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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Zur Kenntnis der englischen Weltpolitik

herabsteigend, Deutschland als von dieser Seite her völlig unbedroht darstellen.
Vielleicht ist es sogar nicht allzuschwer, bei einsichtigen Deutschen die Über¬
zeugung zu erwecken, daß die Dominion von Kanada für sie mindestens ebenso
wichtig sei oder werden könne wie Mexiko oder Argentinien, mit denen mau
sich viel eingehender befaßt.

Für die englische Weltpolitik ist Kanada in erster Linie das Verbindungs¬
glied zwischen dem Atlantischen und dem Stillen Ozean. Der darin liegende
Wert ist unschätzbar, wenn auch noch lange nicht ganz entfaltet. In Eng¬
land und Kanada hat man ihn erkannt. Die Erbauung der russisch-sibi¬
rischen Pazisikbahn öffnet den Stillen Ozean von Westen, die des Nikaragua¬
kanals von Osten her, aber das eine Thor wird ebenso gewiß unter russischer
wie das andre unter nordamerikanischer Kolltrolle stehen. Die kanadische
Pazifikbahn bildet einen besondern, ganz in englischen Händen und auf eng¬
lischem Boden liegenden Weg nach demselben größten Ozean, von dem ein
amerikanischer Staatsmann einst sagte, er werde sich als das Mittelmeer der
Zukunft erweisen, d. h. als das Meer, auf dessen Gestaden und Inseln eine
spätere, größere Weltgeschichte ihren Schauplatz finden werde. Solange
Kanada englisch ist, hat England von den vorzüglichen Häfen Britisch-Kolumbias
und der Vankouverinsel seinen Weg offen zum nördlichen Stillen Ozean, wäh¬
rend es im südlichen Alleinherrscherin durch den Besitz Australiens, Neuseelands
und der besten Archipele der großen pazifischen "Jnselwolke" ist. Mit sechs bis
sieben Tagen Schiffahrt schafft es Soldaten und Kriegsmaterial nach Halifax
und Quebek, über die kanadische Pazisikbahn bringt sie sie in weitern sieben Tagen
an das Ufer des Stillen Ozeans, wo eine wachsende Flotte großer, subventio-
nirte Handelsdampfer, zur Armirung eingerichtet, bereit ist, die drei pazifischen
Geschwader, das westamerikanische, das chinesische und das australische, zu ver¬
stärken. So begreift man den Wert, den England auf Kanada legt. Die
pazifische Episode der Weltgeschichte bereitet sich deutlich vor. Die Allein¬
herrschaft, die England im Stillen Ozean fast unangefochten in dem ganzen
Jahrhundert seit Cooks großen Entdeckungen ausgeübt hat, ist damit unwider-
bringlich vorüber. 1847 sind die Vereinigten Staaten nach Kalifornien, 1857
Nußland an den Amur und Ussuri vorgerückt, Japan hat sich in aller Stille zu
einer pazifischen Seemacht entwickelt. Sogar Frankreich und Deutschland sind im
Stillen Ozean erschienen. Es handelt sich nun für England vor allem darum,
seinen Weg zu diesem Meere der Zukunft frei zu haben und die Maschen seines
Netzes zu vervollständigen. Von welcher Lebensbedeutung gerade dieser für
das Weltreich ist, haben wir in dem zweiten dieser Aufsätze (Heft 5) nach¬
gewiesen. Kanadas Wert als atlantisch-pazifische Schwelle steigt aber besonders
für England mit jedem Jahre, das uns der Verwirklichung eines interozeanischen
Kanals unter der längst unvermeidlich gewordnen Aufsicht der Vereinigten
Staaten näherführt.


Zur Kenntnis der englischen Weltpolitik

herabsteigend, Deutschland als von dieser Seite her völlig unbedroht darstellen.
Vielleicht ist es sogar nicht allzuschwer, bei einsichtigen Deutschen die Über¬
zeugung zu erwecken, daß die Dominion von Kanada für sie mindestens ebenso
wichtig sei oder werden könne wie Mexiko oder Argentinien, mit denen mau
sich viel eingehender befaßt.

Für die englische Weltpolitik ist Kanada in erster Linie das Verbindungs¬
glied zwischen dem Atlantischen und dem Stillen Ozean. Der darin liegende
Wert ist unschätzbar, wenn auch noch lange nicht ganz entfaltet. In Eng¬
land und Kanada hat man ihn erkannt. Die Erbauung der russisch-sibi¬
rischen Pazisikbahn öffnet den Stillen Ozean von Westen, die des Nikaragua¬
kanals von Osten her, aber das eine Thor wird ebenso gewiß unter russischer
wie das andre unter nordamerikanischer Kolltrolle stehen. Die kanadische
Pazifikbahn bildet einen besondern, ganz in englischen Händen und auf eng¬
lischem Boden liegenden Weg nach demselben größten Ozean, von dem ein
amerikanischer Staatsmann einst sagte, er werde sich als das Mittelmeer der
Zukunft erweisen, d. h. als das Meer, auf dessen Gestaden und Inseln eine
spätere, größere Weltgeschichte ihren Schauplatz finden werde. Solange
Kanada englisch ist, hat England von den vorzüglichen Häfen Britisch-Kolumbias
und der Vankouverinsel seinen Weg offen zum nördlichen Stillen Ozean, wäh¬
rend es im südlichen Alleinherrscherin durch den Besitz Australiens, Neuseelands
und der besten Archipele der großen pazifischen „Jnselwolke" ist. Mit sechs bis
sieben Tagen Schiffahrt schafft es Soldaten und Kriegsmaterial nach Halifax
und Quebek, über die kanadische Pazisikbahn bringt sie sie in weitern sieben Tagen
an das Ufer des Stillen Ozeans, wo eine wachsende Flotte großer, subventio-
nirte Handelsdampfer, zur Armirung eingerichtet, bereit ist, die drei pazifischen
Geschwader, das westamerikanische, das chinesische und das australische, zu ver¬
stärken. So begreift man den Wert, den England auf Kanada legt. Die
pazifische Episode der Weltgeschichte bereitet sich deutlich vor. Die Allein¬
herrschaft, die England im Stillen Ozean fast unangefochten in dem ganzen
Jahrhundert seit Cooks großen Entdeckungen ausgeübt hat, ist damit unwider-
bringlich vorüber. 1847 sind die Vereinigten Staaten nach Kalifornien, 1857
Nußland an den Amur und Ussuri vorgerückt, Japan hat sich in aller Stille zu
einer pazifischen Seemacht entwickelt. Sogar Frankreich und Deutschland sind im
Stillen Ozean erschienen. Es handelt sich nun für England vor allem darum,
seinen Weg zu diesem Meere der Zukunft frei zu haben und die Maschen seines
Netzes zu vervollständigen. Von welcher Lebensbedeutung gerade dieser für
das Weltreich ist, haben wir in dem zweiten dieser Aufsätze (Heft 5) nach¬
gewiesen. Kanadas Wert als atlantisch-pazifische Schwelle steigt aber besonders
für England mit jedem Jahre, das uns der Verwirklichung eines interozeanischen
Kanals unter der längst unvermeidlich gewordnen Aufsicht der Vereinigten
Staaten näherführt.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/74>, abgerufen am 26.08.2024.