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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Eugen Dühring und die Größen der modernen Litteratur

niger und schwerfälligen Kolossen zu erliegen, sich noch einmal in der Ge¬
schichte aufraffen und die Kolosse in Atome zerstieben machen" werde. Und
er erwartet zuversichtlich, daß sich die Gcmütshaftigkeit der Deutschen, die
"bisher in solchen Gefühlen verharrt hat, die mit der eingreifenden That weniger
zu schaffen haben," auf ihre Anfänge in weltgeschichtlichen Thaten besinnen
und die bloße Pflege der Privatexistenz hinter sich lassen werde. Doch geht
aus alledem hervor, daß die Vergangenheit, die der Verfasser neben der schönen
Zukunft gelten läßt, bis zur Vvlkerwandrung und weiter zurückreicht, und daß
ihm der größere Teil des seitdem vergangnen wie des gegenwärtigen Lebens und
der Dichtung, die Spieglung dieses Lebens ist, Geringschätzung, wenn nicht Ab¬
neigung einflößt. Denn "die Poeten sind bisher zu allen Zeiten und an allen
Orten keine sonderlichen Schwimmer gewesen, wenn es galt, die Fluten des
menschlich unwillkürlichen Aberglaubens zu zerteilen." Und da Dühring ganze
Arbeit zu machen Pflegt, so stellt er der Litteratur ins Land der Zukunft
knapp und bündig folgenden Paß aus: "Was groß sein will, wird sich durch
die Teilnahme an dem Schreiten des Menschenschicksals zu legitimiren haben.
Der Bann aber, der unsre Schätzung am verhältnismäßig Niedrigen haften
lassen möchte, muß völlig gebrochen werden. In Gesellschaft und Schule darf
das Ästhetische nicht mehr die Maske bleiben, unter dem sich die Charakter¬
losigkeit und das Verstandwidrige in Herz und Kopf einschleichen und sür sich
einen Kultus erschleichen."

Nimmt man die charakterisirten drei Hauptgrundzüge des Dühringschcn
Werkes zusammen, so erklären sich die befremdlichen Urteile im einzelnen ohne
Mühe. Das poetische Talent kommt für den Verfasser nur soweit in Betracht,
als es im Dienst außerhalb der Poesie liegender oder der Poesie doch nur als
kleiner Teil ihres Weltreichs, des gesamten Lebens, angehöriger vorwiegend re¬
volutionärer Mächte steht. Wenn er als die eigentlichen Größen der Litteratur
der beiden letzten Jahrhunderte Rousseau, Schiller, Byron und Shelleh aus¬
führlich bespricht und in Anknüpfung an ihre Erscheinungen seine allgemeinen
Anschauungen entwickelt, so schlägt immer wieder die Neigung für das Revolutio¬
näre als das eigentlich Notwendige und Ersprießliche durch alle Hüllen durch.
Der Dichter, den er am höchsten stellt, ist Lord Byron. Was er von dessen
Schöpfungen rühmt, ist doch dem Hauptgesichtspunkte untergeordnet, daß Byron
"am Ende begriffen habe, Revolution allein könne die Erde von der Höllen-
besudelung erretten," und daß der Trieb zum Dichten in dieser heroischen
Natur nicht das Überwiegende gewesen sei, daß diese vielmehr nur der Ge¬
legenheit entbehrt habe, um sich anderweitig mächtiger zu entwickeln. "Das
Dichten wurde für sie zum Surrogat in Ermanglung des Bessern, wie wenn
jemand, der sich an Wirklichkeiten bethätigen mochte, mit dem bloßen Verkehr
durch die Phantasie vorliebnehmen muß. Dichtung an sich ist Byron kein
voller Ernst, und darum verspottet er sie gelegentlich auch in denselben Akten,


Eugen Dühring und die Größen der modernen Litteratur

niger und schwerfälligen Kolossen zu erliegen, sich noch einmal in der Ge¬
schichte aufraffen und die Kolosse in Atome zerstieben machen" werde. Und
er erwartet zuversichtlich, daß sich die Gcmütshaftigkeit der Deutschen, die
„bisher in solchen Gefühlen verharrt hat, die mit der eingreifenden That weniger
zu schaffen haben," auf ihre Anfänge in weltgeschichtlichen Thaten besinnen
und die bloße Pflege der Privatexistenz hinter sich lassen werde. Doch geht
aus alledem hervor, daß die Vergangenheit, die der Verfasser neben der schönen
Zukunft gelten läßt, bis zur Vvlkerwandrung und weiter zurückreicht, und daß
ihm der größere Teil des seitdem vergangnen wie des gegenwärtigen Lebens und
der Dichtung, die Spieglung dieses Lebens ist, Geringschätzung, wenn nicht Ab¬
neigung einflößt. Denn „die Poeten sind bisher zu allen Zeiten und an allen
Orten keine sonderlichen Schwimmer gewesen, wenn es galt, die Fluten des
menschlich unwillkürlichen Aberglaubens zu zerteilen." Und da Dühring ganze
Arbeit zu machen Pflegt, so stellt er der Litteratur ins Land der Zukunft
knapp und bündig folgenden Paß aus: „Was groß sein will, wird sich durch
die Teilnahme an dem Schreiten des Menschenschicksals zu legitimiren haben.
Der Bann aber, der unsre Schätzung am verhältnismäßig Niedrigen haften
lassen möchte, muß völlig gebrochen werden. In Gesellschaft und Schule darf
das Ästhetische nicht mehr die Maske bleiben, unter dem sich die Charakter¬
losigkeit und das Verstandwidrige in Herz und Kopf einschleichen und sür sich
einen Kultus erschleichen."

Nimmt man die charakterisirten drei Hauptgrundzüge des Dühringschcn
Werkes zusammen, so erklären sich die befremdlichen Urteile im einzelnen ohne
Mühe. Das poetische Talent kommt für den Verfasser nur soweit in Betracht,
als es im Dienst außerhalb der Poesie liegender oder der Poesie doch nur als
kleiner Teil ihres Weltreichs, des gesamten Lebens, angehöriger vorwiegend re¬
volutionärer Mächte steht. Wenn er als die eigentlichen Größen der Litteratur
der beiden letzten Jahrhunderte Rousseau, Schiller, Byron und Shelleh aus¬
führlich bespricht und in Anknüpfung an ihre Erscheinungen seine allgemeinen
Anschauungen entwickelt, so schlägt immer wieder die Neigung für das Revolutio¬
näre als das eigentlich Notwendige und Ersprießliche durch alle Hüllen durch.
Der Dichter, den er am höchsten stellt, ist Lord Byron. Was er von dessen
Schöpfungen rühmt, ist doch dem Hauptgesichtspunkte untergeordnet, daß Byron
„am Ende begriffen habe, Revolution allein könne die Erde von der Höllen-
besudelung erretten," und daß der Trieb zum Dichten in dieser heroischen
Natur nicht das Überwiegende gewesen sei, daß diese vielmehr nur der Ge¬
legenheit entbehrt habe, um sich anderweitig mächtiger zu entwickeln. „Das
Dichten wurde für sie zum Surrogat in Ermanglung des Bessern, wie wenn
jemand, der sich an Wirklichkeiten bethätigen mochte, mit dem bloßen Verkehr
durch die Phantasie vorliebnehmen muß. Dichtung an sich ist Byron kein
voller Ernst, und darum verspottet er sie gelegentlich auch in denselben Akten,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/96>, abgerufen am 25.07.2024.