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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Zur Kenntnis der englischen Meltpolitik

Die Stellung Kanadas zu den Vereinigten Staaten ist der zweite Punkt,
der uns fesselt. Die beiden Länder Halbiren Nordamerika, und sie grenzen in
der kontinentalen Ausdehnung von 5610 Kilometern an einander. Von allen
nähern und fernern Nachbarn ist den Vereinigten Staaten keiner so ucihegerückt,
mit keinem beschäftigen sie sich soviel. Schon die wirtschaftlichen Beziehungen
fordern dazu ans. Nur Westindien und Brasilien haben unter den ameri¬
kanischen Ländern einen größer" Handelsumsatz mit den Vereinigten Staaten,
an Tonnengehalt der in ihren Häfen verkehrenden Schiffe steht Vritisch-Nord-
amerika selbst England voran. Seit 1821 sind über 1200000 Kanadier nach
den Vereinigten Staaten eingewandert. Das große Verkehrsgebiet der Seen
und des Se. Lorenzstroms, von dem Kanada der weniger günstige kleinere und
nördlichere Teil zugefallen ist, verbindet beide. Dazu kommt die Ähnlichkeit
der Natur und der Abstammung der Mehrheit der Bevölkerung diesseits und
jenseits der Grenze, die man als die Ursache vieler Gemeinsamkeiten erst recht
begreift, wenn man sie in Gegensatz stellt zu der natürlichen und geschichtlichen
Kluft zwischen Nordamerika und Mexiko. Endlich kommen die latenten un-
nnsgeglichnen Streitfragen über die Neufnndlandfischcrei, den Robbenschlag
im Veringsmcer und eine ganze Anzahl brenzlicher Grenzpunkte hinzu. Das
alles hat England in der Hand und übt damit deu einzigen starken Einfluß
aus, den es neben dem der Vereinigten Staaten in Nordamerika giebt -- Ru߬
land ist ja schon 1867 sür ein Lumpeugeld, 7,2 Millionen Dollars, hinaus¬
gekauft worden --, ja den einzigen europäischen in Amerika, den man noch
als nennenswert ansehen kann- Darin liegt viel mehr, als sich die Kramladen-
Politiker, die die Abtretung Kanadas als etwas ganz einfaches, notwendiges
behandelten, träumen ließen.

So begreift mau denn anch. daß die Haltung der Vereinigten Staaten
gegenüber Kanada von dem Gedanken erfüllt ist, es sei für die Dominion Zeit,
ein amerikanisches Land auch im politischen Sinne, statt Anhängsel einer euro¬
päischen Macht zu sein; die Bande, die sie noch an das Mutterland knüpfen,
seien die des Gefühls und der finanziellen Abhängigkeit des Schuldners außer
denen des bestehenden politischen Zusammenhangs, sie könnten nicht hindern,
daß das amerikanische Land zu andern Ländern des Erdteils die durch die
Lage gebotene engere Verbindung eingehe; Texas sei eine vorübergehende Form
amerikanischer Einwanderung, Kolonisation und Organisation gewesen, so könne
Kanada in dem Rahmen einer größern Dauer und als Erzeugnis selbständigerer
Entwicklung aufgefaßt werdeu. Aber dieser Vergleich hinkt. Es ist weniger
Gewicht darauf zu legen, daß die südöstlichen Grenzgebiete Kanadas teilweise
schon seit Jahren rascher fortgeschritten sind als die angrenzenden Neuengland-
staateu. Wichtiger ist, daß die kanadische Entwicklung überhaupt etwas für
sich ist und so verstanden werden will. Kanada ist ein Ast am angelsächsischen,
weht am amerikanischen Stamme und hat ganz besondre WachstnmSbedin-


Zur Kenntnis der englischen Meltpolitik

Die Stellung Kanadas zu den Vereinigten Staaten ist der zweite Punkt,
der uns fesselt. Die beiden Länder Halbiren Nordamerika, und sie grenzen in
der kontinentalen Ausdehnung von 5610 Kilometern an einander. Von allen
nähern und fernern Nachbarn ist den Vereinigten Staaten keiner so ucihegerückt,
mit keinem beschäftigen sie sich soviel. Schon die wirtschaftlichen Beziehungen
fordern dazu ans. Nur Westindien und Brasilien haben unter den ameri¬
kanischen Ländern einen größer» Handelsumsatz mit den Vereinigten Staaten,
an Tonnengehalt der in ihren Häfen verkehrenden Schiffe steht Vritisch-Nord-
amerika selbst England voran. Seit 1821 sind über 1200000 Kanadier nach
den Vereinigten Staaten eingewandert. Das große Verkehrsgebiet der Seen
und des Se. Lorenzstroms, von dem Kanada der weniger günstige kleinere und
nördlichere Teil zugefallen ist, verbindet beide. Dazu kommt die Ähnlichkeit
der Natur und der Abstammung der Mehrheit der Bevölkerung diesseits und
jenseits der Grenze, die man als die Ursache vieler Gemeinsamkeiten erst recht
begreift, wenn man sie in Gegensatz stellt zu der natürlichen und geschichtlichen
Kluft zwischen Nordamerika und Mexiko. Endlich kommen die latenten un-
nnsgeglichnen Streitfragen über die Neufnndlandfischcrei, den Robbenschlag
im Veringsmcer und eine ganze Anzahl brenzlicher Grenzpunkte hinzu. Das
alles hat England in der Hand und übt damit deu einzigen starken Einfluß
aus, den es neben dem der Vereinigten Staaten in Nordamerika giebt — Ru߬
land ist ja schon 1867 sür ein Lumpeugeld, 7,2 Millionen Dollars, hinaus¬
gekauft worden —, ja den einzigen europäischen in Amerika, den man noch
als nennenswert ansehen kann- Darin liegt viel mehr, als sich die Kramladen-
Politiker, die die Abtretung Kanadas als etwas ganz einfaches, notwendiges
behandelten, träumen ließen.

