufen. Die Überzeugung: „Die göttlichen Vorstellungen sind Fehlbegriffe; man muß zu ihrem Ursprung zurückkehren und die bessere Anlage des menschlichen Geistes von neuem in Thätigkeit setzen, um statt der Fehlgeburten gesunde und lebensfähige Wesen zu erhalten," schlösse keine Kritik der Poesie ein. wie sie Dühring übt; diese Überzeugung ist bei andern mit dem feinsten und liebevollsten Verständnis für die poetischen Ver¬ körperungen alles echten Lebens gepaart gewesen. Es mußte uoch eine Gleich- giltigkeit gegen die wohlthätige künstlerische Schöpferkraft, ein herber Puri- tanismus aufgeklärten Denkertums, eine tiefreichende Verbitterung gegen alle Zustände älterer wie neuerer Vergangenheit hinzutreten, um dies merkwürdige Buch zu erzeugen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/99>, abgerufen am 25.07.2024.