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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Lügen Dühring und die Größen der modernen Litteratur

zösischen Revolution waren, sondern durch sie und ihre Herüberwirkung nach
Deutschland Lebensgüter, Errungenschaften der lange vorangegangnen Stnrm-
und Drangperiode, Verbesserungen der gesellschaftlichen Zustände und Keime
zu weitern Fortschritten gefährdet und in Frage gestellt sahen, die ihnen
theurer und wertvoller waren, als die Erklärung der Menschenrechte. Nie¬
mand wird Dühring bestreikn, daß "Vernichtung nicht bloß auch eine
Macht, sondern oft eine Wohlthat" sein könne; aber wie schließlich die
Millionen, die sich Bonnparte, als dem Retter aus tiefstem Elend, zu Füßen
stürzten, über die Wohlthat der von Dühring gepriesenen Schreckensherrschaft
gedacht haben, steht auf einem andern Blatt. Jedenfalls entspricht die Lob¬
preisung der weltgeschichtlichen Umwälzung der Gleichgiltigkeit, die der Ver¬
sasser für gewisse (keineswegs für alle) Seiten und Formen des Einzellebens
zeigt. Wohlgemerkt ist Dühring kein Lobredner von Klöstern ohne Cölibat,
Kasernen auf Lebenszeit, sozialdemokratischen Prhtaueen und sonstwelchen
Zukuuststrüumen, die die Vernichtung der Individualität und die Zurück-
führung der Kultur auf Rousseaus Hirtenniveau zur Voraussetzung haben.
Er sieht in der Zukunft andre Entwicklungen, sieht Ziele vor Augen, die
gewiß aufs innigste zu wünschen sind. Doch selbst wenn wir "physisch und
hirnorganisch besser angelegte Menschennaturen" bekämen, wenn ein gereifterer
Verstand zahllose Korruptionen, erhabneres Gerechtigkeitsgefühl die Willkür
der bloßen Übermacht überwunden hätte, wenn den wirklich edelsten und ent¬
wickeltsten Menschen die Bestimmung und Lenkung der öffentlichen Dinge ver¬
traut wäre und das "völlig Reine, Geklärte, Gesetzte" herrschte, würde das
alles keinen Schuß Pulver wert sein, wenn daneben die Wärme, der innere
Reichtum, die unendliche Fülle und Mannichfaltigkeit des Einzel- und Familien¬
lebens, kurz alles, was unter den Begriff des Privatistischen Daseins fallen
kann, verkümmerten und verödeten. So lange es Poesie giebt, wird sie ihre
tiefsten und stärksten Wurzeln in diesem Dasein haben, haben müssen. Doch
die Poesie soll ja von etwas "Höheren" abgelöst werden, dem nach Dühring
freilich erst "eine der Tragweite des Denkens entsprechende phantasmenfreie
Seinserfcissuug von lebendigem Charakter" voranzugehen hätte.

Die dritte Besonderheit: das souveräne Selbstgefühl des Aufklärers, der
den jeweiligen Stand der Kultur für den allein erträglichen und menschen¬
würdigen hält, findet bei Dühring eine doppelte Grenze. Erstens betrachtet
er, obschon er das Zeitalter der Naturwissenschaft hoch über das goldne Zeit¬
alter der Poesie und Kunst stellt, die gegenwärtige Lage nur als eine Ab¬
schlagszahlung auf künftigere gesetztere und geordnetere Zustände; sodann ist er
überzeugt, daß sich die Entwicklung, die ihm als Ideal vorschwebt, "der posi¬
tiven menschlichen Uranlage" und dem ursprünglichen Charaktertypus der ger¬
manischen Arier viel mehr annähern werde, als wir heute noch ahnen. Er
hofft, "daß deutsche Kraft, die dem deutschen Geiste entspricht, statt unfvr-


Lügen Dühring und die Größen der modernen Litteratur

zösischen Revolution waren, sondern durch sie und ihre Herüberwirkung nach
Deutschland Lebensgüter, Errungenschaften der lange vorangegangnen Stnrm-
und Drangperiode, Verbesserungen der gesellschaftlichen Zustände und Keime
zu weitern Fortschritten gefährdet und in Frage gestellt sahen, die ihnen
theurer und wertvoller waren, als die Erklärung der Menschenrechte. Nie¬
mand wird Dühring bestreikn, daß „Vernichtung nicht bloß auch eine
Macht, sondern oft eine Wohlthat" sein könne; aber wie schließlich die
Millionen, die sich Bonnparte, als dem Retter aus tiefstem Elend, zu Füßen
stürzten, über die Wohlthat der von Dühring gepriesenen Schreckensherrschaft
gedacht haben, steht auf einem andern Blatt. Jedenfalls entspricht die Lob¬
preisung der weltgeschichtlichen Umwälzung der Gleichgiltigkeit, die der Ver¬
sasser für gewisse (keineswegs für alle) Seiten und Formen des Einzellebens
zeigt. Wohlgemerkt ist Dühring kein Lobredner von Klöstern ohne Cölibat,
Kasernen auf Lebenszeit, sozialdemokratischen Prhtaueen und sonstwelchen
Zukuuststrüumen, die die Vernichtung der Individualität und die Zurück-
führung der Kultur auf Rousseaus Hirtenniveau zur Voraussetzung haben.
Er sieht in der Zukunft andre Entwicklungen, sieht Ziele vor Augen, die
gewiß aufs innigste zu wünschen sind. Doch selbst wenn wir „physisch und
hirnorganisch besser angelegte Menschennaturen" bekämen, wenn ein gereifterer
Verstand zahllose Korruptionen, erhabneres Gerechtigkeitsgefühl die Willkür
der bloßen Übermacht überwunden hätte, wenn den wirklich edelsten und ent¬
wickeltsten Menschen die Bestimmung und Lenkung der öffentlichen Dinge ver¬
traut wäre und das „völlig Reine, Geklärte, Gesetzte" herrschte, würde das
alles keinen Schuß Pulver wert sein, wenn daneben die Wärme, der innere
Reichtum, die unendliche Fülle und Mannichfaltigkeit des Einzel- und Familien¬
lebens, kurz alles, was unter den Begriff des Privatistischen Daseins fallen
kann, verkümmerten und verödeten. So lange es Poesie giebt, wird sie ihre
tiefsten und stärksten Wurzeln in diesem Dasein haben, haben müssen. Doch
die Poesie soll ja von etwas „Höheren" abgelöst werden, dem nach Dühring
freilich erst „eine der Tragweite des Denkens entsprechende phantasmenfreie
Seinserfcissuug von lebendigem Charakter" voranzugehen hätte.

Die dritte Besonderheit: das souveräne Selbstgefühl des Aufklärers, der
den jeweiligen Stand der Kultur für den allein erträglichen und menschen¬
würdigen hält, findet bei Dühring eine doppelte Grenze. Erstens betrachtet
er, obschon er das Zeitalter der Naturwissenschaft hoch über das goldne Zeit¬
alter der Poesie und Kunst stellt, die gegenwärtige Lage nur als eine Ab¬
schlagszahlung auf künftigere gesetztere und geordnetere Zustände; sodann ist er
überzeugt, daß sich die Entwicklung, die ihm als Ideal vorschwebt, „der posi¬
tiven menschlichen Uranlage" und dem ursprünglichen Charaktertypus der ger¬
manischen Arier viel mehr annähern werde, als wir heute noch ahnen. Er
hofft, „daß deutsche Kraft, die dem deutschen Geiste entspricht, statt unfvr-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/95>, abgerufen am 26.07.2024.