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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Sedini

Trotz alledem: unsre zünftige Ästhetik und vollends unsre Litteratur¬
gelehrsamkeit wird wohlthun, das Nöinento mori nicht unbeachtet zu lassen,
das für so viele ihrer Vorstellungen, leblosen Überlieferungen und traurigen
Angewöhnungen in den "Größen der modernen Litteratur" enthalten ist. Wenn
uns Dührings Kritik, so befangen, trotzig und nüchtern sie erscheint, zum Be¬
wußtsein durchgehender, tiefreicheuder Mängel in der Litteratur der Gegenwart
verhilft, wenn sie unsre eignen Forderungen an Charakterstärke und innere
Geschlossenheit unsrer Dichter und Künstler um ein gutes Teil erhöhen hilft,
so wird sie, trotz ihrer schroffen Verneinungen und ihrer Unempfänglichkeit
für dichterische und menschliche Vorzüge, die unser Volk nur zu seinem Ver¬
derben aufgeben könnte, dennoch produktiv gewirkt haben.




Sedini
(Fortsetzung)

MM
RA<H7^räulein Bernarz begann dem Leben weniger harte Namen zu
geben und gewöhnte sich ein Mittagsschläfchen an, weil die
Franzi so selbstverständlich alle Arbeit angriff. Und während
die Tante dann leise schnarchte, suchte sich die Nichte Bücher
hervor. Es gab da allerlei, was von den soliden Herren liegen
geblieben war. Fräulein Bernarz hatte die Neste mit Abscheu
in einen Winkel gestaut, weil sie noch ganz unter dem Bannkreis der mütter¬
lichen Lehren stand und sich nicht getraute, etwas zu vernichten, was einmal
zu irgend einem Zweck dienlich werden konnte. Eben hatte Franzi ein fran¬
zösisches Lehrbuch vor sich liegen und prüfte, was ihr noch von ihrem
zweijährigen Stadtkursus übrig geblieben sei.

Aber neben ihr lag ein Brief mit vielen Falten und Knittern, der störte
sie bei ihrem Studium. Sie hatte ihn schon mehr als einmal zusammengeballt
und in eine Ecke geschleudert. Aber immer mußte sie ihn wieder holen, aus¬
einanderstreichen und noch einmal lesen, und jedesmal schäumte der Groll
wieder auf, soociß sie sogar ein kleines, zorniges Thränchen aus den Augen
zu wischen hatte. Und dabei klingelte es schon zum drittenmal von Jankos
Zimmer drüben. Es war nicht zum Aushalten. Jetzt kamen seine Schritte
auf die Thüre zu. Schnell den Kopf in die Hand gestützt und über das Buch
gebeugt, da kann er die roten Augen nicht sehen!

Er trat ohne anzuklopfen herein und ließ die Augen zerstreut durch die
Küche wandern. Franzi blickte nicht auf.

Ich habe schon dreimal nach Fräulein geklingelt! sagte er vorwurfsvoll.
Sie hob den Kopf mit einem Ruck: Ach. Herr Janko? Ja wie machen
wir denn das? Wie mache ichs denn, wenn ich nach Ihnen klingle?


Sedini

Trotz alledem: unsre zünftige Ästhetik und vollends unsre Litteratur¬
gelehrsamkeit wird wohlthun, das Nöinento mori nicht unbeachtet zu lassen,
das für so viele ihrer Vorstellungen, leblosen Überlieferungen und traurigen
Angewöhnungen in den „Größen der modernen Litteratur" enthalten ist. Wenn
uns Dührings Kritik, so befangen, trotzig und nüchtern sie erscheint, zum Be¬
wußtsein durchgehender, tiefreicheuder Mängel in der Litteratur der Gegenwart
verhilft, wenn sie unsre eignen Forderungen an Charakterstärke und innere
Geschlossenheit unsrer Dichter und Künstler um ein gutes Teil erhöhen hilft,
so wird sie, trotz ihrer schroffen Verneinungen und ihrer Unempfänglichkeit
für dichterische und menschliche Vorzüge, die unser Volk nur zu seinem Ver¬
derben aufgeben könnte, dennoch produktiv gewirkt haben.




Sedini
(Fortsetzung)

MM
RA<H7^räulein Bernarz begann dem Leben weniger harte Namen zu
geben und gewöhnte sich ein Mittagsschläfchen an, weil die
Franzi so selbstverständlich alle Arbeit angriff. Und während
die Tante dann leise schnarchte, suchte sich die Nichte Bücher
hervor. Es gab da allerlei, was von den soliden Herren liegen
geblieben war. Fräulein Bernarz hatte die Neste mit Abscheu
in einen Winkel gestaut, weil sie noch ganz unter dem Bannkreis der mütter¬
lichen Lehren stand und sich nicht getraute, etwas zu vernichten, was einmal
zu irgend einem Zweck dienlich werden konnte. Eben hatte Franzi ein fran¬
zösisches Lehrbuch vor sich liegen und prüfte, was ihr noch von ihrem
zweijährigen Stadtkursus übrig geblieben sei.

