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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Wandlungen des Ich im Ieitenstrome

er nur noch eine Ruine, aber eine stattliche Ruine: groß und hager, ein weiß
und rotes Gesicht von edelm und großem Schnitt, lange, noch blonde Locken,
große, strahlende blaue Augen; nur der Tropfen, der stets an seiner Nase
hing -- er schnupfte stark --, war weniger schön, und der Bierdunst um ihn
herum; sein gefüllter Humpen stand schon am frühen Morgen vor ihm auf
seinem Schreibtisch am Fenster. Vor und nach der Schule saß er dort, mit
Kirchenrechnungcn oder Büchern beschäftigt -- binnen zwei Jahren las er alle
meine Bücher durch, soweit sie nicht in fremden Sprachen abgefaßt waren --,
ab und zu seine Mahne schüttelnd, einen Schluck oder eine Prise nehmend,
und "stolz und unzufrieden" zum Fenster hinausschauend, von aufwallenden
Grimm erschüttert, so oft er die Schulkinder herumspringen sah. Mit geballter
Faust Pflegte er dann zu murmeln: Könnte ich noch wie sonst, wie wollte ich
euch! Sonst hatte er nämlich den Bakel gar fleißig gehandhabt und jeden
Sonnabend zum Schluß sämtliche Jungen durchgehauen, ohne besondre Ver¬
anlassung. Dabei hatte sich einmal etwas denkwürdiges zugetragen. Eines
Sonnabends war Joseph Sybel nach Hause gekommen und hatte erzählt, nicht
etwa als Scherz, sondern in ernsthafter, trockner Berichterstattung, der Kantor
sei heute über ihn wütend geworden, weil er bei der allgemeinen Abstrafung,
als die Reihe an ihm war, keinen Schmerzenslaut von sich gegeben habe, und
hatte entschuldigend und zur Erklärung hinzugefügt: Ich hierts wull immer
trollen, aber ich wußte ja nee, daß a schun uf meen (meinen) Rücken rim-
drosch. Als Gr. keine Kraft mehr hatte zum Zuhaun, mußte seine Tochter
die Wochenlohnauszahlung vornehmen; mit ihrer Verheiratung ging der schöne
Brauch ein. Sie nahm einen Lehrer, dem ihre Energie auf seiner schlechten
Stelle vielfach zu statten kam. So brachte sie es unter anderm fertig, mit
ihrem Mann allein Messen aufzuführen, die sie besonders für diese spärliche
Besetzung arrangirte. Sie spielte Violine und sang abwechselnd Diskant und
Alt, er übernahm Orgel, Baß und Tenor.

Da Gr. nicht von seiner Stelle wich, auch als sein Unterricht anfing,
ganz ungenügend zu werden, so half sich Menzel in der Weise, daß er die
Schüler in zwei Klassen teilte und die Oberklasse einem Hilfslehrer übergab,
für den das geistliche Amt eine kleine Besoldung bewilligte. Weil diese aber
zum Leben nicht hinreichte, so übertrug ihm Menzel ein wenig Aktenschreiberei
und gewährte ihm zur Entschädigung dafür freie Verpflegung. Die Feuerung
kostete ihn auch nichts, weil er seine Schreibarbeit in der Küchenstube des
Pfarrhauses anfertigte -- der Wirtschafterin Nichte, die sechste Person unsers
Haushalts, war seine Braut -- und seine Mietwohnung fast nur zum Schlafen
benutzte. Mußte so Gr. einen halben Stellvertreter in der Schule neben sich
dulden, so wich er dafür in der Kirche keinen Schritt. Unter Wenzels Vor¬
gänger, der gleichzeitig Regierungsrat war. sich in sah. wenig aufhielt, der
äußersten Linken der rationalistischen Reformpartei angehörte und die Messe


Wandlungen des Ich im Ieitenstrome

er nur noch eine Ruine, aber eine stattliche Ruine: groß und hager, ein weiß
und rotes Gesicht von edelm und großem Schnitt, lange, noch blonde Locken,
große, strahlende blaue Augen; nur der Tropfen, der stets an seiner Nase
hing — er schnupfte stark —, war weniger schön, und der Bierdunst um ihn
herum; sein gefüllter Humpen stand schon am frühen Morgen vor ihm auf
seinem Schreibtisch am Fenster. Vor und nach der Schule saß er dort, mit
Kirchenrechnungcn oder Büchern beschäftigt — binnen zwei Jahren las er alle
meine Bücher durch, soweit sie nicht in fremden Sprachen abgefaßt waren —,
ab und zu seine Mahne schüttelnd, einen Schluck oder eine Prise nehmend,
und „stolz und unzufrieden" zum Fenster hinausschauend, von aufwallenden
Grimm erschüttert, so oft er die Schulkinder herumspringen sah. Mit geballter
Faust Pflegte er dann zu murmeln: Könnte ich noch wie sonst, wie wollte ich
euch! Sonst hatte er nämlich den Bakel gar fleißig gehandhabt und jeden
Sonnabend zum Schluß sämtliche Jungen durchgehauen, ohne besondre Ver¬
anlassung. Dabei hatte sich einmal etwas denkwürdiges zugetragen. Eines
Sonnabends war Joseph Sybel nach Hause gekommen und hatte erzählt, nicht
etwa als Scherz, sondern in ernsthafter, trockner Berichterstattung, der Kantor
sei heute über ihn wütend geworden, weil er bei der allgemeinen Abstrafung,
als die Reihe an ihm war, keinen Schmerzenslaut von sich gegeben habe, und
hatte entschuldigend und zur Erklärung hinzugefügt: Ich hierts wull immer
trollen, aber ich wußte ja nee, daß a schun uf meen (meinen) Rücken rim-
drosch. Als Gr. keine Kraft mehr hatte zum Zuhaun, mußte seine Tochter
die Wochenlohnauszahlung vornehmen; mit ihrer Verheiratung ging der schöne
Brauch ein. Sie nahm einen Lehrer, dem ihre Energie auf seiner schlechten
Stelle vielfach zu statten kam. So brachte sie es unter anderm fertig, mit
ihrem Mann allein Messen aufzuführen, die sie besonders für diese spärliche
Besetzung arrangirte. Sie spielte Violine und sang abwechselnd Diskant und
Alt, er übernahm Orgel, Baß und Tenor.