So begreift mau denn anch. daß die Haltung der Vereinigten Staaten
gegenüber Kanada von dem Gedanken erfüllt ist, es sei für die Dominion Zeit,
ein amerikanisches Land auch im politischen Sinne, statt Anhängsel einer euro¬
päischen Macht zu sein; die Bande, die sie noch an das Mutterland knüpfen,
seien die des Gefühls und der finanziellen Abhängigkeit des Schuldners außer
denen des bestehenden politischen Zusammenhangs, sie könnten nicht hindern,
daß das amerikanische Land zu andern Ländern des Erdteils die durch die
Lage gebotene engere Verbindung eingehe; Texas sei eine vorübergehende Form
amerikanischer Einwanderung, Kolonisation und Organisation gewesen, so könne
Kanada in dem Rahmen einer größern Dauer und als Erzeugnis selbständigerer
Entwicklung aufgefaßt werdeu. Aber dieser Vergleich hinkt. Es ist weniger
Gewicht darauf zu legen, daß die südöstlichen Grenzgebiete Kanadas teilweise
schon seit Jahren rascher fortgeschritten sind als die angrenzenden Neuengland-
staateu. Wichtiger ist, daß die kanadische Entwicklung überhaupt etwas für
sich ist und so verstanden werden will. Kanada ist ein Ast am angelsächsischen,
weht am amerikanischen Stamme und hat ganz besondre WachstnmSbedin-


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[0075] Zur Kenntnis der englischen Meltpolitik Die Stellung Kanadas zu den Vereinigten Staaten ist der zweite Punkt, der uns fesselt. Die beiden Länder Halbiren Nordamerika, und sie grenzen in der kontinentalen Ausdehnung von 5610 Kilometern an einander. Von allen nähern und fernern Nachbarn ist den Vereinigten Staaten keiner so ucihegerückt, mit keinem beschäftigen sie sich soviel. Schon die wirtschaftlichen Beziehungen fordern dazu ans. Nur Westindien und Brasilien haben unter den ameri¬ kanischen Ländern einen größer» Handelsumsatz mit den Vereinigten Staaten, an Tonnengehalt der in ihren Häfen verkehrenden Schiffe steht Vritisch-Nord- amerika selbst England voran. Seit 1821 sind über 1200000 Kanadier nach den Vereinigten Staaten eingewandert. Das große Verkehrsgebiet der Seen und des Se. Lorenzstroms, von dem Kanada der weniger günstige kleinere und nördlichere Teil zugefallen ist, verbindet beide. Dazu kommt die Ähnlichkeit der Natur und der Abstammung der Mehrheit der Bevölkerung diesseits und jenseits der Grenze, die man als die Ursache vieler Gemeinsamkeiten erst recht begreift, wenn man sie in Gegensatz stellt zu der natürlichen und geschichtlichen Kluft zwischen Nordamerika und Mexiko. Endlich kommen die latenten un- nnsgeglichnen Streitfragen über die Neufnndlandfischcrei, den Robbenschlag im Veringsmcer und eine ganze Anzahl brenzlicher Grenzpunkte hinzu. Das alles hat England in der Hand und übt damit deu einzigen starken Einfluß aus, den es neben dem der Vereinigten Staaten in Nordamerika giebt — Ru߬ land ist ja schon 1867 sür ein Lumpeugeld, 7,2 Millionen Dollars, hinaus¬ gekauft worden —, ja den einzigen europäischen in Amerika, den man noch als nennenswert ansehen kann- Darin liegt viel mehr, als sich die Kramladen- Politiker, die die Abtretung Kanadas als etwas ganz einfaches, notwendiges behandelten, träumen ließen. So begreift mau denn anch. daß die Haltung der Vereinigten Staaten gegenüber Kanada von dem Gedanken erfüllt ist, es sei für die Dominion Zeit, ein amerikanisches Land auch im politischen Sinne, statt Anhängsel einer euro¬ päischen Macht zu sein; die Bande, die sie noch an das Mutterland knüpfen, seien die des Gefühls und der finanziellen Abhängigkeit des Schuldners außer denen des bestehenden politischen Zusammenhangs, sie könnten nicht hindern, daß das amerikanische Land zu andern Ländern des Erdteils die durch die Lage gebotene engere Verbindung eingehe; Texas sei eine vorübergehende Form amerikanischer Einwanderung, Kolonisation und Organisation gewesen, so könne Kanada in dem Rahmen einer größern Dauer und als Erzeugnis selbständigerer Entwicklung aufgefaßt werdeu. Aber dieser Vergleich hinkt. Es ist weniger Gewicht darauf zu legen, daß die südöstlichen Grenzgebiete Kanadas teilweise schon seit Jahren rascher fortgeschritten sind als die angrenzenden Neuengland- staateu. Wichtiger ist, daß die kanadische Entwicklung überhaupt etwas für sich ist und so verstanden werden will. Kanada ist ein Ast am angelsächsischen, weht am amerikanischen Stamme und hat ganz besondre WachstnmSbedin-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/75>, abgerufen am 22.12.2024.