Aber neben ihr lag ein Brief mit vielen Falten und Knittern, der störte
sie bei ihrem Studium. Sie hatte ihn schon mehr als einmal zusammengeballt
und in eine Ecke geschleudert. Aber immer mußte sie ihn wieder holen, aus¬
einanderstreichen und noch einmal lesen, und jedesmal schäumte der Groll
wieder auf, soociß sie sogar ein kleines, zorniges Thränchen aus den Augen
zu wischen hatte. Und dabei klingelte es schon zum drittenmal von Jankos
Zimmer drüben. Es war nicht zum Aushalten. Jetzt kamen seine Schritte
auf die Thüre zu. Schnell den Kopf in die Hand gestützt und über das Buch
gebeugt, da kann er die roten Augen nicht sehen!

Er trat ohne anzuklopfen herein und ließ die Augen zerstreut durch die
Küche wandern. Franzi blickte nicht auf.

Ich habe schon dreimal nach Fräulein geklingelt! sagte er vorwurfsvoll.
Sie hob den Kopf mit einem Ruck: Ach. Herr Janko? Ja wie machen
wir denn das? Wie mache ichs denn, wenn ich nach Ihnen klingle?


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[0100] Sedini Trotz alledem: unsre zünftige Ästhetik und vollends unsre Litteratur¬ gelehrsamkeit wird wohlthun, das Nöinento mori nicht unbeachtet zu lassen, das für so viele ihrer Vorstellungen, leblosen Überlieferungen und traurigen Angewöhnungen in den „Größen der modernen Litteratur" enthalten ist. Wenn uns Dührings Kritik, so befangen, trotzig und nüchtern sie erscheint, zum Be¬ wußtsein durchgehender, tiefreicheuder Mängel in der Litteratur der Gegenwart verhilft, wenn sie unsre eignen Forderungen an Charakterstärke und innere Geschlossenheit unsrer Dichter und Künstler um ein gutes Teil erhöhen hilft, so wird sie, trotz ihrer schroffen Verneinungen und ihrer Unempfänglichkeit für dichterische und menschliche Vorzüge, die unser Volk nur zu seinem Ver¬ derben aufgeben könnte, dennoch produktiv gewirkt haben. Sedini (Fortsetzung) MM RA<H7^räulein Bernarz begann dem Leben weniger harte Namen zu geben und gewöhnte sich ein Mittagsschläfchen an, weil die Franzi so selbstverständlich alle Arbeit angriff. Und während die Tante dann leise schnarchte, suchte sich die Nichte Bücher hervor. Es gab da allerlei, was von den soliden Herren liegen geblieben war. Fräulein Bernarz hatte die Neste mit Abscheu in einen Winkel gestaut, weil sie noch ganz unter dem Bannkreis der mütter¬ lichen Lehren stand und sich nicht getraute, etwas zu vernichten, was einmal zu irgend einem Zweck dienlich werden konnte. Eben hatte Franzi ein fran¬ zösisches Lehrbuch vor sich liegen und prüfte, was ihr noch von ihrem zweijährigen Stadtkursus übrig geblieben sei. Aber neben ihr lag ein Brief mit vielen Falten und Knittern, der störte sie bei ihrem Studium. Sie hatte ihn schon mehr als einmal zusammengeballt und in eine Ecke geschleudert. Aber immer mußte sie ihn wieder holen, aus¬ einanderstreichen und noch einmal lesen, und jedesmal schäumte der Groll wieder auf, soociß sie sogar ein kleines, zorniges Thränchen aus den Augen zu wischen hatte. Und dabei klingelte es schon zum drittenmal von Jankos Zimmer drüben. Es war nicht zum Aushalten. Jetzt kamen seine Schritte auf die Thüre zu. Schnell den Kopf in die Hand gestützt und über das Buch gebeugt, da kann er die roten Augen nicht sehen! Er trat ohne anzuklopfen herein und ließ die Augen zerstreut durch die Küche wandern. Franzi blickte nicht auf. Ich habe schon dreimal nach Fräulein geklingelt! sagte er vorwurfsvoll. Sie hob den Kopf mit einem Ruck: Ach. Herr Janko? Ja wie machen wir denn das? Wie mache ichs denn, wenn ich nach Ihnen klingle?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/100>, abgerufen am 25.07.2024.