Da Gr. nicht von seiner Stelle wich, auch als sein Unterricht anfing,
ganz ungenügend zu werden, so half sich Menzel in der Weise, daß er die
Schüler in zwei Klassen teilte und die Oberklasse einem Hilfslehrer übergab,
für den das geistliche Amt eine kleine Besoldung bewilligte. Weil diese aber
zum Leben nicht hinreichte, so übertrug ihm Menzel ein wenig Aktenschreiberei
und gewährte ihm zur Entschädigung dafür freie Verpflegung. Die Feuerung
kostete ihn auch nichts, weil er seine Schreibarbeit in der Küchenstube des
Pfarrhauses anfertigte — der Wirtschafterin Nichte, die sechste Person unsers
Haushalts, war seine Braut — und seine Mietwohnung fast nur zum Schlafen
benutzte. Mußte so Gr. einen halben Stellvertreter in der Schule neben sich
dulden, so wich er dafür in der Kirche keinen Schritt. Unter Wenzels Vor¬
gänger, der gleichzeitig Regierungsrat war. sich in sah. wenig aufhielt, der
äußersten Linken der rationalistischen Reformpartei angehörte und die Messe


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[0622] Wandlungen des Ich im Ieitenstrome er nur noch eine Ruine, aber eine stattliche Ruine: groß und hager, ein weiß und rotes Gesicht von edelm und großem Schnitt, lange, noch blonde Locken, große, strahlende blaue Augen; nur der Tropfen, der stets an seiner Nase hing — er schnupfte stark —, war weniger schön, und der Bierdunst um ihn herum; sein gefüllter Humpen stand schon am frühen Morgen vor ihm auf seinem Schreibtisch am Fenster. Vor und nach der Schule saß er dort, mit Kirchenrechnungcn oder Büchern beschäftigt — binnen zwei Jahren las er alle meine Bücher durch, soweit sie nicht in fremden Sprachen abgefaßt waren —, ab und zu seine Mahne schüttelnd, einen Schluck oder eine Prise nehmend, und „stolz und unzufrieden" zum Fenster hinausschauend, von aufwallenden Grimm erschüttert, so oft er die Schulkinder herumspringen sah. Mit geballter Faust Pflegte er dann zu murmeln: Könnte ich noch wie sonst, wie wollte ich euch! Sonst hatte er nämlich den Bakel gar fleißig gehandhabt und jeden Sonnabend zum Schluß sämtliche Jungen durchgehauen, ohne besondre Ver¬ anlassung. Dabei hatte sich einmal etwas denkwürdiges zugetragen. Eines Sonnabends war Joseph Sybel nach Hause gekommen und hatte erzählt, nicht etwa als Scherz, sondern in ernsthafter, trockner Berichterstattung, der Kantor sei heute über ihn wütend geworden, weil er bei der allgemeinen Abstrafung, als die Reihe an ihm war, keinen Schmerzenslaut von sich gegeben habe, und hatte entschuldigend und zur Erklärung hinzugefügt: Ich hierts wull immer trollen, aber ich wußte ja nee, daß a schun uf meen (meinen) Rücken rim- drosch. Als Gr. keine Kraft mehr hatte zum Zuhaun, mußte seine Tochter die Wochenlohnauszahlung vornehmen; mit ihrer Verheiratung ging der schöne Brauch ein. Sie nahm einen Lehrer, dem ihre Energie auf seiner schlechten Stelle vielfach zu statten kam. So brachte sie es unter anderm fertig, mit ihrem Mann allein Messen aufzuführen, die sie besonders für diese spärliche Besetzung arrangirte. Sie spielte Violine und sang abwechselnd Diskant und Alt, er übernahm Orgel, Baß und Tenor. Da Gr. nicht von seiner Stelle wich, auch als sein Unterricht anfing, ganz ungenügend zu werden, so half sich Menzel in der Weise, daß er die Schüler in zwei Klassen teilte und die Oberklasse einem Hilfslehrer übergab, für den das geistliche Amt eine kleine Besoldung bewilligte. Weil diese aber zum Leben nicht hinreichte, so übertrug ihm Menzel ein wenig Aktenschreiberei und gewährte ihm zur Entschädigung dafür freie Verpflegung. Die Feuerung kostete ihn auch nichts, weil er seine Schreibarbeit in der Küchenstube des Pfarrhauses anfertigte — der Wirtschafterin Nichte, die sechste Person unsers Haushalts, war seine Braut — und seine Mietwohnung fast nur zum Schlafen benutzte. Mußte so Gr. einen halben Stellvertreter in der Schule neben sich dulden, so wich er dafür in der Kirche keinen Schritt. Unter Wenzels Vor¬ gänger, der gleichzeitig Regierungsrat war. sich in sah. wenig aufhielt, der äußersten Linken der rationalistischen Reformpartei angehörte und die Messe

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/622>, abgerufen am 25.08.2024.