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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Zur Kenntnis der englischen lveltpolitik

Geschichte der kanadisch-englischen Beziehungen seit dem Jahrhundert, das seit
der Selbständigmachung der Vereinigten Staaten verflossen ist, voll ist von
Beweisen, welch hohen Wert das Mutterland gerade auf diese Kolonie legt.
Die Opfer Englands gehen in die Hunderte von Millionen. Und da stellt
man nun die Beziehungen in sentimentaler Weise als die Liebe der Mutter zu
ihrem übrig gebliebner Kinde und als die Dankbarkeit dieses bevorzugten dar!
Das ist lächerlich. Wir werden gleich sehen, daß beide durch massivere
Klammern verbunden werden.

Zuerst noch ein Wort über unser Verhältnis zu Kanada. Die Dominion
von Kanada, die das britische Nordamerika ohne Neufundland und Labrador
umfaßt, ein Land annähernd so groß wie Europa, aber einstweilen nur von
etwas über fünf Millionen Menschen bewohnt, wird in Deutschland noch wenig
beachtet. Die Einwanderung von Deutschen ist nicht ganz klein, geschieht aber
zum Teil aus dem Umwege über die Vereinigten Staaten; die Zühlung von
1891 wies 27000 in Deutschland Geborne nach. Der Verkehr mit Deutsch¬
land ist stark im Wachsen, hatte aber 1892/93 erst vier Prozent des englischen
erreicht, obwohl beiden dieselben Zollschranken gesetzt sind: ein Beweis, wie
wenig diese den Gewohnheiten und Neigungen der englischen Kolonialbevöl¬
kerungen anhaben konnten. Deutsche Geldleute, darunter auch Glieder der
hohen Aristokratie, haben nach dem Beispiel der Engländer große Landstrecken
im Westen der Dominion gekauft. Erst seit einigen Jahren begegnet man
in unsern Zeitungen häufiger Aufsätzen, die sich mit dem großen Lande ein¬
gehender beschäftigen. Wie es scheint, haben dazu besonders einige Handels¬
berichte und die Studien deutscher Volkswirtschafter über die Landwirt¬
schaft Nordamerikas beigetragen. In sehr eingehender und gründlicher Weise
hat sich Mnx Sering mit den Weizenlündern des Westens der Dominion
beschäftigt. Auch die Aussichten der kanadischen Pazifikbahn sind bei uns er¬
örtert worden. Endlich wollen wir nicht vergessen, daß Bädeker kürzlich ein
(englisches) Reisehandbuch für Kanada herausgegeben hat, das die beste kurz¬
gefaßte, mit deu neuesten Angaben und Zahlen ausgestattete Beschreibung des
Landes enthält. Im ganzen ist aber unser Wissen und Interesse klein. Kanada
erscheint uns ganz fern, wie im Nebel. Der "Kanadier" Seumes ist den
Deutschen noch heute bekannter als alle andern Kanadier. Man wird sagen, wenn
in England und Kanada viele Leute das weite Land für so unbedeutend
halten, daß sie es loswerden wollen, was soll sich dann Deutschland damit
abgeben? Vielleicht gelingt es, nachzuweisen, daß jene Politiker sehr kurzsichtig
sind und in Deutschland nur darum mit Vorliebe zitirt werden -- ich denke
besonders an Goldwin Smiths seichte Artikel und Schriften über die nur
in seiner Einbildung vorhcmdne kanadische "Frage" --, weil entsprechend kurz¬
sichtige Zeitungsschreiber dem deutschen Publikum angenehm zu sein glauben,
wenn sie ihm das englische Weltreich im Zerfall, England von seiner ^,öde


Grenzboten II 1895 9
Zur Kenntnis der englischen lveltpolitik

Geschichte der kanadisch-englischen Beziehungen seit dem Jahrhundert, das seit
der Selbständigmachung der Vereinigten Staaten verflossen ist, voll ist von
Beweisen, welch hohen Wert das Mutterland gerade auf diese Kolonie legt.
Die Opfer Englands gehen in die Hunderte von Millionen. Und da stellt
man nun die Beziehungen in sentimentaler Weise als die Liebe der Mutter zu
ihrem übrig gebliebner Kinde und als die Dankbarkeit dieses bevorzugten dar!
Das ist lächerlich. Wir werden gleich sehen, daß beide durch massivere
Klammern verbunden werden.

Zuerst noch ein Wort über unser Verhältnis zu Kanada. Die Dominion
von Kanada, die das britische Nordamerika ohne Neufundland und Labrador
umfaßt, ein Land annähernd so groß wie Europa, aber einstweilen nur von
etwas über fünf Millionen Menschen bewohnt, wird in Deutschland noch wenig
beachtet. Die Einwanderung von Deutschen ist nicht ganz klein, geschieht aber
zum Teil aus dem Umwege über die Vereinigten Staaten; die Zühlung von
1891 wies 27000 in Deutschland Geborne nach. Der Verkehr mit Deutsch¬
land ist stark im Wachsen, hatte aber 1892/93 erst vier Prozent des englischen
erreicht, obwohl beiden dieselben Zollschranken gesetzt sind: ein Beweis, wie
wenig diese den Gewohnheiten und Neigungen der englischen Kolonialbevöl¬
kerungen anhaben konnten. Deutsche Geldleute, darunter auch Glieder der
hohen Aristokratie, haben nach dem Beispiel der Engländer große Landstrecken
im Westen der Dominion gekauft. Erst seit einigen Jahren begegnet man
in unsern Zeitungen häufiger Aufsätzen, die sich mit dem großen Lande ein¬
gehender beschäftigen. Wie es scheint, haben dazu besonders einige Handels¬
berichte und die Studien deutscher Volkswirtschafter über die Landwirt¬
schaft Nordamerikas beigetragen. In sehr eingehender und gründlicher Weise
hat sich Mnx Sering mit den Weizenlündern des Westens der Dominion
beschäftigt. Auch die Aussichten der kanadischen Pazifikbahn sind bei uns er¬
örtert worden. Endlich wollen wir nicht vergessen, daß Bädeker kürzlich ein
(englisches) Reisehandbuch für Kanada herausgegeben hat, das die beste kurz¬
gefaßte, mit deu neuesten Angaben und Zahlen ausgestattete Beschreibung des
Landes enthält. Im ganzen ist aber unser Wissen und Interesse klein. Kanada
erscheint uns ganz fern, wie im Nebel. Der „Kanadier" Seumes ist den
Deutschen noch heute bekannter als alle andern Kanadier. Man wird sagen, wenn
in England und Kanada viele Leute das weite Land für so unbedeutend
halten, daß sie es loswerden wollen, was soll sich dann Deutschland damit
abgeben? Vielleicht gelingt es, nachzuweisen, daß jene Politiker sehr kurzsichtig
sind und in Deutschland nur darum mit Vorliebe zitirt werden — ich denke
besonders an Goldwin Smiths seichte Artikel und Schriften über die nur
in seiner Einbildung vorhcmdne kanadische „Frage" —, weil entsprechend kurz¬
sichtige Zeitungsschreiber dem deutschen Publikum angenehm zu sein glauben,
wenn sie ihm das englische Weltreich im Zerfall, England von seiner ^,öde


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/73>, abgerufen am 26.08.2024.